Читать книгу Die Tote vom Chiemsee - Gretel Mayer - Страница 10
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ОглавлениеAls Fanderl und Benedikt den Seewirt verlassen wollten, trafen sie an der geöffneten Tür mit einem wahrlich aufsehenerregenden Paar zusammen. Die eintretende Dame war groß und stattlich, sie trug einen wallenden schwarzen Nerzmantel und einen ebenso schwarzen Hut mit Federn. Der Spitzenschleier vor ihrem Gesicht war auf so raffinierte Weise durchsichtig, dass man die stark geschminkten Züge darunter ziemlich genau wahrnehmen konnte. Unter dem Hut und seitlich des Schleiers quollen blondierte Locken hervor. Ihr folgte ein Mann mit schwarzer Pelerine und einem schwarzen Filzhut, er war wesentlich schmaler als die Dame und auch um einiges kleiner. Benedikt war sofort klar, wen er da vor sich hatte: das legendäre und skandalumwitterte Schauspielerehepaar Siegfried und Henriette von Prielmayer, die Eltern der toten Flora.
Durch Fini Pichler, die Sekretärin des Kommissariats, die eine begeisterte Theatergängerin und stets bestens über das Leben der Schauspieler informiert war, wusste Benedikt von Lindgruber so einiges über das Paar. Zum Beispiel war niemandem so recht klar, wie das »von« vor den urbayerischen Namen Prielmayer gelangt war. Manche behaupteten, der Prielmayer habe sich den Adelstitel einfach selbst verliehen, er stamme ganz schlicht aus der bekannten Metzgerfamilie Prielmayer, die in München mehrere Geschäfte hatte. Andere meinten, er sei der uneheliche Sohn einer Fanny Prielmayer, einer mittelmäßigen Varieté-Tänzerin, und sein Vater der Sänger Gerofried Liebsam vom Gärtnerplatztheater, der es nie in die erste Besetzung geschafft hatte.
Jedenfalls war Siegfried von Prielmayer als sehr junger Mann wie Phönix aus der Asche in den Besetzungslisten des Münchner Schauspielhauses aufgetaucht und hatte in kürzester Zeit die Herzen des Publikums erobert, vor allem natürlich die der Frauen. Mit dichtem schwarzen Haar, glutvollen dunklen Augen und einem äußerst fein geschnittenen Gesicht war er eine eindrucksvolle Erscheinung. Seine eher helle Stimme war weich und flirrend, konnte aber, wenn die Rolle es verlangte, durchaus an Kraft und Stärke gewinnen. Der einzige Makel Prielmayers war, dass er nicht sehr groß gewachsen war. Er trug deshalb immer Schuhe mit erhöhten Absätzen und sehr lange Hosen, die diese verbargen.
Natürlich war der junge Schauspieler, der von Beginn an eine Rolle nach der anderen spielte, kein Kostverächter, und so reihte sich, bis er Henriette Rottmann kennenlernte, Affäre an Affäre. Das sollte nicht heißen, dass sich die beiden dann in ihrem Zusammenleben besonders treu gewesen wären, nein, alle zwei gingen des Öfteren »ganz schön nebennaus«, was zwangsläufig zu familiären Szenen führte, die absoluten Bühnencharakter hatten.
Siegfried von Prielmayer und Henriette Rottmann hatten sich bei einer privaten Faschingsfeier kennengelernt, zu der Henriette, im Haar eine wilde Federkombination, in einem fleischfarbenen Trikot erschienen war, das nichts, aber auch gar nichts von ihren üppigen weiblichen Formen verbarg, und Siegfried war ihr auf der Stelle verfallen. Die junge Frau war nach dem Besuch so einiger Internate wieder nach München zurückgekommen und hatte sich in den Kopf gesetzt, Schauspielerin zu werden. Allerdings war sie zweimal durch die Aufnahmeprüfung der Schauspielschule gefallen, und auch dem privaten Schauspiellehrer Gero Hauptmann, den sie jahrelang konsultierte, war es nicht gelungen, ihr sonderlich viel schauspielerisches Können beizubringen.
Möglicherweise wäre die Liaison zwischen Siegfried und Henriette von gar nicht so langer Dauer gewesen, hätten nicht beide über einen messerscharfen, berechnenden Verstand verfügt. Henriette erkannte, dass ihr der gefeierte Jungschauspieler den Weg auf die ersehnte Bühne bereiten konnte, und für Siegfried sollte es durch die Verbindung mit der wohlhabenden Bürgerstochter endlich vorbei sein mit Geldknappheit und Schulden. So wurde eine selbstverständlich rauschende Hochzeit gefeiert, und bald stand natürlich auch Henriette auf den Brettern, die die Welt bedeuten, allerdings zu ihrer Empörung nur in den kleinsten und unbedeutendsten Rollen.
Ihre ständigen Beschwerden und Auftritte beim Intendanten brachten große Unruhe in die Truppe, und so waren alle mehr als erleichtert, als sie verkündete, dass sie guter Hoffnung sei und sich deshalb für einige Zeit von der Bühne zurückziehen werde. Nach einer komplizierten Schwangerschaft, bei der Henriette unnatürlich viel Gewicht zulegte, wurde die hübsche kleine Flora geboren. Nach zwei Jahren kehrte Henriette mit einer deutlich üppigeren Figur auf die Bühne zurück und fand sich schließlich damit ab, Frauen mittleren Alters und sogenannte Matronenrollen zu verkörpern.
Neben der Schauspielerei beteiligte sie sich lebhaft am gesellschaftlichen Leben der Stadt, und da ihr Mann mittlerweile schlanke, sehr junge Damen bevorzugte, nahm sie sich ebenfalls einen Liebhaber nach dem anderen. Die kleine Flora, die mehr oder weniger von der Haushälterin aufgezogen wurde, sah diesem Treiben mit erstaunten Kinderaugen zu.
Fanderl, dem inzwischen auch klar geworden war, wen er da vor sich hatte, trat auf die beiden schwarzen Gestalten zu.
»Wenn Sie gestatten«, sagte er und deutete einen leichten Diener an, »Wachtmeister Gustav Fanderl. Ich bin mit den Ermittlungen zum Tode Ihrer Tochter Flora befasst. Das ist mein Kollege, Polizeioberkommissär Benedikt von Lindgruber aus München, ebenfalls in dieser Angelegenheit ermittelnd tätig. Unser tief empfundenes Beileid.«
Die schwarz gekleidete Dame schluchzte etwas theatralisch auf, taumelte, und Fanderl fürchtete einen Moment lang, sie würde Benedikt in die Arme sinken. Doch sie klammerte sich dann doch an ihren Mann, der aufrecht und steif dastand und keine Anstalten machte, sie zu stützen oder gar den Arm um sie zu legen. So geleiteten die beiden Ermittler das dunkle Paar zu ihrem Tisch und orderten beim Wirt noch einmal Kaffee.
»Und einen Cognac, bitte«, rief die Dame hinterher.
Da ihr Mann sich sofort gesetzt hatte und apathisch vor sich hin starrte, half Benedikt ihr aus dem Mantel. Sie schlug den Schleier mit einer gekonnten Handbewegung zurück, und Benedikt fiel auf, dass ihre auf aparte Art schwarz umrandeten Augen keine Spur von in den letzten Stunden geweinten Tränen zeigten. Fanderl wiederum stachen die vollen, dunkelrot geschminkten Lippen Henriette von Prielmayers ins Auge, und er fragte sich, wie man in einer derartigen Lebenssituation noch so viel Wert auf sein Aussehen legen konnte.
Siegfried von Prielmayer sah im Gegensatz zu seiner Frau wesentlich erschütterter aus. Sein schon von Natur aus blasses Gesicht war erschreckend bleich, und er hatte dunkle Ringe unter den Augen. Seine Augen blickten starr und stechend, und Benedikt fragte sich, ob er vielleicht etwas eingenommen hatte. Während seine Frau ihr Cognacglas leerte, ergriff von Prielmayer mit seiner hellen, klaren Bühnenstimme das Wort.
»Wir waren schon auf der Insel bei meiner Schwägerin. Sie hat das Kind nicht beschützt und so der Welt eine außerordentlich vielversprechende junge Schauspielerin genommen!«
Henriette von Prielmayer schluchzte in der gleichen theatralischen Weise wie zuvor und betupfte ihre Augen mit einem Spitzentüchlein.
Dann bat von Prielmayer: »Ich will sie jetzt sehen, meine liebe Flora«, und nun zitterte seine Stimme doch ein wenig.
Seine Frau starrte ihn an, als hätte er einen absolut unanständigen Wunsch geäußert, besann sich dann aber wieder auf ihre Rolle und schluchzte erneut auf.
Nun wandte sich Benedikt an beide zugleich: »Dürfen wir Ihnen, bevor wir Sie nach Rosenheim bringen, noch ein paar Fragen stellen?«
Von Prielmayer erhob sich, als wollte er einen Monolog halten. »Jetzt, jetzt wollen Sie uns befragen? Jetzt, in unserer unermesslichen Trauer, und noch bevor wir von unserem Kinde Abschied genommen haben?« Er erhob seine Stimme, die nun dunkler und getragener klang, so als hätte er die Rolle gewechselt. »Machen Sie sich lieber auf die Suche nach dem Mörder, der offenbar noch frei hier in der Gegend umherläuft, und lassen Sie uns in unserer tiefen Trauer allein.«
Und wieder, wie auf ein Stichwort hin, schluchzte Frau von Prielmayer auf.
Fanderl, der sich bis jetzt pietätvoll beherrscht hatte, ging diese gekünstelte Schluchzerei allmählich gehörig auf die Nerven. Mit seiner gestrengen Polizistenstimme, die er mittlerweile recht gut beherrschte, wandte er sich an das Paar: »Dann müssen wir Sie leider zu einer offiziellen Befragung einbestellen.«
»Tun Sie, was Sie nicht lassen können, meine Herren Wachtmeister«, antwortete von Prielmayer herablassend. »Würden Sie uns nun bitte eine Droschke rufen, die uns nach Rosenheim bringt.«
Normalerweise hätten Fanderl oder von Lindgruber trauernde Angehörige selbst zur Gerichtlichen Medizin gefahren, doch in diesem Fall sahen sie keine Veranlassung dazu. So endete der Auftritt der beiden mit einem weiteren Schluchzen von Frau von Prielmayer und einem stechenden Blick des Herrn von Prielmayer. Auf die Idee, ihren Kaffee und den Cognac zu bezahlen, kamen beide nicht.
Fanderl ließ sich auf seinen Stuhl fallen und trank den inzwischen schon kalt gewordenen Kaffee aus.
»Da können wir uns auf was gefasst machen, mit dene zwei«, stöhnte er.
Benedikt nickte. »Aber wir lassen nicht locker. Ich denke, dass es das Beste ist, wenn wir sie in München in ihrer gewohnten Umgebung aufsuchen. Wir müssen eh das genauere Umfeld der Toten dort in Augenschein nehmen.«
Währenddessen saß Franzi, obwohl Berta ihr eigens Kipferl mit hausgemachter Himbeermarmelade hingestellt hatte, missmutig am Frühstückstisch. Die halbe Nacht hatte Benedikt versucht, ihr klarzumachen, dass er seinen Freund Fanderl nicht im Stich lassen könne, Flitterwochen hin oder her. Franzi hatte zwar weiterhin gewettert und geschimpft, doch in ihrem Innersten konnte sie ihren Ehemann schon verstehen.
Was die zeitweilige Versetzung nach Rosenheim betraf, so sei da sicher noch nicht das letzte Wort gesprochen und er werde vehement dagegen protestieren, hatte Benedikt ihr versprochen. Doch zwischen den Zeilen hatte Franzi schon bemerkt, dass er keine sonderlich großen Hoffnungen hatte, gegen Paschke anzukommen, und dass er womöglich sogar erleichtert war, ein wenig aus dem Gesichtsfeld des fanatischen Nationalsozialisten zu rücken.
Doch wie sollte das gehen? Sie, Franzi, in München, er, Benedikt, in Rosenheim? Und das Kind? Ihr Hutatelier würde sie jedenfalls auf keinen Fall aufgeben.
Franzi biss nun doch mit Appetit in ihr Kipferl und nahm sich vor, sich durch diese neuen Umstände die Laune nicht verderben zu lassen. Sie musste sich einfach etwas einfallen lassen für die nächsten Tage, und sie beschloss, an diesem Nachmittag Gustav Fanderls Frau Therese einen Besuch abzustatten. Sie mochte Therese, die um einiges jünger war als sie und aus einfachen Verhältnissen stammte, sehr gern, denn sie war immer fröhlich und herzlich und hatte einen äußerst gesunden Menschenverstand.
Therese Fanderl freute sich sehr über Franzis Besuch. Sie saßen in der guten Stube, tranken Holundersaft und unterhielten sich über die beschwerlichen ersten Monate der Schwangerschaft, über den schwierigen Beruf ihrer Männer und natürlich auch über das so außergewöhnliche Wetter, das in den letzten Tagen den frühherbstlichen Chiemgau zur Winterlandschaft gemacht hatte. Mittlerweile schien jedoch immer mal wieder die Sonne, es war um etliche Grade wärmer geworden, und der Schnee war vollkommen weggetaut. Während der See fast sommerlich blau blitzte, waren die Berge noch bis fast ins Tal mit Schnee bedeckt. Überall tropfte und plätscherte es, und die dunkelroten Geranien an den Fenstern des Fanderlhauses, die vom Schnee nahezu erdrückt worden waren, zeigten nun doch wieder Leben und reckten ihre Blüten der Sonne entgegen.
Während sich beiden Frauen unterhielten, rannte der kleine Korbinian unermüdlich durch die Stube und schob ein kleines Polizeiauto vor sich her.
»Ja, der kommt ganz nach seim Vater«, meinte Therese lachend.
Gerade als Franzi sich verabschieden wollte, betrat Thereses Schwiegermutter die Stube. Sie war in Begleitung einer alten Bäuerin in Chiemgauer Tracht, die eine große schwarze Hutschachtel trug. Franzi war beim Anblick der Hutschachtel natürlich wie elektrisiert, konnte ihre Neugier nicht zügeln und fragte nach dem Inhalt.
»Do is der Priener Hut von der Agnes drin, i hab’n ihr wieder hergricht«, erklärte die alte Frau.
»Die Agnes« war Fanderls Mutter und die Bauersfrau die Fanny Müller aus Traunstein. Die Fanny öffnete nun die Hutschachtel und legte den Hut auf den Tisch. Solche Kopfbedeckungen hatte Franzi schon mehrfach bei den Chiemgauerinnen gesehen, vor allem an Sonn- und Festtagen, aber sie hatte ihnen nie große Beachtung geschenkt. Jetzt aber war sie fasziniert. Vor ihr lag ein Hut aus schwarzem Filz – »aus Hasenhaar«, wie die Fanny erläuterte –, mit goldenen Borten um den Kumpf und zwei handgestickten goldenen Quasten – »Können aber auch vier sein«, erklärte die Fanny weiter. Der Hut war nicht sehr hoch und hatte eine nicht sonderlich breite Krempe, deren Unterseite ebenfalls mit feiner Goldstickerei versehen war. An beiden Seiten des Hutes waren lange Samtbänder befestigt, die »Hint-obi-Bänder«, die im Nacken mit einem Haken befestigt wurden und bis zum Trachtenrock hinabreichten.
»Guat hast’n wieder hergricht«, lobte die Agnes. »Sie müssen wissen, Frau von Lindgruber, dass der Hut schon seit vier Generationen in unserer Familie ist. Was der schon alles mitgmacht hat! Und die Fanny, müssen S’ wissen, ist die Großnichte von der Huaterer-Nanni. Die Huaterer-Nanni aus Prien hat den Hut nämlich erfunden. Zuerst war’s a Strohhut, mit dem hat sie in Berlin a Medaille errungen; erst später sind dann der Hasenfilz, die goldenen Borten, die Quasten und die Goldstickerei dazugekommen. Die Chiemgauerinnen tragen den Hut seit Anfang des Jahrhunderts, und nachdem die Weiberleut seit 1920 auch in den Trachtenvereinen dabei sein dürfen, ist er sehr bekannt geworden. Sie sollten sich mal den Hut von der Luise Riedinger anschaun. Die hat im Dorf den schönsten!«
Franzis Begeisterung und Tatendrang waren geweckt. Ihr spukten bereits so einige Ideen durch den Kopf: Man könnte doch zum Beispiel die Hüte der Stadtfrauen mit Accessoires des Priener Hutes kombinieren, ohne dass gleich ein richtiger Trachtenhut dabei herauskommen müsste. Es wurde vereinbart, dass die Luise Riedinger mit ihrem Hut in den nächsten Tagen bei Franzi vorbeischauen sollte, Therese würde ihr Bescheid geben.
Auf dem Nachhauseweg fühlte Franzi sich richtig beschwingt. All ihre Sorgen waren mit einem Mal wesentlich kleiner geworden.