Читать книгу Die Tote vom Chiemsee - Gretel Mayer - Страница 8

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»Das glaubst du nicht, Benni, es schneit, und das im September!«, rief Franzi erstaunt, nachdem sie die Vorhänge aufgezogen hatte.

»Die Bäum, die Bänk, der ganze Park, alles weiß!«

Benedikt trat hinter sie, legte die Arme zärtlich um ihren Leib und meinte, schon eine kleine Wölbung ihres Bauches wahrnehmen zu können. »Dann ist es doch das Beste, wenn wir im Bett bleiben und da frühstücken«, schlug er vor.

Seit fünf Tagen wohnten sie nun im Anwesen der von Lindgrubers, nicht weit vom Chiemsee entfernt. Benedikts Vater, damals noch einer der wohlhabendsten Männer Bayerns, hatte das Haus Ende des letzten Jahrhunderts als Sommersitz für die Familie erbauen lassen. Äußerst repräsentativ und großzügig, mit einer Vielzahl von Räumen, Stallungen für die geliebten Pferde und einem gesonderten kleinen Haus für Stallmeister, Gärtner und sonstige Bedienstete, lag es inmitten eines weitläufigen Parks, der dem Englischen Garten in München nachempfunden war.

Als Kind und Jugendlicher hatte Benedikt nahezu jeden Sommer und zuweilen auch die Weihnachtstage hier verbracht. Er hatte ausschließlich schöne Erinnerungen an diese Zeiten. Die zu Gemütsleiden neigende Mutter war auf dem Lande immer aufgelebt, er hatte noch immer ihr unbeschwertes Lachen im Ohr. Auch der Vater hatte sich Zeit für die Kinder genommen, mit ihnen im Park gespielt oder sie auf seine Ausritte mitgenommen.

Natürlich hätten Franzi und Benedikt wie andere Flitterpaare auch nach Venedig oder Paris fahren können, doch nach den anstrengenden Hochzeitsvorbereitungen, der großen Feier und vor allem in Anbetracht von Franzis noch früher Schwangerschaft hatten sie sich für die Stille und den Rückzug entschieden. Die alte Berta, die seit Jahrzehnten im Dienst der von Lindgrubers stand, war darüber hocherfreut gewesen.

»Der Herr Benedikt als Flitterwöchner! Dass ich das noch erleben darf«, hatte sie gejubelt und sofort alle notwendigen Vorbereitungen getroffen. Der Salon, die Bibliothek und natürlich das große Schlafzimmer wurden hergerichtet, und zur Begrüßung hatte sie das Geländer der großen Freitreppe mit einer Girlande aus Efeu und den letzten Sommerrosen geschmückt. Sie hatte eine lange Liste der Lieblingsspeisen des Herrn Benedikt zusammengestellt und ihre Vorräte so ergänzt, dass sie jederzeit auf Wunsch eine davon zaubern konnte.

»Kaiserschmarrn hat er immer so gern gegessen, aber auch Semmelknödel mit Schwammerl und a Suppenfleisch mit Gemüs und Salzkartoffeln!«

So kam es, dass der junge Herr Benedikt all den Speisen, die ihm die gute Berta zubereitete, mit großem Genuss zusprach, doch die junge Frau Franziska – sie war ja schon eine ganz Liebe – aß so gut wie gar nichts! Blass saß sie immer beim Frühstück und ließ die frischen Kaisersemmerl und Hörndl liegen.

»Da is was Kloans unterwegs, wenn ma die Esserei von der jungen Frau anschaut. A bisserl rund um d’Hüftn is a scho«, spekulierte die alte Berta.

Benedikt schlüpfte wieder unter seine Bettdecke und zog Franzi liebevoll an sich. Freilich war so ein extremer Wettereinbruch zu dieser Jahreszeit unangenehm, und ihr geplanter Ausflug nach Prien konnte nun nicht stattfinden, doch eigentlich war er nicht unglücklich darüber. Er fand es schön, einfach faul im Bett zu liegen und die Gedanken schweifen zu lassen. Noch einmal stand er mit Franzi vor dem Altar der Theatinerkirche und sagte aus vollem Herzen Ja zu dieser strahlenden Braut, die zu dem äußerst schlichten Brautkleid statt eines Schleiers eine extravagante Seidenkappe mit Federbesatz trug. Noch einmal trat er mit ihr hinaus auf den Odeonsplatz, wo Familie, Freunde, Bekannte und Kollegen lärmend bunte Blüten warfen.

Schade, dass sein Vater, dem er in den letzten Jahren wieder nähergekommen war, das nicht mehr erleben durfte; er war vor einem guten Jahr verstorben. Jahrelang hatte er keinen Kontakt mehr zu ihm gehabt, da der alte Herr es nicht hatte verstehen wollen, dass Benedikt sein Jurastudium, das ihm so viele Türen geöffnet hätte, abgebrochen hatte und zur Polizei gegangen war. Auch die Heiratspläne, die sein Vater für ihn geschmiedet hatte, hatte Benedikt verworfen, und so war es zum endgültigen Bruch gekommen.

Noch einmal dachte Benedikt an den Faschingsball, auf dem er seine Franzi kennengelernt hatte, und an die erste Liebesnacht in ihrem Hutatelier, das mittlerweile zu einem der führenden Münchens gehörte. Er war stolz auf seine Frau, obwohl es ihm manchmal schwergefallen war, die Heirat und den Kinderwunsch wegen ihrer geliebten Hutmacherei immer wieder aufzuschieben. Nun aber waren sie an ihrem Ziel angekommen, doch ob er nun wollte oder nicht, mischten sich sofort sorgenvolle Gedanken in die freudigen. Dringend benötigten sie eine größere Wohnung, die vielleicht gleichzeitig Wohnraum und Hutatelier unter einem Dach sein konnte. Würde es Franzi gelingen, Kind und Hüte »unter einen Hut« zu bringen? Sollten sie eine Haushaltshilfe einstellen? Was würde das alles kosten?

Zu diesen schon nicht sehr ersprießlichen Gedanken gesellten sich noch weit sorgenvollere. Seine berufliche Zukunft stand nämlich auf wackligen Füßen. Vor einem Jahr war sein Chef Schulze-Kaiser ganz plötzlich verstorben, und alle im Amt hatten erwartet, dass der altgediente, erfahrene Kollege Sieberer auf den Chefsessel nachrücken würde. Doch es kam anders.

An einem grauen Montagmorgen bat der Polizeipräsident die gesamte Abteilung zu sich und stellte ihnen den neuen Vorgesetzten vor, Herbert Paschke aus Berlin. Akkurat gescheiteltes Haar, tief liegende stechende Augen, Schmiss auf der Wange und glänzendes Parteiabzeichen am Revers. In kürzester Zeit wurde allen klar, dass für Paschke nur eines zählte: unbedingter Gehorsam, keinerlei Eigeninitiative und Hitlergruß zu jeder Gelegenheit. Die strammen Parteimitglieder unter den Kollegen, und das waren inzwischen nicht wenige, waren sehr angetan von diesem neuen Vorgesetzten; die übrigen, zu denen Benedikt und sein Kollege Otterer gehörten, gerieten immer mehr ins Abseits. Benedikt war schon mehrfach nahegelegt worden, in die Partei einzutreten, doch er hatte es bis jetzt immer irgendwie vermeiden können. Sein Kollege Otterer, ein überzeugter Sozialdemokrat, wurde, wie auch Benedikt, immer öfter bei wichtigen Entscheidungen nicht mehr miteinbezogen und bei Beförderungen übergangen. Seit Juli bestand der gesamte Münchner Stadtrat aus Nationalsozialisten, und nun waren auch alle anderen Ämter und Institutionen bestrebt, nur mehr Parteimitglieder in ihren Reihen zu haben. Otterer wurde offen mit Entlassung gedroht, und nur der Umstand, dass er ohnehin in einem halben Jahr in Rente gehen würde, war wohl seine Rettung. Benedikt war klar, dass er, um seiner kleinen Familie weiter Sicherheit bieten zu können, nicht am Parteieintritt vorbeikam.

»Ich könnt jetzt gut ein Kaisersemmerl mit Marmelade und einen Kaffee vertragen. Ich glaub, die schlimmste Übelkeit hab ich überwunden«, murmelte Franzi schlaftrunken an seiner Schulter und riss Benedikt aus seinen trüben Gedanken. Er küsste ihr zerstrubbeltes Lockenhaar und sprang aus dem Bett.

»Ich sag gleich der Berta Bescheid!«

So verbrachten sie den Tag faulenzend, lesend und vor sich hin dösend; nur die alte Berta rief zwischendurch streng zum Mittagessen und Kaffeetrinken.

Bis zum Nachmittag schneite es weiter, dann wurde es plötzlich heller, die Sonne schien durch die verbliebenen tiefgrauen Wolken, und fast augenblicklich begann es zu tauen, obwohl es schon auf den Abend zuging. Die hohen alten Bäume und der Rasen des Parks glitzerten im Sonnenschein, und klar und überdeutlich konnte man die Berge ausmachen, die noch fast bis in die Täler von Schnee bedeckt waren.

Gerade als sie mit dem Abendessen beginnen wollten, klingelte das Telefon.

»Das Polizeipräsidium aus München. Ein gewisser Herr Paschke!«, rief Berta. Sie bedeckte die Sprechmuschel mit der Hand und flüsterte: »Der hört sich an wie der Führer persönlich.«

Benedikt spürte, wie ihm der Schweiß ausbrach, als er zum Telefon ging, und auch Franzi war blass geworden.

»Lindgruber«, meldete sich Benedikt. »Ja … Wie? … Morgen? … Sie wissen schon, dass … Ja, ich verstehe … Was, nicht nur für diesen Fall? … Überhaupt … Darüber wird noch zu reden sein … so über meinen Kopf hinweg … Guten Abend.«

Kein »Heil Hitler«, wohlgemerkt!

Benedikt setzte sich wieder an den Abendbrottisch und schob seinen Teller mit Wurstsalat von sich.

»Um Gottes willen, Benedikt, red schon!«, rief Franzi.

»Der Fanderl hat einen Mord oder Totschlag, und der Paschke hat mich als Ermittler abgestellt. Das allein ist ja schon eine Unverschämtheit, der weiß genau, dass wir in Flitterwochen sind. Aber die Höhe ist, dass er mich für unbestimmte Zeit nach Rosenheim ausleihen will, Personalprobleme und so weiter und so fort. Der will mich loshaben, dieses Arschloch!«

Benedikt fluchte selten, aber nun musste es sein, und er belegte den Paschke mit noch so einigen nicht stubenreinen Schimpfnamen.

Mit zornrotem Kopf schob Franzi ihren Teller scheppernd beiseite.

»Das ist das Allerletzte!«, rief sie wutentbrannt. »Und das lässt du mit dir machen? Aber ich hätt’s ja wissen müssen. Als Polizistenfrau is man immer die Ausgschmierte. Aber dass es jetzt schon in die Flitterwochen damit losgeht!«

Und sie sprang auf und verließ wutentbrannt und türknallend die Küche.

Benedikt stützte den Kopf in die Hände und versuchte, ein paar klare Gedanken zu fassen. Da wurde draußen der Türklopfer betätigt.

Benedikt öffnete, und draußen stand verlegen und zerknirscht der Fanderl.

»Mei, Benni, hast es schon erfahren? Des tut mir so leid«, stammelte er. »Des wollt ich fei ned!«

»Das ist mir schon klar, dass du da nichts dafür kannst«, erwiderte Benedikt. »Das haben die Herren Dreissiger und Paschke miteinander ausgeheckt.«

Fanderl ließ sich auf einen Stuhl fallen und berichtete: »Ich komm grad aus der Gerichtlichen Medizin. Wären da nicht die Verletzungen, die ganzen Sezierschnitte und der Geruch … Sie lag da wie eine perfekte Marmorstatue, ein wunderschönes junges Mädchen. Totschlag durch Gewalteinwirkung, vermutlich ein Stein. Kopf und Gehirn rechts deutlich eingedrückt, kein Wasser in der Lunge, also nicht ertrunken … Und sie war noch Jungfrau!«

Er sackte ein wenig auf seinem Stuhl zusammen und stützte den Kopf in die Hände.

Benedikt ging zur Anrichte und schenkte zwei volle Stamperl Enzian ein. Fanderl, der sonst eigentlich dem Alkohol nur sehr bescheiden zusprach, kippte sein Glas auf einen Zug. Benedikt tat es ihm nach, und Fanderl berichtete ihm von Flora, vom Kloster, der Äbtissin und den Novizinnen und natürlich auch, warum sich Flora von Prielmayer im Kloster aufgehalten hatte.

»Die von Prielmayers, das Schauspielerehepaar Münchens. Weit über die Stadt hinaus bekannt, skandalumwittert … hast du von denen noch nie gehört?«, fragte Benedikt erstaunt.

Fanderl schüttelte den Kopf. »Du woast as doch, i bin a Landei!«

Die Tote vom Chiemsee

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