Читать книгу Der letzte Tag im Januar - Greer Decker - Страница 9

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Als ich am Freitag nach Hause kam, fühlte sich meine Mutter nicht wohl. Sie ging früh ins Bett und wachte am Samstag mit einer Erkältung auf. Bettruhe war angesagt.

Nach dem Einkaufen saß ich den ganzen Nachmittag in meinem Zimmer nebenan und arbeitete. Ich brachte ihr Tee und Wasser, und sie fühlte sich wohl sogar zu schwach zu protestieren, als ich darauf bestand, dass sie etwas trank. Der Tagesablauf am Sonntag war ähnlich, nur dass es den ganzen Tag regnete.

Am Sonntagabend rief Rachel an.

»Hi Sarah. Wie läuft’s?«

»Ganz okay. Mum hat eine schlimme Erkältung. Sie war das ganze Wochenende im Bett.«

»Oh je. Meinst du, sie soll zum Arzt?«

»Ich werde sehen, wie es ihr morgen geht. Wir haben einen Arzttermin am Mittwoch. Ich mag sie in ihrem Zustand aber gar nicht mehr allein lassen.«

»Wirklich? Ist es so schlimm?«

»Ja. Sie ist sehr schwach, und sie kann auch sonst kaum auf sich aufpassen.«

Rachel schien mir die Situation herunterzuspielen.

»Wir sind gerade von Rügen zurück. Wir sind mit Anton und Nele gefahren und hatten eine tolle Zeit. Es war kalt, aber sonnig, und die Küste dort ist traumhaft! Es erinnerte mich an Southwold, aber mit Strandkörben statt mit bunten Strandhütten.«

»Schön.«

Ich war etwas nervös, Rachel von dem Pflegeheim zu erzählen, aber ich wollte es auch nicht länger aufschieben.

»Ich habe über das Pflegeheim nachgedacht, das ich vor zwei Wochen angesehen habe. Ich denke, es könnte eine Option für Mum sein. Wir sollten sie vielleicht auf die Warteliste setzen lassen. Es könnte ohnehin Monate dauern, bis es dort einen freien Platz gibt. James meint, es sei das beste Heim hier in der Gegend.«

»Wer ist James?«

»Der Lehrer, der mich kürzlich dorthin zu einem Besuch bei seinem Vater mitgenommen hat. Stanley. Er ist neunzig!«

»Das Heim klingt gut. Wo ist es denn? Ich würde es mir im Internet anschauen. Ich wünschte, ich könnte kommen und es mit dir ansehen, aber im Moment geht das einfach nicht.«

Rachel klang frustriert. Ich wusste nicht, ob es an mir lag oder an der Tatsache, dass sie so weit weg war.

»Das ist eine weitreichende Entscheidung, weißt du. Wir müssen uns auch die Finanzierung ansehen«, sagte sie.

»Ja, weiß ich.«

»Wir müssen uns zusammensetzen und es im Detail besprechen. Und auch überlegen, was es vielleicht noch für andere Optionen gibt.«

»Auf jeden Fall.«

»Glaubst du wirklich, dass sie eine Vollzeitpflege braucht?«

»Definitiv. Du kannst es dir nicht vorstellen. Sie weiß nicht einmal mehr, welche Jahreszeit gerade ist und sie verliert immer häufiger den Überblick.«

Das war übertrieben, aber ich fühlte mich frustriert und allein.

»Apropos Weihnachten. Es tut mir leid, aber wir können jetzt doch nicht kommen, da Peter dieses Jahr die meiste Zeit über Weihnachten arbeiten muss, und Peters Eltern sagten, sie würden gerne Heiligen Abend mit uns verbringen.«

»Okay.«

»Wir kommen natürlich zu Mums Geburtstag.«

»Das wäre schön. Ich hoffe, dass ich bis dahin durchhalten kann.«

Rachel erkannte langsam meine Verzweiflung.

»Du hast Recht. Wir müssen über ein Heim nachdenken. Ich rufe dich unter der Woche an. Meinst du, Mum will mit mir reden?«

»Sie hat eben noch geschlafen. Soll ich nachsehen, ob sie wach ist?«

»Nein, lass sie. Ich spreche mit ihr, wenn ich dich unter der Woche anrufe. Wir haben morgen Abend ein Konzert und am Dienstag kommt Friedrich vorbei. Ich werde versuchen, dich am Mittwoch anzurufen.«

Als ich den Hörer auflegte hatte, rief mich Mutter.

»Ja?« Meine Stimme klang irritiert. Ich fühlte mich völlig erschöpft. Das Gespräch mit Rachel hatte mich deprimiert.

Ich wünschte, nicht Rachel, sondern ich würde morgen in ein Konzert gehen. Und dass sie ausgerechnet Friedrich erwähnt hatte. Offensichtlich gibt es ihn noch. Er war mir schon eine Weile nicht mehr in den Sinn gekommen. Friedrich war ein begnadeter Musiker und Mitglied des Orchesters der Berliner Staatsoper. Ich hatte ihn im Sommer vor zwei Jahren in Berlin kennengelernt, als er ein paar Mal zum Essen zu Rachel und Peter gekommen war und uns zu einem Ausflug in die Uckermark begleitet hatte. Wir hatten uns über den Brexit unterhalten und uns richtig gut verstanden. Wir tauschten danach noch einige E-Mails aus, aber irgendwann hörten sie auf. Einige Monate später erzählte mir Rachel, dass er plötzlich geheiratet hatte und nach Hamburg gezogen war. Und das war das Ende von Friedrich, zumindest für mich.

Im Bett las ich einen Artikel über Hyperempathie und wie wichtig es für Betroffene war, Dinge zu filtern, genau wie James gesagt hatte. Andernfalls riskierte man, eine Störung zu entwickeln. In dem Artikel wurde den Unterschied zwischen Empathie und Mitgefühl diskutiert und aufgezeigt, dass zu viel Empathie durchaus negativ für einen selbst sein kann. Ich versuchte, an nichts zu denken.

Am nächsten Tag ging es meiner Mutter etwas besser. Ich stellte einen Teller mit Sandwiches und ein Glas Wasser auf den Nachttisch. In der Mittagspause rief ich von der Schule aus an. Zu meiner Überraschung nahm sie das Telefon ab.

»Hi Mum. Ich wollte nur sehen, ob alles bei dir in Ordnung ist. Wie fühlst du dich?«

»Mir geht’s gut. Was ist mit dir? Wo bist du?«

»Hast du dein Sandwich gegessen?«

»Noch nicht, aber das mache ich gleich. Ich wollte mich gerade ausruhen. Wo bist du?«

»In der Schule. Ich bin gegen vier zu Hause. Trink bitte. Das ist wichtig.«

»Mach dir keine Sorgen um mich. Mir geht es gut. Ich muss eingeschlafen sein, aber ich stehe gleich auf. Wann kommst du nach Hause?«

»Um vier bin ich wieder da.«

Der Mittwochmorgen war ein Alptraum, denn ich musste meine Mutter früh wecken und ihr sagen, dass wir einen Arzttermin hätten. Morgens brauchte sie immer eine Weile, um richtig wach zu werden und wirkte dann immer am verwirrtesten. Wenn es zu Spannungen zwischen uns kam, dann meistens zu dieser Zeit. Sie sagte, sie fühlte sich unwohl und hätte außerdem nichts Passendes anzuziehen. An diesem Punkt entschied ich, dass sie durchaus in der Lage sei, hinzugehen. Sie blieb anhaltend schlecht gelaunt, als ich ihr beim Anziehen half, aber ich ignorierte das einfach.

Diesmal schaffte ich es, mit ihr ins Sprechzimmer zu gelangen. Wie von mir erwartet, verschrieb der Arzt Antibiotika. Er schien aufgrund des vollen Wartezimmers besonders kurz angebunden zu sein, und ich hatte es eilig, in die Schule zu kommen. Als wir die Praxis verließen, dachte ich, Mist, schon wieder eine Chance verpasst, mit dem Arzt über ihren Gedächtnisverlust zu sprechen. Ich parkte direkt vor der Apotheke und wir holten schnell die Antibiotika. Ich brachte meine Mutter wieder nach Hause ins Bett, machte ihr noch schnell einen Toast und zwang sie als letztes ihre Antibiotika einzunehmen.

Am nächsten Morgen ging es meiner Mutter schon viel besser, während ich mich irgendwie krank fühlte. Ich zwang mich dennoch, in die Schule zu gehen.

»Mum, ich ruf mittags kurz durch, okay?«

Wenn ich tagsüber in der Schule war, dachte meine Mutter vermutlich häufig, ich wäre wieder zurück nach London gegangen. Immer wenn ich mich in den vergangenen Jahren nach einem Besuch am Wochenende verabschiedet hatte, stand sie an der Tür, winkte, und wirkte nahezu erleichtert, mich gehen zu sehen. Sie hatte sich nie beschwert. Ich hätte öfter kommen sollen, das weiß ich jetzt, aber sie vermittelte mir häufig den Eindruck, dass ihr meine Besuche nicht so wirklich wichtig waren. Jetzt wusste ich, dass ich die Situation nicht richtig eingeschätzt hatte, ihre scheinbare Gleichgültigkeit war ein Symptom ihrer Krankheit.

Auf dem Heimweg am Freitag fiel es mir ein, dass Rachel nicht angerufen hatte. Das ärgerte mich. Es war nicht einfach hier, und sie wusste, wie krank Mum war. Als ich zu Hause ankam, ging ich nach oben, um mich umzuziehen. Ein Blick in den Spiegel zeigte mir, wie müde und verbittert ich aussah. Meine Mutter war in der Küche und hatte schlechte Laune.

»Hast du meine Handtasche?«

»Sie ist hier. Auf dem Stuhl.«

»Oh ja. Ich bin völlig erschöpft. Es war hektisch heute.«

»Wieso?«

»Ich weiß es nicht. Dauernd riefen irgendwelche Leute an. Und dann kam die Friseurin.«

»Dein Haar sieht schön aus.«

»Ich finde, diesmal hat sie es zu kurz geschnitten.«

»Wie geht es Alison?«

»Gut. Ich glaube, sie fährt bald in den Urlaub, also hat sie mir gleich die Haare zu kurz geschnitten. Du solltest deine Haare auch endlich mal wieder schneiden lassen.«

Ich bemerkte eine Broschüre über Wintergärten und Kunststofffenster auf dem Tisch. Wahrscheinlich hatte auch einer dieser aufdringlichen Vertriebsmitarbeiter an ihrer Tür geklingelt.

Rachel rief am Abend an.

»Es tut mir leid, dass ich nicht früher angerufen habe. Es war der Wahnsinn hier. Wie geht’s Mum?«

»Viel besser, zum Glück. Sie ist wieder in Form. Eigentlich war es einfacher, als sie den ganzen Tag schlief.«

Rachel lachte. »Du Arme. Das muss echt anstrengend sein. Peter und ich haben uns gestern Abend die Website von dem Heim angesehen. Wir glauben, du solltest Mum auf die Warteliste setzen lassen. Wie du sagst, könnte es lange dauern, bis sie einen Platz bekommt.«

»Okay. Das denke ich auch. Ich glaube, es würde mir helfen, wenn ich wüsste, dass sich diese Option irgendwann in der Zukunft eröffnet.«

»Wir sollten öfter telefonieren, damit wir beide auf dem Laufenden bleiben. Weißt du denn, ob sie ausreichend trinkt?«

»Definitiv nicht. Sie weigert sich, Wasser zu trinken und lässt immer mindestens die Hälfte ihres Tees oder Kaffees stehen. Sie hat wahrscheinlich Angst, dass sie dadurch noch öfter auf die Toilette muss. Ich sage ihr immer wieder, wie wichtig das Trinken ist, aber das bringt nichts.«

»Oh je. Echt schwierig. Aber versuche, dranzubleiben! Du weißt, du kannst mich jederzeit anrufen oder eine Whatsapp schicken, dann melde ich mich sofort.«

Nachdem ich aufgelegt hatte, ärgerte ich mich erstmal. Rachel hatte nie Zeit und sie war auch nicht die Schnellste beim Zurückrufen. Diesmal hatte sie nicht einmal darum gebeten, mit Mum zu sprechen.

»Das war Rachel, Mum.«

»Wie geht es ihr?«

»Gut. Sehr beschäftigt wie immer.«

»Sie ist immer sehr beschäftigt. Ich weiß nicht, wie sie das alles so toll schafft.«

Das nervte mich auch. War sie viel beschäftigter als ich? Ich – als Lehrerin und Altenpflegerin gleichzeitig?

Ich ging ins Bett. Immerhin hatte Rachel zugestimmt, Mum auf die Warteliste setzen zu lassen. Ich hatte Mutter heute Abend ein paar Mal etwas angeschnauzt, wobei ich wusste, dass das mehr mit meiner Verzweiflung zu tun hatte als mit dem, was sie tatsächlich gesagt hatte. Ich nahm mir vor, morgen geduldiger mit ihr zu sein. Es war die toxische Kombination verschiedenster Dinge: Mutters Zustand, meine gefühlte Langeweile, Rachels geringe Involvierung, die Aussicht auf ein weiteres eintöniges Wochenende mit Mutter. Ich war mit allem unzufrieden, vor allem mit mir selbst.

Ich schlief lange. Mutter war zur Abwechslung munter, als ich aufstand. Sie konnte nicht schlafen, sagte sie, nach all den Tagen im Bett. Die Idee, mit in den Supermarkt zu kommen, lehnte sie zunächst ab und meinte, sie wolle nicht dorthin zurückkehren, wo sie vor kurzem so schwer gestürzt sei, weil sie den Einkauf ganz allein tragen musste. Dieses Ereignis lag bereits vier Jahre zurück und war auch in einem anderen Supermarket in Norwich passiert, mit Rachel und den Kindern.

Eine halbe Stunde später fragte sie mich, wann wir endlich in den Supermarkt gehen, weil sie einige Dinge dringend bräuchte. Sie müsse nur noch ihre Liste und ihren Mantel finden. Eigentlich wollte sie ihre Hausschuhe für den Einkauf anlassen, weil die am bequemsten seien. Ich überredete sie trotzdem, dass Sandalen dafür besser seien.

Im Supermarkt machte ich den Fehler, meine Mutter nur für ein paar Minuten in einem Gang allein zu lassen, als sie nach Körperpuder suchte. Als ich zurückkam, war sie weg. Erstmal ging ich noch in aller Ruhe systematisch den Mittelgang auf und ab und schaute links und rechts, aber es gab von ihr keine Spur. Etwas beunruhigt machte ich mich schnell auf den Weg zum Haupteingang, für den Fall, dass sie schon den Supermarkt verlassen hätte. Nach intensiver Suche fand ich sie doch noch in dem Gang mit den Marmeladen.

»Wo in aller Welt warst du denn?«, fragte sie mich vorwurfsvoll.

Auf dem Weg nach draußen rannte sie dann fast gegen das Glas der Ausgangstür.

Am Sonntag gingen wir wieder zu Heartys. Auf der Fahrt dorthin erzählte Mum – wie so häufig - dass sie darüber nachdachte, endlich nach Nordengland zu ziehen. Sie würde sich dort einen Bungalow kaufen, mit nur einem kleinen Garten und fußläufig zu den Geschäften. Ich hörte zu, nickte und gab eher kurze Antworten. Sie war sich nicht bewusst, wie schlecht ihr Zustand wirklich war.

Diesmal bestellten wir beide Würstchen und fanden einen Tisch am Fenster. Ich hielt Ausschau nach Izabela, aber vergeblich. Vielleicht arbeitete sie nicht mehr hier. Oder nur noch unter der Woche.

Als wir gegessen hatten und Mutter sich wieder die Grußkarten ansah, ging ich zu dem Mädchen an der Kasse hinüber.

»Hallo. Ist Izabela heute denn nicht hier?«

»Izabela? Nein. Ich habe sie die ganze Woche nicht gesehen. Kennen Sie sie?«

»Ein wenig. Wir haben uns ein paar Mal unterhalten.«

»Verstehe.« Sie lächelte.

Ich kehrte zu meiner Mutter zurück.

Ich hatte ein seltsames Gefühl, als ich nach Hause fuhr. Ich kannte Izabela nicht, war aber irgendwie beunruhigt.

»Das nächste Mal nehmen wir Rachel und die Kinder mit. Es war richtig schön hier. Vielen Dank!«

Seltene Worte von Mum, aber schön zu hören.

»Wir könnten hierher gehen, wenn sie uns an deinem Geburtstag besuchen.«

»Ja, das meinte ich«, sagte meine Mutter. »Wann gehst du zurück?«

»Nach London?«

»Ja.«

»Mum, ich arbeite dieses Jahr an einer Schule hier, also gehe ich erstmal gar nicht nach London zurück. Ich habe eine Vertretungsstelle für ein ganzes Jahr hier.«

»Ich verstehe. Das ist gut. Es ist schön, dich hier zu haben.«

Der letzte Tag im Januar

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