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Ein unbescholtenes Mitglied der prominenten französischen Gemeinde der Stadt, dessen Leben von einem Krimischreiberling ein Ende gesetzt worden war. Von einem Aufsteiger, dessen Aufstieg hiermit sein Ende gefunden hatte. Sechs Monate, nachdem sie ihn verlassen hatte, war er morgens um 1 Uhr 30 in ihr Haus eingebrochen. Er war in die Küche gegangen, wo er sich ein Filetiermesser griff, den Zwilling aus dem gleichen Messerblock, den sie für ihn gekauft hatte. Er schlich in das Schlafzimmer, in dem er nicht mehr willkommen war, und erstach sie. Dort entdeckte man ihn mit blutverschmierten Händen über ihrem Körper. Als die Polizei eintraf, war sie tot, und er hatte gerade einen Anfall. Mit Blaulicht brachte man ihn ins Krankenhaus, wo die Ärzte den Gehirntumor entdeckten und eine Notoperation durchführten. Als er am nächsten Morgen aufwachte, war der Tumor entfernt und mit ihm – so behauptete er – seine Erinnerung an alles, was seit dem Frühstück des vorangegangenen Tages geschehen war. Amnesie auf Bestellung, ein alter Trick aus schlechten Romanen. Die Sorte Verteidigung, die nur in Los Angeles funktionieren konnte.

So hat der Enquirer die Geschichte dargestellt. Und die L.A. Times, Fox News und sogar die Vanity Fair. Die Geschichte ist völlig falsch, bis ins letzte Detail, aber sie erzählen sie mit der Leidenschaft der Boulevardpresse.

Ich kann sie nur so erzählen, wie ich sie erlebt habe.

Ich verbrachte meine erste Nacht in Haft damit, mich in das Waschbecken aus rostfreiem Stahl zu übergeben, bis sich meine Magenschleimhaut so durchgewetzt anfühlte wie die schmale Matratze auf dem festgeschraubten Bettgestell. Nach fast achtundvierzig Stunden unter Bewachung im Universitätskrankenhaus war ich in einer Isolationszelle im siebten Stock des Twin-Towers-Gefängnisses gelandet. Die Metallzelle war eng und hatte eine viereckige Maueröffnung, durch die die frische Luft der Innenstadt von Los Angeles hereinströmte. Ich vermisste mein Bett, die gerahmten Zigarettenschachtel-Sammelkarten mit Figuren aus Shakespeare-Stücken, die neben meinem Schrank hingen. Ich vermisste meine Mutter und meinen Vater. Ich hatte in meinem Leben schon unzählige schlaflose Nächte verbracht, ganz zu schweigen von den ruhelosen frühen Morgenstunden zu der Zeit, als sich der Zustand meiner Eltern verschlechterte – bei meiner Mutter nach einer Reihe von schwächenden Schlaganfällen in ihren Sechzigern, bei meinem Vater, achtzehn Monate später und weniger grausam, war es ein Aneurysma. Aber nichts – nichts – was ich erlebt hatte, ließ sich auch nur annähernd mit der absoluten Schwärze dieser Nacht vergleichen.

Tag für Tag kommandierten die Wachen die Gefangenen unten durch einen schmalen Durchgang, und zu meiner Zelle mit den grauen Wänden stieg das Geräusch von klirrenden Fußfesseln empor, körperlose Stimmen, starke und gebrochene, schwarze und weiße, meist klagende. Dazu sangen sie ihre Knacki-Litanei.

Ich war’s nicht.

Irgend so ein Arsch hat mich in die Pfanne gehauen.

Ich bin unschuldig. Ich hab mich nur um meinen eigenen Kram gekümmert, und dann ...

Dort oben, in meiner kalten Kiste, weit weg von den Schalthebeln der Macht, schien es mir angebracht, nicht in diesen Chor einzustimmen. Aber ich wusste, dass ich es nicht getan hatte. Ich wusste, dass ich Geneviève nicht umgebracht haben konnte, sogar dann noch, als ich langsam zu befürchten begann, ich könnte es doch getan haben.

Chic war selbstverständlich als Erster gekommen, sobald man ihn vorgelassen hatte.

Man führte mich durch einen grell beleuchteten, nach Ammoniak stinkenden Korridor zu einem privaten Gesprächszimmer, das für Gefangene benutzt wurde, die man zu ihrem eigenen Schutz abseits von den anderen hielt. Ein von Kampfspuren gezeichneter Holzstuhl, eine Trennwand aus Plexiglas, Obszönitäten, die man mit dem Finger auf die metallene Tischplatte geschmiert hatte – man fühlte sich in die Highschool zurückversetzt.

Die Wache sprach seinen Namen falsch aus, wie die französische Beurteilung einer Frisur, obwohl Chic alles andere ist als das. Er trug dieselben Klamotten wie immer, als wäre er zum ersten Mal ohne seine Mutter einkaufen gegangen. Jeans-Shorts, die ihm bis kurz unters Knie gingen. Ein riesengroßes olivgrünes Seidenhemd, das über seinem breiten Brustkasten zugeknöpft war. Eine glänzende, protzige Goldkette, passend zu dem Goldklunker am Ringfinger seiner linken Hand.

Er bewegte seinen massigen Körper und versuchte, eine bequeme Position auf dem Stuhl zu finden, der nicht für professionelle Sportler entworfen worden war. Als ich ihn sah, stiegen mir die Tränen hoch, denn mir wurde bewusst, wie gründlich mein Leben in Stücke gegangen war, seit ich ihn zum letzten Mal gesehen hatte. Vor einer Woche? Vor acht Tagen?

Chic legte eine überraschend weiße Handfläche auf das Plexiglas. Ich legte meine dagegen – es fühlte sich irgendwie surreal an, eine Geste nachzuahmen, die ich nur aus Filmen kannte.

»Was brauchst du?«, fragte er.

Meine Stimme, die ich in letzter Zeit so selten benutzt hatte, klang so heiser wie die, die sonst zu meiner Zelle hochstiegen. »Ich hab das nicht getan.«

Er machte eine beruhigende Geste mit gespreizten Fingern, legte den Kopf auf die Seite und senkte ihn leicht. »Nicht weinen, Drew-Drew«, sagte er sanft. »Nicht hier. Gib ihnen nicht diese Genugtuung.«

Ich wischte mir mit dem Saum meines Gefängnishemds die Augen ab. »Ich weiß.«

Chic sah aus, als würde er am liebsten durch die Glasscheibe brechen und ein paar Kämpfe für mich ausfechten, um sicherzustellen, dass die Tyrannen hier drinnen respektvollen Abstand zu mir hielten. »Was kann ich tun?«

»Einfach nur hier sein.«

Das war nicht das, was er sich vorgestellt hatte. Ich nahm an, dass er sich nach einer Aufgabe sehnte, irgendetwas, womit er mir besser helfen konnte. Chic, der aus Philadelphia stammt, hat diese typische Loyalität der Ostküstenbewohner und stellt sie gerne unter Beweis. Wie ich später erfahren sollte, hatte er geschlagene viereinhalb Stunden unten gewartet, bis er hinein durfte und mich besuchen konnte.

Er ballte seine starken Hände. »Das ist wie eins von deinen Büchern. Nur noch schlimmer.«

»Das nehme ich jetzt mal als Kompliment.«

Meine Finger waren wieder an meinem Kopf zugange, glitten über den Rosenkranz meiner Wundnaht. Als ich merkte, wie Chic mich beobachtete, nahm ich die Hand herunter.

Er sah besorgt aus. »Wie geht’s dir hier drinnen?«

Ich blickte an die Decke, bis meine Augen nicht mehr ganz so wässerig waren. »Ich scheiß mir in die Hosen vor Angst.« Eine Welle von Panik schnürte mir die Kehle zusammen und erinnerte mich daran, warum es besser war, sich der Angst nicht frontal zu stellen.

Er sah aus, als würde er seine nächsten Worte sehr vorsichtig wählen. »Ich war auch schon im Gefängnis, aber das war nicht mit dem hier zu vergleichen. Dein Schatten muss ja schon Angst vor seinem eigenen Schatten haben.«

Ich rieb mir die Augenlider, bis mein Herzschlag sich nicht mehr wie der Trommelwirbel am Schafott anhörte. Dann sagte ich: »Vergewissere dich bitte, dass es April gutgeht. Sie hat mich nicht besucht. Weder im Krankenhaus noch hier.«

»Ihr wart noch nicht besonders lange zusammen.«

»Wahrscheinlich ist das alles ein bisschen zu viel verlangt.«

Chic hob die Augenbrauen als wollte er sagen, ach, findest du wirklich?

Wenn ich meine Fassung bewahren wollte, konnte ich nicht darüber sprechen, dass ich April verloren hatte, also fragte ich stattdessen: »Was gibt’s Neues an der Front?«

»Den üblichen Scheiß. Gerichtsfernsehen, dreiminütige Zusammenfassungen auf dem Fünften, fünfminütige Zusammenfassungen auf dem Dritten. Die Reporter kommen sich weiß Gott wie korrekt vor, weil sie immer schön dran denken, das Wörtchen mutmaßlich zu benutzen.«

Ich wusste bereits, dass die Version des Staatsanwalts die Sichtweise der Medien stark beeinflusst hatte und umgekehrt. Das Opfer war fotogen gewesen, und die Öffentlichkeit hatte sie so gesehen, wie sie wollte, und mich so, wie sie es brauchte. Die Geschichte hatte ein Eigenleben bekommen, und mir war prompt die übelste Rolle zugefallen.

Er blinzelte mir zu. »Kriegst du ab und zu ein bisschen Schlaf?«

»Klar.«

Aber ich bekam eigentlich kaum Schlaf. In der letzten Nacht war ich wach gewesen und hatte meine Hände angestarrt wie Lady Macbeth, bestürzt über ihre geheime Geschichte. Ein kleiner Fleck getrocknetes Blut hielt sich hartnäckig unter meinem rechten Daumennagel, und ich pulte daran herum und pulte weiter, bis meine Frustration in Grauen überging und ich den vorderen Teil des Nagels mit den Zähnen abriss. Später träumte ich dann von Geneviève – ihre blasse Pariser Haut, ihre einladenden, gepolsterten Hüften, wie sie auf meinem Liegestuhl saß und mit einem Löffel geringelte Avocadostückchen aus der dunklen Schale schabte und sie mit Mayonnaise aus der Höhlung garnierte, in der vorher der Avocadokern gesessen hatte. Sie sah mich an und lächelte versöhnlich, und ich wachte auf. Das eine Ende meines dünnen Kissens hatte ich völlig durchgeschwitzt. Der Polyesterbezug war dünn, und ich wusste, dass ich hier in der Dunkelheit einen jämmerlichen Anblick bieten musste, wie ich schauderte und zitterte vor irgendetwas, das ich nicht wirklich benennen konnte.

»Kannst du Genevièves Familie mein Beileid übermitteln?«, bat ich leise. »Sag ihnen, dass ich es nicht getan habe.«

»Bei allem Respekt, aber die wollen im Moment bestimmt nichts von dir wissen.« Er hob eine Hand, als ich anhob zu protestieren. »Wie sind die Rechtsanwälte, die dein übereifriger Verleger für dich gefunden hat?«

»Sie scheinen zu wissen, was sie tun.«

»Wollen wir’s hoffen.« Er holte ein zusammengetackertes Dokument aus der Tasche und legte es in die Durchreiche.

Die Wache stürzte an den Tisch und blökte los: »Wenn ich das bitte mal kurz sehen darf, Sir.«

Chic wartete ungeduldig, während der Mann das Dokument durchblätterte, um die darin versteckte Lötlampe zu finden. Um sich zu rechtfertigen, entfernte er sogar die Heftklammer.

Okay, damit war Plan B also auch gestorben – ich würde also nicht auf einer magischen Heftklammer hier hinausfliegen.

Sobald das Dokument vom Sicherheitsdienst freigegeben war, schob Chic es zu mir durch. Es war eine umfassende Handlungsvollmacht über meine finanziellen und legalen Angelegenheiten.

»Umfassend«, sagte ich. »Hast du dann nur den Röntgenblick, oder kannst du auch deine Gestalt verändern?«

Er setzte ein halbes Grinsen auf, aber ich konnte die Sorge in den tiefen Fältchen um seine Augen sehen. »Die Anwaltskanzlei braucht einen Vorschuss von zweihundertfünfzig. Du musst wohl eine zweite Hypothek auf dein Haus aufnehmen.«

»Eine dritte.« Beim bloßen Gedanken an meine Finanzen begannen meine Schläfen zu pochen. Es gab noch ein bisschen bürokratisches Heckmeck, bis die Wache ein notarielles Siegel herausrückte, das nötig war, um die Handlungsvollmacht rechtsgültig zu machen. Noch so ein Leckerbissen aus dem wahren Leben, den ich auf den Seiten meiner – wie mir nun klar wurde jämmerlich unrealistischen – Romane übersehen hatte.

Ich unterschrieb und schob das Dokument wieder zu Chic durch. Seine Augen blieben an dem Zettel hängen, den ich dazugelegt hatte. »Was ist das denn?«

»Für Adeline.«

»Genevièves Schwester? Glaubst du allen Ernstes, dass sie von dir hören will?« Er faltete das Papier auseinander, ohne mich vorher um Erlaubnis zu fragen, und las meinen pubertären Brief.

Ich habe Deine Schwester nicht umgebracht.

Sag mir, wenn es irgendetwas gibt, was ich tun kann.

Ich fühle Deinen Verlust aus ganzem Herzen mit.

Er faltete den Zettel wieder zusammen und ließ ihn in seiner Tasche verschwinden. Sein Blick sprach Bände.

»Man wird also angeklagt und darf keine menschlichen Reaktionen mehr zeigen?«, fragte ich.

»Sicher, aber glauben wird dir keiner. Wenn du jetzt ehrlich bist, dann zerlegen sie dich gleich. Jeder wird glauben, dass du nur eine Show für die Jury abziehen willst. Das ist hier wie ein großes Spiel. Je schneller du das kapierst, umso besser.«

»Also, was soll ich tun?«

»Unschuldig aussehen.«

»Ich bin unschuldig.«

»Sieh danach aus.«

Wir blieben ein Weilchen schweigend sitzen und starrten uns an. Die Wache kam zu uns herüber. »Die Zeit ist um.«

Chics Blick zuckte kaum, als er das Spiegelbild der Wache in der Glasscheibe wahrnahm. »Ich bin gerade erst gekommen.«

»Sie gehen jetzt hier rechts raus. Klar?«

Chic saugte an seinen Zähnen und verzog den Mund zur Seite. »Ja, klar.« Dann, an mich gewandt: »Halt durch. Ich bin für dich da, was auch immer du brauchst.« Er schob quietschend seinen Stuhl zurück, und dann hörte ich seine Schritte von den kalten Betonwänden widerhallen.

Am nächsten Morgen hatten meine Anwälte ein Treffen angesetzt, und es ging wieder durch den nach Ammoniak stinkenden Korridor in den Plexiglas-Pavillon. Sie saßen wartend auf ihren Stühlen, ihre Konturen hell umrissen vom starken Morgenlicht. Der eine hatte sich nach vorne gelehnt, die Ellbogen auf die Knie gestützt und die Lippen geschürzt angesichts der Last kommender Entscheidungen. Der andere kippelte mit seinem Stuhl nach hinten, drückte sich einen Daumen in die Wange und fuhr sich mit dem Zeigefinger über die Oberlippe. Beide hielten die Köpfe gesenkt wie im Gebet. Bevor ich ihre Gesichtszüge erkennen konnte, hatte ich schon das starke Gefühl, dass ich auf das berühmte Bild von JFK und Bobby Kennedy zumarschierte, das aufgenommen wurde, als Chruschtschows Schiffe mit Volldampf auf Kuba zuhielten.

Ich verstand ihre Besorgnis. Ich hatte schon gezeigt, dass ich ein extrem unkooperativer Mandant war. Gegen ihren Rat hatte ich mich entschieden, auf mein Recht auf einen möglichst baldigen Prozess nicht zu verzichten. Der Antrag auf Kaution war abgelehnt worden, eine Sicherheitsmaßnahme des Richters, dem man diesen Prozess übertragen hatte und der schon jetzt eingeschüchtert war von den immer lauter schmetternden Fanfaren der Medien. Die Aussicht, vielleicht Jahre hinter Gittern verbringen zu müssen, während ich auf meinen Prozess wartete, war so grauenhaft für mich, dass ich die Sache einfach nicht objektiv betrachten konnte. Meine Anwälte und ich hatten auch diverse Male über das Plädoyer diskutiert. Ich konnte wählen zwischen schuldig und nicht schuldig. In der zweiten Phase des Prozesses würde man auf vorübergehende geistige Unzurechnungsfähigkeit plädieren – aber nur, wenn man mich für schuldig befinden sollte.

Donnie Smith, dem das Haar noch halb nass am Kopf klebte, weil er sich gerade nach dem Fitness-Training noch geduscht hatte, nahm den Faden dort wieder auf, wo wir beim letzten Mal aufgehört hatten. »Wenn Sie auf nicht schuldig plädieren, verärgern Sie damit nur den Richter, die Öffentlichkeit, die Presse und das Gericht. Und das sind genau die Leute, die über Ihr Schicksal entscheiden werden. Nicht nur diese zwölf Geschworenen. Sie müssen auf schuldig plädieren, damit Sie in der Frage der eingeschränkten Zurechnungsfähigkeit glaubwürdiger dastehen. Aufgrund des massiven Medieninteresses wird Harriman den Fall verhandeln, und Sie können was darauf wetten, dass sie uns in der ersten Phase, wenn wir auf schuldig plädieren, ungespitzt in den Boden rammen wird. Wir müssen so schnell wie möglich zur Frage der Schuldfähigkeit kommen und vermeiden, dass Sie sich durch einen Prozess quälen, der für Sie so gut wie aussichtslos wäre.« Mein Herz fühlte sich an, als flattere es in meinem Gefängnishemd herum. »Aber ich habe es nicht getan. Und kein Mensch auf der Welt will mir glauben.«

Diese Behauptung hörten sie nicht zum ersten Mal. Ausdrucksloser Blick. Geduldig. Aber nicht weit entfernt davon, demnächst die Geduld zu verlieren.

»Ihr Standpunkt lautet also, Sie können sich nicht erinnern, dass Sie sie nicht umgebracht haben?« Donnie sprach ganz langsam, als rede er mit einem geistig zurückgebliebenen Kind.

Ich gab keine Antwort. Es klang für mich ja genauso dumm. Wie schon bei den anderen Treffen stieg mit jeder Minute meine Angst, überhaupt nichts zu meiner Verteidigung sagen zu können. Und dass ich etwas gestehen musste, was ich gar nicht getan hatte, wenn ich nicht in einer Gefängniszelle sterben wollte.

Schließlich kochte mein Frust über. »Versucht eigentlich überhaupt jemand herauszufinden, wer es wirklich getan hat? Oder sind alle zu beschäftigt damit, ihre Spielchen vor Gericht zu planen, so wie wir?«

Donnie und Terrie sahen sich unangenehm berührt an.

»Was?«, bohrte ich nach. »Was soll denn dieser Blick schon wieder heißen?«

»Die Polizei von L.A. hat gestern etwas Beunruhigendes entdeckt«, erklärte Donnie. »Geneviève hat Sie in der Mordnacht um 1 Uhr 08 angerufen, ungefähr zwanzig Minuten, bevor sie umgebracht wurde.«

»Das hat man mir bereits mitgeteilt.«

Donnie holte eine versiegelte Tüte des LAPD aus seiner Aktentasche. Sie enthielt eine CD. »Und sie hat Ihnen eine Nachricht hinterlassen.«

»Ist das denn schlimm?«, erkundigte ich mich. Keine Antwort. Aufgeregt stand ich auf, ging einmal im Kreis, setzte mich wieder. »Deswegen kam ich also nicht mehr an meine Voicemail.«

Donnie legte die CD in seinen Laptop ein und drückte ein paar Tasten.

Die vertraute Stimme, von den Toten auferstanden, jagte mir eine Gänsehaut über den Rücken. »Ich wollte dir nur sagen, dass ich jetzt mit jemand anders zusammen bin. Ich hoffe, ich tue dir weh damit. Ich hoffe, dass du unter diesem Schmerz leidest. Ich hoffe, du fühlst dich so richtig einsam. Adieu.«

Ich brauchte einen Moment, um mich überhaupt davon zu erholen, Genevièves Stimme gehört zu haben. Mein Herzschlag hämmerte mir in den Ohren, und meine Anwälte starrten mich mit stiller Besorgnis an. Ihre Tonlage, der Akzent, die Aussprache. Hinzu kam die Irritation, dass man mit dem Abspielen dieser Nachricht einfach so in meine Intimsphäre eingedrungen war. Die Polizei hatte Genevièves letzte Worte vor mir gehört. Die Nachricht war von der Staatsanwaltschaft zurückgehalten und mir erst aus zweiter Hand zugänglich gemacht worden – wie der Rest meines Lebens – und lieferte nun den letzten Nagel für den Sarg, in dem man meine Rechte und meine Privatsphäre beerdigte.

Ich konnte mich natürlich nicht erinnern, in der Mordnacht Genevièves Nachricht gehört zu haben. Ihre Bitterkeit stand in krassem Gegensatz zu unserem Verhältnis nach der Trennung, zumindest wie ich es empfunden hatte. Aber sie war immer wieder launisch und schwierig gewesen, also erschreckte mich der Ton eigentlich nicht. Ich konnte mir unter keinen Umständen vorstellen, dass ich Geneviève deswegen hätte weh tun wollen. Aber, wie mir mit wachsender Angst bewusst wurde, diese Nachricht kam gerade recht für eine Jury, die nach den Fotos ihres geschundenen Körpers ohnehin schon voreingenommen war.

»Das spricht noch mehr für das Motiv, das man Ihnen unterstellt«, erklärte Donnie sanft. »Wir brauchen also eine ganz schlichte Version, die wir den Geschworenen gut verkaufen können. Vorübergehende geistige Unzurechnungsfähigkeit ist Ihr einziger Ausweg. Es ist sauber. Es erklärt sich von selbst. Es wird von den Fakten unterstützt. Der Gehirntumor bat es getan

Ich erwiderte seinen verzweifelten Blick.

Er fuhr fort: »Wir legen die Fakten auf den Tisch, und Sie spazieren aus diesem Gefängnis heraus. Über den Rest können Sie sich dann irgendwann in Ihrem eigenen Bett Gedanken machen.« Er studierte meinen Gesichtsausdruck und entdeckte darin etwas, was ihm nicht gefiel. »Wenn wir bei all den Umständen, die gegen uns sprechen, unsere Karten falsch ausspielen ...«

Der Gedanke ließ mich in die Fötalposition zusammensacken, meine Schultern krümmten sich nach unten, und meine Schuhe hatten sich schon fünf Zentimeter vom Boden gehoben, bevor ich die Bewegung meiner Knie Richtung Brustkorb stoppen konnte. In den Filmen ist das mit dem Gefängnis eigentlich immer dasselbe: Man geht verängstigt rein, und die anderen hänseln einen und wetten Zigaretten darauf, wie lange es dauern wird, bis man in Tränen ausbricht. Man teilt sich die Zelle mit Bubba, und er weiht einen richtig ein, und dann wird man hart, stirbt innerlich völlig ab und fängt an, einen Tauschhandel mit Schokoriegeln aufzuziehen, und dann muss man irgendeinen Typen abstechen oder seine Kumpel werden dich der Reihe nach vergewaltigen, und am Schluss wird man sowieso von ihnen vergewaltigt.

»Sie sind Krimiautor«, stellte Terry ruhig fest. »Erlauben Sie uns, Ihnen zu zeigen, wie diese Story in den Ohren der Geschworenen klingen wird. Gehen wir sie einfach noch mal zusammen durch.«

Und das taten sie auch, vom erbärmlichen Anfang an. Ich saß mit trockenem Mund auf meinem harten, kleinen Stuhl und war überwältigt von der – wie es im Fernsehen immer so schön heißt – erdrückenden Beweislast. Freilich waren mir die Fakten vorher schon bekannt gewesen, aber wenn man sie so zusammengefasst hörte, ergaben sie eine Geschichte, nämlich wie ich Geneviève ermordet hatte, und das jagte mir eiskalte Angst ein. Sowie sich meine Nerven wieder beruhigt hatten, brachte ich nur noch einen einzigen klaren Gedanken zuwege.

Ich bin am Arsch.

Mein rechtschaffenes Plädoyer würde unter dem Druck der Realität zerkrümeln. Ich hielt an meiner Unschuld fest, hatte aber nur ein Bauchgefühl zu bieten, wenig mehr.

Nichts erschien mir wichtiger als am Leben zu bleiben, frei zu bleiben. Selbst wenn ich dafür der Welt verkünden musste, dass ich ein Mörder war.

Als die beiden fertig waren, wollte ich die Antwort geben, die ich vorher schon in Gedanken eingeübt hatte, aber ich brachte kein Wort über die Lippen. Ich faltete meine Hände auf dem zerkratzten Holz, starrte sie an, und dann hörte ich mich sagen: »Ich werde mich nicht eines Mordes für schuldig bekennen, den ich meiner Meinung nach nicht begangen habe.«

Die Anwälte sahen sich an. Ihre schlimmste Befürchtung hatte sich bewahrheitet. Meine Entscheidung hatte sie genauso schockiert wie mich selbst.

»Bei allem schuldigen Respekt«, wandte Terry ein, »aber wie können Sie immer noch annehmen, dass Sie es nicht getan haben?«

»Weil ich es irgendwo in mir spüren müsste, wenn ich es getan hätte.«

Draußen auf dem Flur räusperte sich vernehmlich die Wache. Terry kratzte sich am Hinterkopf, wobei seine Fingernägel in den Haaren ein deutlich ratschendes Geräusch machten. Im Fenster war die Sonne mittlerweile ein paar Zentimeter höher gestiegen, und ich musste im grellen Licht blinzeln.

Schließlich durchbrach Donnie das gespannte Schweigen mit einem Seufzer. Er ließ den Oberkörper nach vorn fallen, schlug sich mit den Handflächen auf die Knie und stand auf.

»Ich werde nicht auf schuldig plädieren«, beharrte ich.

»Also, was machen wir jetzt?«

»Wir werden in jeder Phase so argumentieren, als hinge Ihr Leben davon ab.« Während er Papiere in seine Aktentasche stapelte, blickte er kurz auf. »Das tut es nämlich.«

Ich rollte mich in der Kälte unter meiner Decke zusammen und heftete die Augen auf die kahle Wand gegenüber. Einen Meter über dem Boden war der Zement fleckig, ein großer Klecks und darunter die Spuren, die die herablaufenden Tropfen gezogen hatten. Hier war bestimmt nichts Gutes passiert. Ich dachte an die Männer, die diese Zelle vor mir bewohnt hatten, die ihren unruhigen Schlaf geschlafen und ihre Träume geträumt hatten.

Ich war’s nicht.

Irgend so ein Arsch hat mich in die Pfanne gehauen.

Ich bin unschuldig.

Ein Wärter kam zu meiner Zelle und schob einen Umschlag durch die Gitterstäbe. »Sie haben Post.« Ich hob das Kuvert vom Boden auf. Mein Name in einer weiblichen Handschrift. Ich setzte mich wieder hin und öffnete den Umschlag. Ein in kleine Schnitzel gerissenes Blatt Papier.

Schwester nicht um

Sag mir,

Ich habe Deine

Ich fühle

wenn es irgendet

Deinen Verlust

Die Überreste meines Zettels für Adeline glitten mir aus der Hand und segelten über den Boden. Einer sprang mir besonders ins Auge. Deinen Verlust. Ich bekam gar nicht mit, wie ich langsam auf den Zementboden sackte, bis meine Wange sich plötzlich auf den kalten Beton presste. Mein Körper krümmte sich um meine Knie, und in dieser Stellung blieb ich mehr oder weniger bis zum nächsten Morgen, als man mich für den Gerichtstermin abholte.

L.A. hatte ein ganzes Jahr ohne einen Mordprozess mit prominenter Beteiligung hinter sich gebracht. Soviel ich wusste, war ich weder berühmt noch ein Mörder, aber die Kräfte des freien Marktes wirkten dergestalt, dass ich plötzlich beides war. Die eigentliche Verhandlung wurde sechzig Tage nach der zweiten Anklageerhebung eröffnet, Zeit genug für mich, abzunehmen, bleich und zottelig zu werden und auch ansonsten höchst verurteilungswürdig auszusehen.

Die Verhandlung lief erst wenige Minuten, da wusste ich schon, dass meine Verteidiger recht gehabt hatten und das Ganze in einem Desaster enden würde. Wie versprochen, rammte mich die aufstrebende Starstaatsanwältin Katherine Harriman ungespitzt in den Boden – supergestylt mit vernünftig flachen Slingbacks und in Begleitung ihres extra aus Chicago eingeflogenen Vaters, der in der ersten Reihe saß und vor Stolz glühte –, und die Geschworenen kamen bereits nach acht Verhandlungstagen und einer Stunde Beratung zu ihrem Urteil.

Ich wurde schuldig gesprochen. Die einzige Frage war, ob ich ihnen noch mit einem nicht schuldig aufgrund vorübergehender geistiger Unzurechnungsfähigkeit von der Schippe springen konnte. Während der ersten Phase, als das Gericht noch von meiner Zurechnungsfähigkeit ausging, hatte ich meinen stillen Zusammenbruch nur dadurch hinauszögern können, dass ich innerlich völlig auf Distanz zu den Geschehnissen ging. Ich lernte sehr rasch, dass ich meine Aufmerksamkeit – ebenso wie die anderen Spieler – nicht auf die Zutaten dieses Prozesses, sondern auf seinen Zuckerguss richten musste.

Und ich hatte die volle Unterstützung meiner Freunde, die zur Freude meiner Anwälte einen repräsentativen Querschnitt durch die Bevölkerung boten. Chic klopfte sich jedes Mal mit der Faust auf die Brust, wenn sich unsere Blicke trafen. Ab und zu sah Preston von irgendeinem Manuskript auf, das er gerade redigierte, und nickte mir ermutigend zu. Er hatte einen Stapel Papier, der ihn überallhin begleitete wie ein King Charles Spaniel – er steckte unter seinem Arm, lugte aus seiner Tasche, thronte auf seinem Schoß, wenn er saß. Mehr als einmal, wenn es im Gerichtssaal ganz still war, konnte ich das unverwechselbare Geräusch seines kritzelnden Stifts hören. Und April, Gott segne dieses Mädchen, war wie versprochen am Morgen aufgetaucht und hatte auf dem öffentlichen Gehweg vor dem Gerichtsgebäude den Walk of Shame hinter sich gebracht, vorbei an den geifernden Reportern. Es war glasklar, dass wir keine gemeinsame Zukunft mehr hatten, aber ich war ihr zutiefst dankbar, dass sie mir diesen letzten Dienst erwiesen hatte.

Aber mehr als alle anderen genoss Katherine Harriman die Aufmerksamkeit des Gerichts. Im Moment bearbeitete sie die Geschworenen und tat ihr Bestes, um meinen Gehirntumor zu ignorieren, den Donnie genialerweise auf den Tisch der Verteidigung plaziert hatte, wo er in seinem Glas herumschwamm. Er sah in der trüben Konservierungsflüssigkeit geradezu bedrohlich aus, wie eine noch nicht detonierte Handgranate. Ich hatte die Demütigung hingenommen, bei den einleitenden Auftritten der Verteidigung und der Staatsanwaltschaft direkt davor sitzen zu müssen. Dabei stellte ich mir den Tumor in meinem Kopf vor, wie er sich in mein Gehirn festgebissen hatte und mich nach Gutdünken befehligte wie einen Roboter. Es ist mir peinlich, es zugeben zu müssen, aber ich hatte tatsächlich Angst vor einem braunen Gewebepfropfen.

Und wie sollte ich auch nicht? Der Experte, der für mein Team aussagte, ein weißhaariger Neurologe mit würdevollem Auftreten, hatte ihn gerade als Gangliogliom des vorderen linken Schläfenlappens identifiziert. Da war von Ventrikeln und Drüsen die Rede, medizinische Fachausdrücke, die, wie ich annahm, wohl die Geschworenen einschüchtern sollten. Gangliogliom? Allein diese verdoppelte Silbe in der Mitte flößte einem ja schon Angst ein. Doch abgesehen von dem bösartigen Klang ist ein Gangliogliom für einen Hirntumor eigentlich ganz okay. Nach seiner Entfernung erfreuen sich die Patienten einer Überlebensrate von annähernd hundert Prozent und müssen dabei weder Farben riechen noch Musik schmecken. Der Schläfenlappen, so lernten wir, ist an der Verarbeitung unserer Erinnerungen beteiligt – daher also mein ungünstiger Blackout. Im Zusammenhang mit Krankheitsbildern wie dem meinen hatte man schon schizophrenieartige Psychosen, Wahnvorstellungen und episodenhaft aggressives Verhalten beobachtet.

»Und was ist dafür verantwortlich, dass diese beeindruckende Konstellation von Symptomen wirksam wird?«, unterbrach ihn Harriman, wobei sie ihr Profil den sorgfältig ausgesuchten männlichen Geschworenen drei bis sieben zuwandte.

»Natürlich muss der Tumor eine – wenn Sie den Ausdruck verzeihen wollen – eine kritische Masse erreichen, bis er sich auf wichtige Gehirnstrukturen auswirken kann«, sagte unser Neurologe. »Aber wann genau die Sache kippt? Einige wenige Tumorzellen mehr. Eine Verengung von Blutgefäßen. Da der Schläfenlappen in engem Zusammenhang mit emotionalen Reaktionen und Erregungszuständen steht, gibt es jede Menge Hinweise darauf, dass der finale geistige Zusammenbruch durch ein intensives emotionales Erlebnis ausgelöst werden kann, wenn ein Patient erst einmal so einen instabilen Zustand erreicht hat.« Der Arzt polierte seine Brille mit einem Taschentuch, auf dem sein Monogramm eingestickt war. »Obwohl wir viel über das Gehirn wissen ...«

»... gibt es immer noch viel mehr, was wir nicht wissen«, vollendete Harriman seinen Satz mit einem entgegenkommenden Lächeln.

In den sechs Monaten vor meiner Operation hatte ich natürlich durchaus des Öfteren Migräne gehabt, und zum Teil hatte ich sogar Mouches volantes gesehen. Anfangs hatte ich die üblichen Verdächtigen angenommen – Stress, Computerbildschirm, Flüssigkeitsmangel –, aber dann war ich einmal vor der Waschmaschine ohnmächtig geworden und erst nach einer Viertelstunde wieder zu mir gekommen. Mir war ein bisschen übel gewesen, und flüssiges Waschmittel war mir über die Fingerknöchel gelaufen.

»Aber stimmt es denn nicht, dass die meisten Menschen mit dieser Art Tumor die Linie zur Psychose niemals überschreiten?«

»Plötzlich auftretendes aggressives Verhalten ist nicht ungewöhnlich, vor allem ...«

»Vielleicht haben Sie meine Frage nicht gehört. Ich habe gefragt, ob es wahr ist, dass die meisten Menschen mit dieser Art Tumor niemals die Grenze zur Psychose überschreiten.«

»Statistisch gesehen.«

»Gibt es eine andere Sichtweise, die eine medizinische Frage wie die meine besser beantworten könnte?« Die gab es nicht.

»Gibt es auch nur einen einzigen medizinischen Präzedenzfall, den sie zitieren könnten, bei dem eine Person«, schlauerweise hatte sie den »Patienten« schon unter den Tisch fallen lassen, »mit einem Gangliogliom am vorderen linken Schläfenlappen einen Mord begangen hat?«

Der Arzt spitzte den Mund und verzog das Gesicht. »Nein.«

Leise atmeten Donnie, Terry und ich gleichzeitig aus. Katherine Harriman nicht. »Durchleiden die meisten Personen mit einem Gangliogliom am linken vorderen Schläfenlappen eine postoperative retrograde Amnesie?«

»Die meisten nicht, aber wenn akuter Stress hinzukommt, erleiden dreißig Prozent ...«

»Es ist also möglich, dass eine Person mit einem Tumor, wie ihn der Angeklagte hatte, bis zur Operation geistig völlig gesund ist?«

»Möglich ist vieles. Der Körper ist erstaunlich und unterläuft unsere Erwartungen ständig. Das Gehirn in noch viel höherem Maße. Und der Geist erst recht.«

»Das heißt also: ja?«

»So ist es.«

»Und ist es außerdem möglich«, fuhr Harriman fort, während sie sich zu mir drehte und mich mit ihrem allerbesten Blick durchbohrte, »dass eine sehr kluge Person, jemand, der unserem Angeklagten sehr ähnlich ist, all diese Umstände, die Sie uns hier so ausführlich erläutert haben, ausnutzen könnte, um einen kalkulierten Plan zu vertuschen?«

Meine Anwälte sprangen auf, um Einspruch zu erheben, aber Harriman blieb ganz ruhig stehen und wandte den Blick nicht von mir, während ein Lächeln um ihre Lippen spielte. Sie konnte sich hervorragend ausdrücken und geschickt mit der Lächerlichkeit spielen, die sich stellenweise in den Fakten verbarg. Ihre Ruhe raubte mir den letzten Nerv. Es gab einiges Gemurmel und Unruhe im Gerichtssaal, und der Richter nickte dem Gerichtsdiener zu, der daraufhin eine Pause verkündete.

Als wir wieder zurückgekehrt waren, ging die Attacke weiter. Unsere Zeugen. Ihre Zeugen. Das Filetiermesser hatte seinen Auftritt – es war blutbefleckt fast bis zum Ansatz der Klinge und schwang in seiner ganzen Brutalität in der durchsichtigen Tüte für Beweisstücke. Ich tat mein Bestes, um nicht zusammenzubrechen oder wütend zu reagieren. Als nächstes war Lloyd Wagner dran, ein Kriminaltechniker, der mir mehrmals seine Zeit geschenkt hatte, wenn ich fiktive Leichen produzieren musste, und der mit dem Team der Spurensicherung in Genevièves Haus gearbeitet hatte. Noch so ein verstörendes Element aus meinem früheren Leben. Wir verstanden uns gut, und er hatte mir so meisterhaft bei der Bearbeitung gewisser Handlungselemente geholfen, dass ich ihm auch schon ganze Szenen nach Hause mitgegeben hatte, damit er sie vor dem Hintergrund seines Fachwissens überarbeitete. Lloyd, der seinen altmodischen Anzug fürs Gericht trug und in der Hand das Messer aus meiner Küche hielt, nickte mir kurz entschuldigend zu, bevor er an einem Dummy die Wucht demonstrierte, mit der dem Opfer die Einstichwunde beigebracht worden war. Ich merkte, wie ich angesichts dieser Brutalität zusammenzuckte, ebenso wie die Geschworenen und die Zuschauer.

Nach Lloyds Vorführung wurde die Nachricht, die mir Geneviève in der Nacht ihres Todes hinterlassen hatte, noch einmal abgespielt, diesmal von Katherine Harrimans Laptop.

Respektvolle Stille für die Stimme der Toten. »Ich wollte dir nur sagen, dass ich jetzt mit jemand anderem zusammen bin. Ich hoffe, ich tue dir weh damit. Ich hoffe, dass du unter diesem Schmerz leidest. Ich hoffe, du fühlst dich so richtig einsam. Adieu.«

Natürlich war Geneviève mit niemand anderem zusammen gewesen, zumindest hatte sie ihren Freunden oder ihrer Familie nichts in dieser Richtung erzählt. Ihr ungeschickter Manipulationsversuch traf mich in diesem Moment nicht sonderlich, obwohl die Staatsanwaltschaft behauptete, dass er mich am dreiundzwanzigsten September durchaus getroffen hatte. Die Verteidigung stellte rein privat fest, dass diese Nachricht Geneviève unsympathischer dastehen ließ, und öffentlich, dass diese Nachricht das Fass zum Überlaufen gebracht hatte und der entstandene Druck in meinem Kopf meinem Gangliogliom seine fatale Wirkung entfalten ließ. Im Hinblick auf meine fehlende kriminelle Vergangenheit, so argumentierte Donny, war der Tumor die einzig logische Erklärung für mein Verhalten.

Am fünften Tag der Verhandlung, an dem noch von meiner Zurechnungsfähigkeit ausgegangen wurde, trat endlich Genevièves Familie in Erscheinung, was dann doch durch die Hornhaut drang, die ich entwickelt zu haben geglaubt hatte. Ihre Mutter, langgliedrig und großbrüstig, hatte ihren Hermes-Schal wie ein Requisit über ihre breiten Schultern drapiert und ihren gepflegten Gatten Luc im maßgeschneiderten Anzug untergehakt. Obwohl sie mit ihrer charakteristischen Eleganz auftraten, sah man diese gewisse Aushöhlung an ihren Wangen, eine kaum wahrnehmbare Erosion in ihrer Haltung, die ihren vernichtenden Verlust verrieten. An Lucs anderer Seite schritt Adeline, deren Gesicht so gerötet war, dass man ihre Sommersprossen nicht mehr sah. Obwohl sie mich voller Hass anstarrten, zerbröckelte mein kleines bisschen Distanz, das ich mir zum Selbstschutz aufgebaut hatte, denn sie waren so sichtlich zerstört, und Lucs Hand zitterte stark, als er beim Hinsetzen das Holz seines Stuhls berührte. Ihr Erscheinen, geschickt direkt vor meinen Auftritt im Zeugenstand gelegt, hatte genau den Effekt auf mich, den sich Harriman gewünscht hatte. Meine Kehle war wie zugeschnürt, meine Lippen zuckten, ich lehnte mich nach vorne gegen den Tisch und bedeckte mein Gesicht mit den Handflächen und rang mühsam um Fassung. Meine Reaktion wurde von den Geschworenen wahrscheinlich als Scham aufgefasst, aber es war etwas viel Schlimmeres. Hiermit war der Verlust von Geneviève endgültig – der Frau, die ich vielleicht nicht auf die klügste Art geliebt hatte, aber eben doch geliebt.

Donnie bat um eine Pause, damit ich mich für meinen Auftritt sammeln konnte, aber der Richter lehnte den Antrag ab. Mein Herz klopfte immer noch wie wild, als ich die drei kleinen Stufen in den Zeugenstand hinaufschritt und meine rechte Hand hob. Dabei konnte ich zum ersten Mal die Gesichter auf der Galerie sehen, ohne verstohlen über die Schulter gucken zu müssen. Alles hatte eine überhöhte Intensität, aber auch eine apologetische Gewöhnlichkeit. Die Reporter in ihren guten Anzügen, die Kameramänner mit ihrer Digitalausrüstung, der Gerichtsstenograph, der zu verbergen versuchte, dass er Kaugummi kaute.

Donnie befragte mich sanft und mit großem Einfühlungsvermögen. Als Harriman an der Reihe war, kam sie ganz entspannt auf mich zu. Sie hielt ein aufgeschlagenes Buch in der Hand wie ein Gesangbuch. Da sie den Schutzumschlag entfernt hatte, wusste ich nicht, was mich erwartete, bis sie anfing zu lesen: »Wir alle haben eine Exfreundin, die wir am liebsten umbringen würden. Wenn wir Glück haben, sind es zwei oder drei.«

Sie ließ das Buch zuklappen wie die Kiefer einer Schnappschildkröte, so dass die Geschworenen auf ihren Stühlen zusammenfuhren. »Glauben Sie das wirklich?«

»Nein«, sagte ich.

»Sie haben das geschrieben, stimmt’s?«

Ich bestätigte, dass dem so war.

»Sie wollen also nicht, dass wir glauben, was Sie schreiben?«

»Natürlich nicht«, erwiderte ich. Terry fing meinen Blick auf und machte eine beschwichtigende Geste mit den Handflächen, also fuhr ich in etwas liebenswürdigerem Ton fort: »Das sagt der Protagonist, Derek Chainer. Ein Autor billigt nicht unbedingt die Standpunkte, die seine Charaktere vertreten. Ich schaffe Figuren, die nicht ich sind, und – wenn ich einen guten Tag habe – hauche ihnen Leben ein.«

»Sie schreiben also Dinge, die Sie nicht glauben?«

»Ich versuche, meinen Figuren ihre eigenen Meinungen ausdrücken zu lassen.«

»Nur damit Sie ein paar Schundromane mehr in den Supermärkten absetzen?«

»Und in den Flughäfen. Genau.«

Sie lächelte. Einfach nur zwei gute Freunde, die sich ein bisschen kabbeln. »Wie steht es denn mit dieser Zeile: ›Ich glaube ganz tief drin in meinem schwarzen Herzen, dass, wenn Schicksal und Leidenschaft im richtigen Moment in der richtigen Konstellation zusammentreffen, jeder von uns – vom Prediger bis zu der alten Dame mit den bläulich getönten Haaren an der Bushaltestelle – zu einem Mord fähig ist.‹«

Sie trat nah an mich heran. »Ist das Ihre Meinung oder nur der Standpunkt einer Ihrer Figuren?«

Totenstille. In der Luft lag dieses elektrisierende Gefühl, als wäre, wie man so schön sagt, im Grunde alles auf diesen einen Punkt hinausgelaufen.

Ich antwortete: »Ich glaube, dass jeder Mensch zu allem fähig ist.«

Meine Anwälte krümmten sich auf eine Art, die unter anderen Umständen wirklich lustig hätte sein können, und Harrimans Augen leuchteten vor Aufregung richtig auf.

»Sie glauben also in diesem Moment, in dem Sie angeblich geistig völlig klar sind, dass Sie durchaus fähig sein könnten, diese unaussprechliche Tat zu verüben, derer Sie für schuldig befunden worden sind?«

»Fähig, ja«, und an dieser Stelle musste ich meine Stimme heben, um sie zu übertönen, denn sie versuchte schon wieder, mich zu unterbrechen, »und zwar genauso wie Sie.«

»Nur dass Geneviève, soviel ich weiß, eben nicht mit mir Schluss gemacht hat.« Harriman nickte, als der Richter sie zurechtwies, und hob eine Hand zu einem mea culpa.

Geschichten, so schlecht sie auch sein mögen, sind das Lebenselixier von L.A. Ich hätte wetten können, dass Katherine Harriman, wie jede andere Staatsanwältin, die mir jemals in Dolby-Surround-Abstand zu den Filmstudios begegnet war, auch schon einmal als Beraterin für ein einstündiges Fernsehdrama hinzugezogen worden war. Oder sie hatte einen Schriftsteller wie mich, der ihr hinterherlief, um sie mit seinen Fragen zu belästigen. Den Mann einer Cousine vielleicht, der ein paar Minuten am Telefon brauchte, um dem dritten Akt seines Drehbuchs den richtigen Pfiff zu verleihen. Oftmals war ich dieser Typ gewesen, der verlegen das Zeter und Mordio des Justizsystems von Angelino belauschte. Ich hatte mit Polizisten zu tun gehabt, die mittlerweile zu viele Polizisten im Fernsehen gesehen hatten, so dass sie sich schon genauso verhielten wie die Polizisten, die sie im Fernsehen gesehen hatten, die eigentlich ihre Berater, die echten Polizisten, nachahmten. Erzählung und Verbrechen – eine sich windende Schlange mit einer Geschichte im Maul. Ich war’s nicht. Ich hab mich nur um meinen eigenen Kram gekümmert, und dann ...

Wenige Stunden später, als ich gebannt Katherine Harrimans Abschlussplädoyer lauschte, dämmerte mir erst, was für eine begnadete Geschichtenerzählerin sie war. Und dies – so behauptete sie – war meine Geschichte:

In der Nacht des dreiundzwanzigsten September um 1 Uhr 08 hatte mich das Läuten des Telefons geweckt, und ich war aus dem Bett geschlüpft, während April weiterschlief. Als ich Geneviève Bertrands Nachricht auf meinem Anrufbeantworter abgehört hatte, hatten sich mein ganzer Groll und meine Bitterkeit zu einem Plan materialisiert. Ich war zu ihrem Haus gefahren, das in einem Canyon bei Cold-water lag. Ich hatte den Schlüssel unter dem Blumentopf mit dem Philodendron auf der Veranda hervorgeholt und hatte das Haus betreten. Ich war links in die Küche gegangen, wo ich mir das Filetiermesser aus dem Eichenholzblock holte. Ich war die Treppen zu Genevièves Schlafzimmer hinaufgegangen. Sie war von meinen Schritten aufgewacht und mir auf halbem Wege auf ihrem weißen Teppich entgegengekommen. Dort hatte ich ihr die Klinge durch den Solarplexus gerammt und das Messer nach oben gestoßen, an ihren Rippen vorbei und direkt ins Herz. Sie war mehr oder weniger auf der Stelle gestorben. Hinterher hatte ich ihren Körper im Morgenmantel in den Armen gehalten wie eine Katze, die mit einer verletzten Maus spielt. Als krönenden Abschluss, aus Panik über das Verbrechen, das ich gerade begangen hatte, hatte ich einen geistigen Zusammenbruch erlitten, einen komplexen Anfall, der sich bei der Ankunft der Polizei und der Notärzte zu einem Grand Mal ausgeweitet hatte. Ich war über der Leiche zusammengebrochen. Mein Anfall hatte angedauert, bis ich in der Notaufnahme des Cedars-Sinai-Krankenhauses eingetroffen war, wo man mir intravenös ein Antiepileptikum verabreicht hatte, um meine wilden Bewegungen zu dämpfen. Ein CT hatte den blinden Passagier enttarnt, der sich in den vorderen Bereichen meines Schläfenlappens eingenistet hatte, und daneben noch ein Blutgerinnsel. Man hatte mich sofort in den OP durchgewinkt, und zum Frühstück war ich wieder aufgewacht und hatte eine überwältigend passende, aber ziemlich unplausible Erklärung für mein Verbrechen.

Katherine Harriman dankte den Geschworenen für ihre Zeit und ihre Aufmerksamkeit, lächelte entwaffnend und schob dann eifrig ihre Papiere auf dem Tisch hin und her, damit sie Donnie nicht beachten musste, als er sein Abschlussplädoyer begann.

»Unser schlauer Mörder, der diesen schnöden, unerhörten Mord ersonnen, konnte also mit keinem besseren Plan als diesem aufwarten? Er ist in Genevièves Haus eingedrungen und dann ... dann was? Dann beschloss er, die Eingangstür weit offen zu lassen? Na, damit sowohl der Sicherheitsdienst als auch die Nachbarn sofort die Polizei alarmieren würden, verstehen Sie? Und dann hat er ebenso präzise den Zeitpunkt für seinen Anfall geplant. Er hielt ihn bis zum richtigen Moment zurück, verstehen Sie? Dieser Mann, ein schlauer Mann, dachte nämlich, dass sein Gangliogliom genau dort in Geneviève Bertrands Schlafzimmer den entscheidenden Millimeter anschwellen würde, um ein Grand Mal zu erleiden. Damit die Polizei ihn in dieser kompromittierenden Lage auffand und er eine Grundlage für sein Plädoyer auf geistige Unzurechnungsfähigkeit hatte – er wusste ja schon, dass es dieses Plädoyer geben würde, genauso wie er wusste, dass ein Prozess stattfinden würde. Selbstverständlich, das ist doch die logischste Vorgehensweise eines klar denkenden Menschen, finden Sie nicht auch? Tja, glücklicherweise ist sein ausgeklügelter Plan aufgegangen. Denn mich hat er definitiv reingelegt damit. In meiner Karriere bin ich in über dreißig Mordfällen vor Gericht als Verteidiger aufgetreten, und niemals – und ich meine wirklich niemals – war ich sicherer als heute, dass die geistige Zurechnungsfähigkeit meines Mandanten zum fraglichen Zeitpunkt tatsächlich eingeschränkt war.«

Während Donnie leidenschaftlich fortfuhr, fühlte ich eine Welle der Zuneigung, sogar etwas wie Liebe für diesen Mann, der für ein Honorar meinen Fall übernommen hatte und ihn ausfocht, als wäre es sein eigener. Als er bewegende fünfundvierzig Minuten später fertig war, setzte er sich quasi adrenalinsprühend wieder auf seinen Platz und schob einen Stapel Akten in den Schlund seiner Aktentasche.

Nachdem die Geschworenen den Gerichtssaal verlassen hatten, streckte ich meine Hand zu ihm aus, drückte ihm kurz den Nacken und sagte zu ihm und Terry: »Wie auch immer die Sache ausgeht, Sie sollten wissen, dass ich wirklich zu schätzen weiß, was Sie hier für mich getan haben.«

Einen Moment lang legten wir alle drei unsere Hände übereinander.

Der zweite Urteilsspruch erging drei Stunden und neunzehn Minuten später.

Blackout

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