Читать книгу Blackout - Gregg Hurwitz - Страница 6
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ОглавлениеMein Auto stand auf Stellplatz 221 zwischen all den anderen abgeschleppten Autos. Ein Toyota Highlander – das Hybridmodell, so dass ich einen fetten Jeep fahren und trotzdem meine hohe Meinung von mir bewahren konnte.
Ich ließ den Motor an und blieb mit den Händen auf dem Lenkrad sitzen, um meine Vertrautheit mit diesem Gegenstand zurückzugewinnen. Mein Schädel brummte, meine Narbe, die zum Großteil von nachgewachsenem Haar verdeckt wurde, prickelte. Ich spürte einen Druck hinter den Augen, als wollte ich gleich losweinen, aber meine Tränen hatten vergessen, wo es langging. Das Autoradio war an. Springsteen lief immer noch schön am Fluss entlang, obwohl ihm das seit drei Jahrzehnten nichts anderes als Herzschmerz eingetragen hatte. Ich fragte mich, ob ich das Radio selbst angelassen oder ob es irgendjemand beim Abschleppen angeschaltet hatte. Hatte ich auf meiner letzten Fahrt Musik gehört? War ich am Steuer gesessen? War jemand bei mir gewesen?
Natürlich musste ich die Stellplatzgebühr bezahlen, sechshundert Dollar und ein paar Zerquetschte. Ich benutzte eine Kreditkarte, die meine Aufpasser schlauerweise in der Brieftasche gelassen hatten, die sie für mich aufbewahrt hatten. Auf der Heimfahrt kam ich an einem flackernden gelben Licht vorbei und spürte einen erregten Stich, als ich mein Auto parkte. Ein neues Wein- und Spirituosengeschäft.
»Ich möchte einen Bourbon. Haben Sie Blanton’s?«
»Ne.« Der Typ hinter dem Ladentisch sah nicht einmal von seinem Schwarzweißfernseher auf, der ungefähr so groß war wie ein Radiowecker. Von seinen Lippen baumelte eine Zigarette, deren Asche schon seit Minuten nicht mehr abgestreift worden war. Ich konnte den Bildschirm zwar nicht erkennen, hörte aber, wie ein Reporter die neuesten Neuigkeiten über einen Bekloppten verkündete, der denselben Namen trug wie ich.
»Knob Creek?«, fragte ich weiter. Er schüttelte den Kopf. »Maker’s?«
Er sah kurz zu mir und zuckte zusammen. »Jack Daniel’s.«
Ich hätte ihn darauf hinweisen können, dass Jack Daniel’s ein Tennessee Sour Mash ist und kein Bourbon, aber ich hatte das Gefühl, dass es bei meinem ersten Gefecht in der richtigen Welt lieber um etwas wirklich Wichtiges gehen sollte. Guten Wein vielleicht.
»Den Single Barrel?«
»Ja, wir haben den Single Barrel.«
Ich spürte seinen Blick in meinem Rücken, als ich den Laden verließ.
Zwei Minuten später war ich auf dem Mulholland Drive. Die Asphaltrebe schmiegt sich an die Hügelkette von Santa Monica und schiebt ihre Ranken nordwärts durch das Valley Richtung Santa Anas und südwärts ins Becken von Los Angeles. Auf dem östlichen Abschnitt halten die Touristen am Straßenrand, um ein Foto von den großen weißen Lettern zu schießen: HOLLYWOOD. Persische Paläste und Pseudo-Pueblos sitzen auf Gipfeln und an Hängen, verstecken sich hinter Toren und Steinmauern. Es ist eine gefährliche Straße, getränkt mit Wohlstand und Romantik, die Heimstatt der durchbrochenen Leitplanken, der sich dahinschlängelnden Straßen, der David-Lynch-Phantasie, des Frontalcrashs um zwei Uhr morgens. Man fährt so schnell wie möglich durch und ist froh, wenn man es hinter sich hat.
Heute Nacht hielt ich mich an die erlaubte Höchstgeschwindigkeit, denn ich fand, dass ich vorerst genug Probleme gehabt hatte. Ich fuhr die Mulholland in westlicher Richtung und bog kurz vor der 405 nach unten ab. Meine Auffahrt sah aus wie immer, teilweise beleuchtet von Verandalampen und den Bogenlampen am Gehweg. Die Autobahn war weit genug entfernt, dass der Verkehrslärm seufzend klang. Mein Haus lag im Schatten, aber ich hielt kurz inne, um die Umrisse zu betrachten. Trotz meiner Abwesenheit sah alles unverändert aus – wie Richard Neutra in einer Billigversion, sich überschneidende Ebenen aus Stahl, Glas und Beton, die gut harmonierten, aber eben doch nicht richtig elegant wirkten. Nachdem ich den Vertrag für mein drittes Buch unterzeichnet hatte, hatte ich mir genug zusammengebettelt und – geborgt, um noch ein letztes Zipfelchen auf dem Immobilienmarkt in L.A. zu erhaschen, der von Tag zu Tag enger wurde. Ich hatte viel zu viel bezahlt, aber die atemberaubende Aussicht, die sich bot, wenn man in meinem Garten hinterm Haus stand, tröstete mich darüber hinweg. Wenn ich es mir bis vor dem Prozess nicht wirklich hatte leisten können, dann konnte ich es jetzt erst recht nicht.
In meinem Vorgarten lagerten keine Nachrichtenteams. Keine Paparazzi in zwielichtigen Gefährten. Kein schnauzbärtiger Sensations-Fernsehjournalist in Kampfausrüstung, der gleich auf mich losgehen wollte.
Ich fuhr in die Garage, nahm das Glas aus dem Getränkehalter am Armaturenbrett und die braune Papiertüte vom Rücksitz und ging ins Haus. Es fühlte sich seltsam an, nach so langer Abwesenheit so wenig Gepäck dabeizuhaben. Kein großes Theater, keine Koffer, nur die Kleider, die ich am Leibe trug, eine Flasche in einer Tüte und einen Gehirntumor in einem Glas mit Schraubverschluss.
Vier Monate war ich weg gewesen, aber die Vertrautheit mit dem Ort war unvermindert. Der Riegel an der Vordertür, und das scharrende Geräusch, das die Tür beim Öffnen machte. Der besondere Duft im Haus, übereinander-gelagerte Gerüche nach Teppich und Fliesen, Kaffee und Kerzenwachs. Gegenstände, die ich gekauft, Entscheidungen, die ich getroffen hatte. Die Gefühle, die in mir aufstiegen, brachen sich im selben Moment Bahn, als ich die Tür hinter mir zumachte. Sowie ich allein in meinem Haus stand, fing ich endlich an zu weinen. Mit gesenktem Kopf stand ich da, und meine Tränen tropften auf den Boden, obwohl ich mir die Hand auf die Augen gepresst hatte, im vergeblichen Bemühen, die Flut meiner Qual zurückzuhalten. Ich weiß nicht, wie lange ich zitternd dort stand, aber als ich die Hand wegnahm, musste ich blinzeln, weil mich das Flurlicht blendete.
Ich ging in meine Küche mit den Geräten aus rostfreiem Stahl und den Teakschränken, durch den Flur mit den sich x-fach wiederholenden Warhol-Bildern, an denen sogar ich mich mittlerweile gründlich sattgesehen hatte, vorbei am breiten Treppenhaus. Alles in diesem Haus war kalt und spitz – Steinplatten unter meinen Füßen, Marmorecken an den Arbeitsplatten, kantige Schubladengriffe. Die Atmosphäre hatte etwas Gekünsteltes, Anmaßendes. Wahrscheinlich hätte ich erleichtert oder sogar glücklich sein müssen, wieder zu Hause zu sein, aber ich fühlte mich nur zutiefst verunsichert.
Ich ging zu meinem einzigen wirklich genutzten Möbelstück im Haus, dem Clubsessel im Wohnzimmer. Abgewetztes Leder, Zierbeschläge aus Messing, dazu passende Ottomane: beides hatte ich auf einem Flohmarkt auf einem Gehweg bei Melrose entdeckt und meinen Highlander sofort mit quietschenden Reifen zum Stehen gebracht. Jetzt stellte ich den Jack Daniel’s und den Gehirntumor zusammen auf den Wohnzimmertisch, wo sie in aller Ruhe ihre Berufsgeheimnisse austauschen konnten, ließ mich in den Sessel fallen und spürte, wie sich meine Schultern zum ersten Mal seit vier Monaten entspannten.
Tief einatmen. Länger ausatmen, als ich für möglich gehalten hätte.
Nichts, was ich jemals geschrieben hatte, war hiermit vergleichbar. Und ich hatte reichlich Gelegenheit gehabt, mir Dinge auszudenken. Ich hatte fünf Bücher veröffentlicht, von dreien die Filmrechte verkauft, eines war sogar schon verfilmt worden, wenngleich meine Leser es nicht wiedererkannten – jedenfalls die drei, die sich den Film angesehen hatten – und ich ehrlich gesagt auch nicht. Das Drehbuch über einen Pfarrer, der zum Kopfgeldjäger wird, trug den Namen (es ist mir peinlich, das so hinzuschreiben) Der betende Jäger, und die Hauptrolle wurde von einem Fernsehstar gespielt, der aus unerfindlichen Gründen für seine »Vielseitigkeit« bekannt war. Der Protagonist meiner Krimis ist Derek Chainer vom Morddezernat in L.A. (unseligerweise konvertierte er für obengenannten Flop zu Pater Chainer).
In meinen Büchern verursacht großer Schmerz weiße Explosionen vor den Augen, und Wut lässt den Kopf pochen. Was in meinen Büchern nicht beschrieben wird, ist das Gefühl, den verstümmelten Körper seiner Exfreundin auf Polizeiaufnahmen zu sehen. Oder wie schwierig es ist, sich getrocknetes Blut unter den Fingernägeln herauszukratzen.
Dabei hatte ich immer geglaubt, diese Welt zu kennen. Aber ich hatte sie nur äußerlich gekannt. Als ich zum ersten Mal im Bauch der Bestie war und mir ihre Verdauungssäfte zusetzten, ging mir auf, dass ich keinen blassen Schimmer gehabt hatte. Auf den dunklen Seiten des Lebens war ich immer nur als Tourist gewesen, der durch ein Fernglas zusieht, wie sich die Tiere gegenseitig auflauern und sich aneinander gütlich tun.
Mein Blick glitt durch das Zimmer und blieb an der Reihe mit meinen Büchern hängen – Hardcover, Taschenbücher, ausländische Ausgaben –, und mir wurde jäh bewusst, wie sehr ich noch die geringfügige Bedeutung, die ich ihnen zugestanden hatte, überschätzt hatte. Auf einen Schlag fühlte ich mich nicht mehr gerüstet für eine Welt, in der es offensichtlich kein System für die Verteilung von Erfolg und Scheitern gab. Mein Flohmarktsessel, der sich solide und tröstlich unter mir anfühlte, schien mir auf einmal unschätzbar wertvoll. Mein auf glänzende Buchrücken geprägter Name hingegen? Eines Tages würde ich nur noch eine schwache Erinnerung sein, ich und die restliche Halbprominenz, die sich in die angestaubten Ränge der Irgend-wann-beinahe-mal-berühmt-Gewesenen einreihen durfte. Jahre später würde auf einer Party bei irgendeinem Idioten, der sich verzweifelt um Konversation bemüht, eine bestimmte Ausdrucksweise eine Erinnerung wachrufen. Und dann würden auch die anderen nicken und brav lügen. Andrew Danner. Jaaa, genau, ich erinnere mich. Wie war das noch mal?
Und womit würde unser Idiot dann aufwarten? Mit der Handlung eines Krimis, die er aus dem Dickicht seiner Senilität gerettet hat? Mit einer Antwort, die die juristischen Komplikationen berücksichtigte? Oder würde er einfach die Boulevardpresse zitieren? Er war ein Mörder.
Wie immer fiel es mir schwer, mir nicht ständig mit den Fingerspitzen den Kopf abzutasten, diese Linie von sich verhärtendem Gewebe, das einzig Bekannte, was ich aus den Nebeln meiner Amnesie mitgenommen hatte. Die Narbe an der Stelle, wo sie in meinem Gehirn herumgewühlt hatten, ging direkt hinter meinem linken Ohr los, kurz hinter dem Haaransatz, und verlief dann leicht gebogen Richtung Stirn. Mittlerweile hatte ich durch das Abtasten jeden Millimeter der rosa Narbe auswendig gelernt, als wären in ihren Buckeln und Kanten Antworten in Brailleschrift versteckt.
Ich schaltete den Fernseher ein, um vor mir selbst zu fliehen, aber da war ich schon wieder. Meine verstörte Reaktion, als das Urteil verkündet wurde. Auf dem Bildschirm wurden in mehreren Fenstern gleichzeitig verschiedene Interviewpartner eingeblendet, Bezirksstaatsanwälte und Aktivisten von Organisationen für Verbrechensopfer und dazu noch ein paar Möchtegern-Staranwälte. Ein Interview mit meinem Lehrer aus der siebten Klasse. Die altbekannte Aufnahme, die man aus einem Helikopter heraus von Genevièves Haus gemacht hatte. Ein geistreicher Nachrichtensprecher eines Privatsenders hatte Fotos von mir im Gerichtssaal per Photoshop zu den drei weisen Affen umgearbeitet, die nichts Böses sehen, hören und sagen.
Als Autor hatte ich einigen Erfolg gehabt, aber wirklich berühmt geworden war ich erst als Mörder. Squeaky Fromme, Johnny Stompanato, OJ, die Menendez-Brüder. Jetzt war ich einer von ihnen. Eine Geschichte über Schicksal und Schande. Noch so eine moderne Spielart dieser alten Geschichten von den seltsamen Leuten mit den Kränzen auf dem Kopf und den knubbeligen Knien. Die dumme Pandora, die einfach ihre Büchse nicht zulassen konnte. Der Blödmann, der seinen Vater umbrachte und sich dann über seine Mutter hermachte. Habt ihr schon von dem Typen gehört, der eines Morgens aufwachte und sich nicht mehr erinnern konnte, seine Exfreundin umgebracht zu haben? Tagesgespräch bei Starbucks, Gegenstand oberflächlichen Geplappers und Pointe im Verkehrsradio.
Ich schaltete den Fernseher aus und saß in der durchdringenden Stille.
Was würde ich denn denken, wenn ich mich nicht kennen würde? Motiv. Mittel. Gelegenheit. Dagegen kommt man mit Bauchgefühl nicht an.
Was hatte ich vor Gericht gesagt? Ich glaube, dass jeder Mensch zu allem fähig ist.
Aber leider war ich mein einziger unzuverlässiger Zeuge. Was ich wirklich brauchte, waren harte Fakten, die ich neben dem Sour Mash Whiskey und meinem hübschen kleinen Tumor auf den Tisch knallen konnte.
Der Sohn meiner Nachbarn, ein bebrillter kleiner Tyrann, der aussah, als wäre er einem Fernseh-Sketch entstiegen, bearbeitete gerade mal wieder seine Trompete. Er übte Wer bei der Arbeit pfeift, ohne jedes Gefühl für Tempo und Tonart. Mit FRIschem Mut sein TAGwerk tut, schafft MEHR und spart VIEL ZEIT.
Ich stand auf und schlenderte durchs Haus, um mich wieder mit den Dingen bekanntzumachen. Auf dem wackligen Küchentisch stand neben zwei Einkaufstüten voller Post mein Forschner-Messerblock, der sich immer noch in einer versiegelten, durchsichtigen Plastiktüte der Spurensicherung befand. Mir wurde eiskalt. Ein Willkommensgeschenk von der Staatsanwaltschaft oder der Polizei, das dazu gedacht war, mich wieder zurückzuwerfen. Für den Fall, dass ich vorgehabt hätte, wieder zu meinem normalen Leben zurückzukehren. Das Set mit den Messern aus rostfreiem Stahl war eines von Genevièves passiv-aggressiven Geschenken gewesen, eine zehnfache Aufwertung meines kläglichen Billigbestecks mit den Plastikgriffen. Sie besaß haargenau denselben teuren Messerblock. Meine Messer hatten im Prozess ihren kurzen Auftritt gehabt. Sehen Sie her, meine Damen und Herren Geschworenen, er hat genau dasselbe Set wie sie, ganz neu und glänzend, und noch dazu ein Geschenk vom Opfer selbst! Die Inspiration für das Verbrechen!
Das Filetiermesser aus Genevièves Set war ein zentrales Beweisstück gewesen. Wie man mir erzählte, hatte ich ihr dieses Messer in den Unterleib gestoßen.
Ich nahm eine Schere aus einer Schublade und schnitt die Plastiktüte auf. Mit umständlicher Feierlichkeit stellte ich den Messerblock wieder an seinen Platz. Die Tüte knüllte ich zusammen und warf sie in den Mülleimer. Dann lehnte ich mich einen Moment gegen die Arbeitsplatte.
Ich versuchte, mich zusammenzureißen und mich zu erinnern, was ich jetzt für mich tun musste. Das Letzte, was ich in meiner Situation gebrauchen konnte, war ein postoperativer Anfall, also zog ich meine Tabletten aus der Tasche und warf ein Antiepileptikum ein, das ich mit einer Handvoll Wasser aus der Leitung herunterspülte. Was für eine erbärmliche Heimkehr in mein Zuhause.
In der Spüle standen ein leeres Glas und eine weiße Schüssel mit eingetrocknetem orangefarbenen Muster – schlagender Beweis für den Verzehr einer Honigmelone. Frühstück, dreiundzwanzigster September. Das letzte konkrete Ereignis vor der Operation, an das ich mich erinnern konnte. Dieses Geschirr hatte das Gewicht eines archäologischen Fundes. Ich spülte es und stellte es weg, dann schleppte ich meine Taschen und meinen Tumor die Treppe hoch und den Flur auf der Empore entlang, den mein Immobilienmakler als Laufsteg bezeichnet hatte.
Tu’s mit GESANG, dann WÄHRT’S nicht LANG, die Zeit geht SCHNELLER RUM.
Die schönste Aussicht im ganzen Haus hatte mein Büro. Die schalldichten Flügeltüren, die zum Schlafzimmer führten, waren jetzt geschlossen. Mein umgekippter Stuhl bot einen unheimlichen Anblick, als ich die Treppen hochkam, er wirkte wie eine Leiche. Ich starrte einen Moment auf ihn herunter, bevor ich ihn wieder aufrecht hinstellte. Hatte ihn ein Detective bei der Hausdurchsuchung umgestoßen? Ein Einbrecher? Oder meine Wenigkeit, als ich mich gerade in meinem Gehirntumor-Blackout verlor?
In meinem Büropapierkorb lagen ein gefaxtes Angebot von einem italienischen Verlag, Abrisse von Eintrittskarten zu den Spielen der Dodgers und ein paar Werbesendungen. Überreste eines ganz normalen Tages, der seinen Lauf nahm, ohne dass Einzelheiten davon im Gedächtnis bleiben würden. Ich schaltete meinen Palm ein, klickte rückwärts alle verpassten Verabredungen und Besprechungen durch, bis ich zum dreiundzwanzigsten September kam. Der Bildschirm war leer, wie zu erwarten. Als ich den Palm wieder in sein Etui steckte, traf mich die Erkenntnis, dass ich mir bizarrerweise selbst hinterherschnüffelte. Ich war ein Einbrecher in meinem eigenen Haus.
Ich drückte auf den Freisprechknopf meines Telefons, um den Pizza-Service anzurufen, für den Fall, dass mein Appetit jemals zurückkehren sollte, aber nach den ersten drei Ziffern merkte ich, dass der Apparat keinen Ton von sich gab. Nachdem ich die Einkaufstüten durchwühlt hatte, förderte ich eine Handvoll Briefe zutage, in denen man mir mitteilte, dass mein Anschluss gesperrt werden müsse. Alle anderen Anbieter hatten glücklicherweise eine Einzugsermächtigung für mein Girokonto, wie zum Beispiel der Provider meines Handys, das auf dem Aktenschrank stand und brav seinen Akku auflud. Ich stöpselte das Headset in mein Motorola und wählte.
Während die Warteschleifenmusik der Telefongesellschaft mit dem Schneewittchen-Song von nebenan wetteiferte, sah ich meine E-Mails durch. Freunde und Leser sprachen mir ihre Unterstützung aus, andere, die von meiner Schuld überzeugt waren, hatten mir ein paar hasserfüllte Zeilen zukommen lassen, dazu kam eine Unmenge von Werbemails für Viagra und Penisvergrößerungen. Ich beschloss, Letztere als Spam zu betrachten und nicht als zielgruppen-orientiertes Marketing. Als ich zu den Tagen vor und nach Genevièves Tod herunterscrollte, war ich zugleich enttäuscht und erleichtert, nichts Ungewöhnliches zu finden. Ich loggte mich aus und starrte den leeren Bildschirm an. Bei dem Gedanken, demnächst irgendetwas zu schreiben – oder überhaupt jemals wieder etwas zu schreiben –, verließ mich mein ganzer Mut. Es ging doch nichts über ein kleines, altmodisches Trauma, um mir die Egozentrik meines Berufs vor Augen zu führen. Und auch seinen mangelnden Praxisbezug. Ich hätte mir in diesem Moment eine Arztpraxis gewünscht oder von mir aus auch ein Waisenkind, um das ich mich hätte kümmern müssen. Irgendetwas, nur um nicht vor einem Bildschirm sitzen und so tun zu müssen, als wäre das, was ich mir hier ausdachte, für Hunderttausende von Menschen interessant. Menschen, die zum Großteil Berufe ausübten, die wirklich nützlich waren.
Schließlich bekam ich Serg in die Leitung, der mich fragte, womit mir seine Telefongesellschaft heute exzellenten Service bieten könnte. Ich erklärte, dass ich versäumt hatte, meine Telefonrechnung zu zahlen, das jetzt aber nachholen würde und meinen Anschluss wieder freigeschaltet haben wollte. Nachdem er es mir mit ausstehenden Mahngebühren und Freischaltungsgebühren so richtig besorgt hatte – die zu zahlen ich mich natürlich reuig bereiterklärte –, seufzte er enttäuscht und nahm meine Kreditkartennummer auf.
»Kann ich meine Nummer denn behalten?«, fragte ich, denn im Moment war es mir extrem wichtig, nichts Vertrautes aufgeben zu müssen.
»Ihr Anschluss ist gesperrt worden, nicht abgemeldet«, sagte Serg. »Sie behalten also Ihre Nummer. Wir schicken Ihnen jemand vorbei, der den Anschluss wieder freischaltet.«
»Wann?«
»Bis nächsten Donnerstag ungefähr.«
»Können Sie nicht schon eher jemand schicken?«
»Vielleicht. Aber nächster Donnerstag ist der erste Termin, den wir garantieren können.«
Unter exzellentem Service hatte ich mir etwas anderes vorgestellt.
»Hören Sie«, sagte ich. »Es geht einfach nicht, dass ich im Moment überhaupt kein Telefon habe.«
»Dann war es vielleicht keine so gute Idee, Ihre Telefonrechnungen vier Monate lang zu ignorieren?«
»Sagen Sie, habe ich da eigentlich ein Callcenter in Indien erwischt?«
Eine kurze Pause, dann sagte er: »Oh, verstehe. Andrew Danner. Sie waren anderweitig verhindert.«
Doch während ich vor Gericht durch mildernde Umstände meine Freiheit wiedererlangt hatte, ließ sich meine Telefongesellschaft von keinem Argument erweichen. Serg blieb ungerührt, also klappte ich schließlich mein Handy zu, schaltete meinen Computer aus und ließ mein Büro in Frieden.
Mein Schlafzimmer erzählte seine eigene Geschichte, die Geschichte von Aprils Abgang. Tür angelehnt. Zurückgeworfene Bettdecken. Ein paar von meinen Toilettenartikeln auf der Ablage im Bad waren umgefallen, als sie hastig ihre Wochenendtasche zusammenpackte. Ein rosa Rasierer in der Dusche, den sie übersehen hatte. Vielleicht würde ich es später bei ihr versuchen, um der guten alten Zeiten willen. Bei ihrem hektischen Aufbruch hatte April auch eine ihrer Socken neben dem Waschbecken verloren.
Wir waren noch in der allerersten romantischen Phase unserer Beziehung gewesen. April war eine Orthopädin mit klaren, hübschen Gesichtszügen und einem ausgeglichenen Temperament, das ich neidvoll ihrem Aufwachsen im Mittleren Westen zuschrieb. Sie hatte mich behandelt, nachdem ich mir beim Ballspielen in Balboa Park das Schlüsselbein gebrochen hatte. Ihr fester Medizinergriff, die Mischung aus Fürsorge und Verstand, die Nähe unserer Gesichter, als sie mit meinem Arm probeweise diese und jene Bewegung durchführte – ich hatte einfach keine Chance gehabt. Wir waren erst drei Monate zusammen gewesen, voller Pläne, die viel zu jugendlich schienen für zwei Achtunddreißigjährige. Gutenachtanrufe. Im Bett Eis aus der Packung essen. Alte Filmklassiker in Schwarz-Weiß und Fabrocini-Pizza. Ab und zu übernachtete sie bei mir, nur so zur Übung. Und dann der brutale Mord.
Damit waren diese Leichtigkeit und Hoffnung dahin, die ich eigentlich nie wieder zu erleben erwartet hatte, nachdem Geneviève und ich vor einem halben Jahr ratlos getrennte Wege eingeschlagen hatten. Oder, nach den Worten der Staatsanwaltschaft und den Nachrichtensprechern, unsere bitteren, rachsüchtigen Wege.
Ich hob Aprils Socke auf und spürte schon, wie die Gefühle wieder in mir hochkamen, aber dann beschloss ich, dass ich mir nicht gestatten würde, wegen eines Strumpfes in Tränen zu zerfließen. Also stellte ich meinen Tumor auf das Nachtkästchen, machte das Bett und setzte mich dann auf die Decke, um darüber nachzudenken, was für eine Art Einsamkeit uns jetzt erwartete. Mich und meinen Tumor. Während mein Blick an dieser Masse brauner Zellen hängenblieb, schweiften meine Gedanken wieder zu Geneviève, ihrem grauenvollen Tod, meiner noch grauenvolleren Verwicklung in dieses Verbrechen. Sie hatte ihrem Geschmack, ihren Aussprüchen immer einen Hauch Exotik zu verpassen gewusst, was auf mich unwiderstehlich gewirkt hatte. Eigentlich fand ich fast alles an ihr attraktiv. Die Endgültigkeit ihrer Urteile. Die Sicherheit ihrer Leidenschaften. Sie war eine füllige Frau, mit dicken Oberschenkeln und Hüften, fühlte sich jedoch erfrischend wohl – nein, selbstbewusst – in ihrem Körper und mit dem, was sie mit ihm anstellen konnte. Meine Erinnerungen an sie bestanden zum Großteil aus einer Palette von Gefühlen. Die Weichheit einer Wange, die über meine Brust streicht. Spuren von Petite Cherie auf meinem Kopfkissen. Schweißperlen auf ihrem Alabasterrücken. Ihr Gesicht, wenn sie schlief – so weich wie das eines Kindes. Alles an ihr war weich, und sie hatte auch keine Tage, an denen sie irgendwie schlechter ausgesehen hätte. Es ist viel schwieriger, eine Abneigung gegen eine Frau zu entwickeln, an der alles weich ist. Oder sie müsste sich um einiges hässlicher verhalten. Aber während ich noch eine Weile gebraucht hätte, um so weit zu kommen, preschte sie voraus und hasste ihre Launen so sehr, dass es für uns beide reichte. Ich war verliebt in sie, aber im Grunde war ich am verliebtesten in die Tatsache, dass ich sie über Wasser hielt, und sie war die Einzige von uns beiden, die die komplexen Verhältnisse durchschaute.
In der Nacht, als wir Schluss machten, hatte sie die gesamte Skala durchlaufen. Ich war am Abend aus meinem Büro gekommen und hatte sie im Schlafzimmer gefunden, wo sie sich mit einer ganzen Packung Chunky-Monkey-Eis auf dem Schoß die Rosenzeremonie von Der Bachelor ansah. Sie hob die Hand mit dem Löffel in meine Richtung, zum Zeichen, dass ich sie nicht stören solle. »Jane ist eine blöde Kuh, die müssen sie nach Hause schicken.« Ihr leichter französischer Akzent vertrug sich nicht mit ihrer prosaischen Erklärung, und ich musste mir ein Grinsen verkneifen. Wenig später meinte sie mit teuflischem Kichern: »Lass uns einen Happen essen gehen. Wenn wir hierbleiben, würden wir heute Abend sowieso nur streiten oder ficken.« Im Restaurant hielt sie meine Hand und zählte mit ekstatischem Gesichtsausdruck die Gewürze einer marokkanischen Lammfleischbratwurst auf. Wieder zu Hause liebten wir uns, schwitzend in der warmen Luft, die zum Fenster hereinkam. In jener Nacht entglitt sie mir wieder in eine ihrer düsteren Stimmungen. Ich fand sie schluchzend in der Dusche. »Alles ist einfach so würdelos geworden. Alles ist so wahnsinnig billig.«
Sie saß auf den Fliesen, während ihr das Wasser auf die Brust prasselte. Ich ging neben ihr in die Hocke und fühlte die altbekannte Hilflosigkeit, während das Wasser meine Ärmel durchweichte. »Was denn?«
»Alles. Das Fernsehen. Nichts. Es tut mir leid. In meinem Kopf stimmt was nicht. Das ist mal wieder einer von diesen ... Es tut mir leid. Es ist nicht fair. Ich sollte lieber gehen.«
In den frühen Morgenstunden war ich aufgewacht und hatte festgestellt, dass sie meine Hand zwischen ihren verschwitzten Handflächen hielt. Mit den Schneidezähnen nagte sie an ihrer blassen Unterlippe, und ihre Augen suchten noch nach Trost in den meinen, als sie es aussprach: »Es wird einfach nicht klappen mit uns.« Ich hatte nicht mehr die Kraft, sie noch einmal umzustimmen. Sie packte ihre wenigen Habseligkeiten, die sie bei mir deponiert hatte, und hörte sich auf ihrem iPod eine Oper an, damit wir nicht noch einen Streit anfangen konnten.
All die Überlegungen, die in den Medien über sie angestellt wurden, machten mir klar, wie schwierig es gewesen war, sie wirklich kennenzulernen. Trotz ihrer vage gehaltenen Behauptungen, einen Teil des Immobilienportfolios ihrer Familie zu managen, hatte sie eigentlich keine Arbeit ausgeübt. Sie las viel. Sie ging zu Matineen. Sie kannte gute Bäckereien. Sie hatte nicht viel vom Leben verlangt und am Ende hatte es ihr noch weniger gegeben. Ich musste an all die Erfahrungen und Erlebnisse denken, die ihr nun verwehrt bleiben würden. Die ganze Welt würde ihr nun unwiderruflich verwehrt bleiben.
Ich wollte die letzten vier Monate abschütteln wie einen bösen Traum. Aber gewisse Tatsachen sind wie Felsbrocken. Sie versperren einem den Weg. Sie haben scharfe Kanten, an denen man sich schneidet, wenn man versucht, sie wegzurollen. Nach dem Tod meiner Mutter war ich noch wochenlang morgens mit diesen schlichten, kindlichen Gedanken aufgewacht: Ich will, dass das nicht wahr ist. Ich will, dass das nicht passiert ist. Es wollte mir einfach nicht in den Kopf. Der Tod meines Vaters anderthalb Jahre später war ebenso schmerzhaft, aber da hatte ich dann zumindest schon ein wenig Übung. Aber wo sollte ich Geneviève mit ihrer tiefen Einstichwunde im Bauch einordnen?
»Ich hab es nicht getan«, sagte ich zu meinem Tumor. Er glotzte gleichgültig zurück.
Ich ging nach unten, machte den Jack Daniel’s auf und sog das volle, befriedigende Aroma tief ein. Dann ging ich an die Küchenspüle und goss den rauchigen Single Barrel in den Abfluss. Die Juden opfern ein Glas Wein für den Propheten Elias, die Buddhisten opfern Obst, die Gangbanger gießen einen Drink für ihre toten Kumpels auf den Boden. Man muss den Göttern zu essen geben. Sonst fressen einen die Götter nämlich selbst.
Nicht, dass sie einen nicht auch so fressen würden.
Eine metallbeschlagene Espresso-Maschine machte sich auf der Arbeitsplatte so breit, als würde dort ein Labrador sitzen. Ich hatte sie für Geneviève gekauft – in dem ungefähr fünf Minuten dauernden Abschnitt unserer Beziehung, als zwischen uns alles prächtig lief. Die Maschine hatte fünfzehn Tassen schlammartigen Espresso produziert, womit wir bei einem Preis von 147 Dollar pro Tasse waren. Im Kühlschrank waren drei Flaschen Wasser und ein Riegel Zartbitterschokolade, den April zur Hälfte aufgegessen hatte. Ich ging zum Küchenschrank und holte das Saftglas und die weiße Schüssel, die ich vorhin weggestellt hatte, wieder heraus. Ich stellte sie auf die Arbeitsplatte und starrte sie an, als erwartete ich, dass sie gleich anfingen zu sprechen.
Frühstück am dreiundzwanzigsten September. Meine letzte Erinnerung, bevor ich im Krankenhaus wieder aufwachte.
Ich konnte nicht verhindern, dass mein Blick zu den Messern wanderte, die dort in dem hölzernen Messerblock standen. Ganz tief irgendwo in meinem Bauch rührte sich eine düstere Neugier, die sich wie eine blau brennende Flamme anfühlte. Wie wenn einem nach zweistündigem Lauftraining ein zwanzig Jahre alter Scotch ins Blut schießt. Ich trat vor den Messerblock und erriet beim ersten Versuch, wo das Filetiermesser steckte. Ich wog es in der Hand, fühlte den Schaft. Bisher hatte ich die Messer vielleicht vier- oder fünfmal benutzt. Warum also hatte meine Hand das Filetiermesser so leicht gefunden?
Eine ganze Weile starrte ich meine Hände an, dann mein Gesicht im Spiegel über der Spüle – ein Typ mit einem Messer in der Hand und einer Narbe im Haaransatz. Der Anblick ließ mich schaudern.
Nachdem ich meinen Humidor inspiziert hatte, ging ich auf die Veranda, setzte mich mit den Füßen auf dem Geländer in einen Liegestuhl und rauchte eine Zigarre bis zu ihrer gelb gesprenkelten Bauchbinde. Mein einzig verbliebenes Laster. Abgesehen vom Schreiben.
Falls ich jemals wieder schreiben würde.
Die Nacht war dunkel und januargemäß beißend. Die Leute vergessen immer, wie kalt L.A. im Winter werden kann – der Wind vom Pazifik, von Santa Ana, wütende Regenfluten mit halbherzigen Blitzen, wie ein Monsun mit Verstopfung, der sich Erleichterung verschaffen will. Ein schöner Ausblick heilt jeden Kummer.
Ein schöner Ausblick gibt einem das Gefühl, etwas zu besitzen, das größer ist als man selbst, als würde einem auf diesem Planeten ein Ort wirklich gehören.
Ich betrachtete das funkelnde Valley zu meinen Füßen. Es sah aus wie ein Ozean, nur hübscher, denn es war ein Meer aus Lichtern, und es war Bewegung und Leben, und es erlaubte mir, allein zu sein und doch verbunden mit tausend Menschen in tausend Häusern mit ihren tausend Geschichten, von denen viele noch trauriger waren als meine. Die Sepulveda, die Straße, die Richtung Norden verläuft, mitten in die demographischen Katastrophen. Van Nuys – nur aus der Ferne schön, wo die Mexikaner werktags am Morgen Fußball spielen und sich vor dem Anstoß bekreuzigen, als kümmere sich Gott um das Ergebnis eines verkaterten Spiels. Die 405, ein kurviger Wasserfall aus weißen Vorderscheinwerfern. Die Ventura, die in östlicher Richtung verläuft, vorbei an Stundenmotels mit glamourösen Studionamen, wo die Freier kaputte Straßenkinder hinschleppen oder auch umgekehrt. Und der Cahuenga-Pass, wo die City wartet, eine unersättliche und unergründliche Geliebte, die sich mit einem Sphinxlächeln auf einem Neonbett räkelt, mit zerschmetterten Träumen unter ihren Tatzen.
Ich schloss die Augen und machte in Gedanken eine Tour durch das Hollywood der Hippen und der Möchtegernhippen, der Kulturkonsumenten, die Markennamen in großen Lettern auf ihrem Nickisamt-Arsch spazieren tragen. In Gedanken folgte ich dem General-Motors-Olds-mobile mit Arkansas-Nummernschild, der sich nicht um das Gehupe hinter ihm scherte und weiterhin mit Schrittgeschwindigkeit über den Boulevard fuhr, während sich die Köpfe der Insassen auf beachtlichen Südstaatennacken drehten. Vorbei an schwarzen Kids, die auf umgedrehten weißen Eimern saßen und Rat-tat-tat-tat brüllten, vorbei an sich schälenden deutschen Nasen, dem klebrigen Geruch von Sonnencreme, dem giftigen Smog, den Silberringen in bronzefarbenen Bauchnabeln, den Reklametafeln von Gap mit den Popköniginnen in Schlapphüten, und dann die Straße hinauf ins richtige Hollywood, wo die Nutten über ihrer Kotze knien und die Junkies vor den Eingängen herumstolpern, sich an den Schultern kratzen und sich ihr Gutenachtliedchen vormurmeln, das wird schon wieder, das wird schon wieder.
Durch die ganzen Comedy Clubs, in denen Ehemänner aus Wichita über Jesus-Witze lachen, obwohl die Hausfrauen sie mit verkniffenem Mund von der Seite ansehen, wo die Amateure sich durch ihre Vorstellungen schwitzen und wo vielleicht, aber auch nur vielleicht, irgendein großer Sitcom-Autor vorbeikommen und sein neuestes Material austesten wird, nachdem die abgeklärte Kellnerin das zweite leere Glas des Zwei-Getränke-Minimums abgeräumt hat. Dann Richtung Westen nach Boys Town, wo schwule Pärchen in allen Größen und Formen der eingeschränkten Vorstellungskraft der Heteros eine Lektion erteilen, wo Softporno-Reklametafeln neben glühenden Tarotkarten und Tattoo-Studio-Werbung hängen, wo Liebespaare sitzen und ihren Kaffee schlürfen. Einen Steinwurf weiter stehen die Pornopaläste mit ihrem ganzen purpurfarbenen Polystyrol, und die Schilder mit den Park- und Halteverboten türmen sich übereinander wie an Totempfählen und entziehen sich jedem Deutungsversuch. Vorbei am Urth Café, in dem abgehalfterte geschiedene Frauen auf ihrem organischen Salat herumkauen, mit Gesichtern, die vom Tablettenkonsum gezeichnet und von den Kollagenunterspritzungen angeschwollen sind – ein einziger Zermürbungskrieg des Fleisches. Die aalglatte Schlange des Sunset Boulevard hinunter mit ihren alten Anwesen, dem hellen und schamlosen Hustler-Shop, ihren tausend Lichtern an den Feiertagen. Durch Beverly Hills mit seinen Palmen, die schon so oft gefilmt wurden, ohne dass man jemals ihre Schönheit hätte einfangen können. Jogginganzüge auf Seg-way-Elektrorollern unterwegs zu Valentino, blutjunge angehende Berühmtheiten, die mit ihren Schoßhündchen bummeln gehen, Männer mit ihren unsichtbaren Handy-Kopfhörern, die vor Restaurants und an Ampeln stehen und einsam vor sich hin murmeln in einem Dialog ohne Gegenüber.
Dann Westwood, dann Brentwood, wo Mütter aus den besseren Stadtvierteln ihre ebenmäßigen Kinder in Designer-Kinderwägen über die Bauernmärkte schieben und sich begeistert von Hotels auf Bali erzählen. Dann weiter zu den Palisades, zum Santa Monica Canyon und nach Malibu, die funkelnde Küste hinauf, die nach Auspuffgasen riecht und mit Möwenguano bedeckt ist. Durch die Canyons, tiefe rostfarbene Falten, die aussehen wie Erzadern oder die Falten weiblicher Genitalien, die Luft überraschend frisch und mit Salz gesättigt.
Meine Wangen waren nass von der Meeresbrise und auch, weil mir das Herz überging bei der Betrachtung des Lichtermeers. Los Angeles. Ein Wunder von einer Stadt, die wie kalter Schweiß vom Rücken der Goldgräber und Eisenbahnarbeiter floss und Gestalt annahm, als Piratenfilm-verleiher auf der Flucht vor Edisons Patenten den Zug bestiegen und unter dem Schutz von Ostküstenleibwächtern ihr Glück versuchten.
Los Angeles, das Land des endlosen Versprechens. Und des endlosen Scheiterns. Das Los Angeles der kleinen Grausamkeiten. Das Los Angeles der flüchtigen Hierarchien, der aufgesprühten Sonnenbräune, des Grapschens im Vorübergehen. Das L.A. der verbundenen, frisch operierten Nasen, der Chai-Speisekarte, der Verleumdungsklagen. Der Berufsbezeichnung mit Bindestrich. Der Garagen für zwei Jeeps. L.A. mit seiner Offenheit und seinen vorgefertigten Meinungen. L.A. mit dem bombastischen Sonnenuntergang, mit seiner lauen Nachtluft, die einen ganz betrunken macht. Das L.A. der verlängerten Jugend, der Verführung in Zeitlupe, der alterslosen, ersetzbaren Blondine. Das L.A., in dem ein Pornostar als Gouverneur kandidiert und eine Action-Figur die Wahl gewinnt.
Das L.A., in dem irgendeinem armen Idioten oder einem Glückskind jederzeit alles passieren kann. Wo dir alles passieren kann.
Wo mir alles passiert war.