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ОглавлениеFanderl hatte bislang nur in Erfahrung bringen können, dass es sich bei der Toten um eine Flora von Prielmayer aus München handelte, und so hatte er den Kollegen in München diesen Namen durchgegeben mit der Bitte, Angehörige ausfindig zu machen und sie gegebenenfalls zu informieren. Da die Ergebnisse der Gerichtlichen Medizin sicher erst am späten Nachmittag oder am nächsten Morgen vorliegen würden, beschloss Fanderl, zunächst hinüber auf die Fraueninsel zu fahren.
Seit einem Jahr besaß seine Dienststelle ein eigenes kleines Motorboot für Dienstfahrten. Normalerweise machte es ihm großen Spaß, damit auf dem See herumzukurven, doch bei dieser schrecklichen Witterung war es alles andere als ein Vergnügen. Der Schnee peitschte fast senkrecht gegen die Frontscheibe, und das Boot tanzte wie eine kleine Nussschale auf dem stürmischen See. So war Fanderl froh, in der Ferne ein kleines, hin und her schwankendes Licht auszumachen; offensichtlich stand am kleinen Dampfersteg der Insel jemand und erwartete ihn.
Als er knirschend am Steg angelegt hatte und das Schiffchen fest vertäute, kam ihm eine kleine schwarze Gestalt entgegen, die etwa so breit wie hoch war und mit einer Sturmlaterne winkte. Beim Näherkommen erkannte er die alte Schwester Kreszentia, die dienstälteste Schwester des Klosters, die wohl bald die neunzig erreichte.
»I hob mir denkt, i hol di ab, Bua«, sagte Kreszentia. »Alle andern im Kloster drobn sind ja furchtbar durcheinander! Es is ja auch ein Jammer, des junge, unschuldige Madl!«
Für Schwester Kreszentia war Fanderl immer noch »der Bua«, sie kannte ihn von klein auf und hatte ihn in der Volksschule das Schönschreiben gelehrt. Fanderl fand es etwas rücksichtslos von den anderen Schwestern, ausgerechnet die Älteste, die wahrlich nicht mehr sehr gut zu Fuß war, in dieses Wetter hinauszuschicken, doch als er mit Kreszentia das Kloster betrat, sah er sofort, dass sie wohl die Einzige war, die einigermaßen Ruhe bewahrt hatte. Einige Schwestern saßen weinend um einen Tisch, andere beteten in einer Ecke mit hohen klagenden Stimmen den Rosenkranz, der stets mit dem Zusatz »Herr, sei ihrer Seele gnädig« endete. In einer anderen Ecke des Raumes kauerten schluchzend die beiden Novizinnen. Jedoch nirgendwo in diesem Klageraum konnte Fanderl die Äbtissin des Klosters, Klara Rottmann, ausmachen.
»Sie hat sich zum Gebet in ihre Räume zurückgezogen«, erklärte ihm Kreszentia, und Fanderl glaubte, etwas Missgunst in ihrer Stimme wahrzunehmen.
»Ich muss aber schon mit ihr sprechen«, insistierte er mit strenger Polizistenstimme.
»Mei, Bua, dann schau mer mal«, meinte Kreszentia. »Frag doch zuerst mal mich und alle anderen, bis sie sich vielleicht beruhigt hat.«
Also zog sich Fanderl mit der alten Kreszentia in die warme Klosterküche zurück, wo sie ihm ein Stück Hefezopf mit Butter und einen Kaffee kredenzte.
Er erfuhr, dass Flora von Prielmayer die Tochter des Münchner Schauspielerehepaars von Prielmayer und zugleich die Nichte der Äbtissin war. Henriette von Prielmayer und Klara Rottmann waren Schwestern. Soweit Kreszentia wusste, war Flora vor den stark übertriebenen Bestrebungen ihres Vaters, aus ihr eine gefeierte Jungschauspielerin zu machen, in die Ruhe und Abgeschiedenheit des Klosters geflohen.
»A ganz a Liebe war sie, die Flora, recht lustig und immer das Herz auf der Zunge«, berichtete Kreszentia. »Aber man hat schon gmerkt, dass sie was umtreibt. Die Tante hat ihr mehr Freilauf lassn wie unseren zwei Novizinnen. Fast jeden Tag ist sie nübergfahrn in den Ort, zum Einkaufen, zur Post und … nix Gwieß woas i ja ned … aber sie hat, glaub ich, dort a kloans Gschpusi ghabt. Da musst amoi beim Seewirt schaun, mehr woas i ned.«
Fanderl hatte sich alles genau in seinem abgewetzten schwarzen Büchlein notiert, mit Appetit den Zopf gegessen und seinen Kaffee ausgetrunken. Nun dankte er der alten Kreszentia und machte sich auf, um der Äbtissin seinen Besuch abzustatten.
»A richtiger Mo bist worden, Bua«, sagte Kreszentia zum Abschied. »Nimmer so a Grischperl wie früher. Mit der Uniform und dem Bart schaust richtig guat aus.«
Währenddessen kauerte die Äbtissin Klara in ihrer Stube vor dem Kruzifix und bemühte sich, ihren Herrn zu erreichen. Doch sosehr sie auch die Augen zu ihm erhob, er blickte streng über sie hinweg und wollte ihre Klagen und Gebete nicht hören. Sie hatte versagt, schrecklich versagt, und der Aufschrei ihrer Schwester Henriette in München, die sie natürlich am frühen Morgen von dem Geschehen unterrichtet hatte, gellte ihr noch in den Ohren. Wenn sie aber ganz ehrlich zu sich selbst war, so musste sie sich eingestehen, dass ihr der dem Aufschrei folgende theatralische und absolut bühnenreife Ausbruch ihrer Schwester unangenehm gewesen war.
Plötzlich verzogen sich draußen einige der dunklen Schneewolken und ließen für kurze Zeit das Sonnenlicht in den Raum. Auch das Kruzifix war nun in helleres Licht getaucht, und das Antlitz des Gekreuzigten erschien ihr freundlicher und sanfter. Die Äbtissin erhob sich von ihrem Betschemel, straffte die Schultern, setzte ihre Brille auf und nahm hinter dem Schreibtisch Platz.
Es klopfte, Schwester Kreszentia spähte durch den Türspalt. »Der Fanderl, der junge Polizist, is jetzt da, Ehrwürdige Mutter.«
»Schick ihn herein, Kreszentia«, bat die Äbtissin und wunderte sich, wie fest und klar ihre Stimme klang.
Der Fanderl trat ein und blieb etwas verlegen in einigem Abstand zum Schreibtisch stehen.
»Setzen Sie sich, Herr Wachtmeister«, forderte ihn die Äbtissin auf, und der Fanderl nahm etwas ungelenk Platz und legte sein schwarzes Büchlein ordentlich auf die Knie.
»Mein tief empfundenes Beileid, Ehrwürdige Mutter«, sagte er mit ein wenig unsicherer Stimme. »Ich habe soeben von Schwester Kreszentia erfahren, dass es sich bei der Toten um Ihre Nichte handelt.«
»Ja, so ist es«, antwortete die Äbtissin, »und ich möchte, bevor ich auf Ihre Fragen eingehe, gleich betonen, ich werde es nicht dulden, wenn durch diesen unglückseligen Todesfall unser Kloster in irgendeiner Form in Misskredit gebracht wird. Ich bitte also um absolute Diskretion.«
»Ich werde mich bemühen, Ehrwürdige Mutter«, antwortete Fanderl. »Ich muss Sie jedoch darauf hinweisen, dass Ihre Nichte keines natürlichen Todes gestorben ist. Es handelt sich um Mord oder Totschlag, und dahingehend werden wir unsere Untersuchungen durchführen.« Seine Stimme nahm bei diesen Worten einen strengen und sehr amtlichen Tonfall an.
»Ich bin überzeugt, dass es sich um einen Unfall handelt«, widersprach die Äbtissin. »Ich kann mir beim besten Willen nicht vorstellen, dass jemand einem so lieben Menschenkind wie meiner Nichte nach dem Leben trachten wollte!«
Anschließend berichtete sie mit knappen Worten, dass die achtzehnjährige Flora vor einem halben Jahr auf eigenen Wunsch ins Kloster gekommen sei, um dem unsteten und hektischen Schauspielermilieu Münchens zu entfliehen und um sich zu prüfen, ob sie wirklich eine Schauspielkarriere anstreben wollte, wie es der größte Wunsch ihres Vaters war.
»Sie suchte Ruhe und Frieden bei uns, und das fand sie auch. Wie weit sie allerdings mit ihrer Entscheidung gekommen war, kann ich Ihnen nicht sagen. Sie verstand sich gut mit unseren beiden Novizinnen; von weiteren Freundschaften, gar von einer Liebelei, ist mir nichts bekannt. Ich bitte Sie nun, mich in meiner Trauer und vor allem im Gebet für meine liebe Flora wieder allein zu lassen.«
Das waren die abschließenden Worte der Äbtissin. Fanderl schloss sein schwarzes Büchlein, in das er nicht sehr viel hatte eintragen können, und verabschiedete sich höflichst.
Wieder zurück im Refektorium fand er die Situation fast unverändert vor. Trauer, Tränen, Verzweiflung und Gebet erfüllten den Raum, ein leichter Geruch nach Gemüsesuppe, die wohl Schwester Kreszentia gerade in der Küche zubereitete, mischte sich darunter. Die beiden Novizinnen Hilda und Sophie saßen noch immer in einer Ecke beieinander, und erst als Fanderl auf sie zutrat, setzten sie sich etwas aufrechter hin und trockneten, so gut es ging, ihre Tränen.
Hilda Rossgoderer, wie sich die kräftigere und größere der beiden vorstellte, wischte sich noch einmal über das rotwangige, runde Bauerngesicht und erzählte, dass sie seit fast zwei Jahren im Kloster sei, dass sie von einem Bauernhof in Brannenburg stamme und sehr gerne draußen arbeite. Auch die Flora, so berichtete sie mit wieder zitternder Stimme, habe, obwohl sie ja ein Stadtmensch war, gerne im Klostergarten gearbeitet. Sie selbst habe ihr alles gezeigt.
»Sie war immer so fröhlich und guter Dinge«, sagte Hilda, und schon wieder füllten sich ihre Augen mit Tränen. »Ich kann’s einfach nicht glauben, dass sie nimmer da is!«
Sophie von Arnstetten, die zweite Novizin, war das gerade Gegenteil der bäuerlichen Hilda. Sie war dünn und blass, ihre dunklen, ein wenig stechenden Augen schienen zu groß für ihr schmales Gesicht.
»Der Herr hat sie von uns genommen. Auch wenn es uns schmerzt und wir es nicht verstehen, es war Sein Wille, und diesen müssen wir annehmen. Sie ist nun beim Herrn«, erklärte sie, und Fanderl, entsetzt über diese ihm auf heuchlerische Weise fromm erscheinenden Worte, musste an den Weihbischof Müller denken, der ihn gefirmt hatte und der immer in solch einem salbungsvollen Tonfall dahergeredet hatte. Dieser Weihbischof hatte sein Gutteil dazu beigetragen, dass Fanderl nur an Ostern und Weihnachten und zu ganz besonderen Anlässen in die Kirche ging. Ansonsten hielt er nicht viel von ihr.
»Ich habe schon meinen lieben Gott, doch der wohnt nicht unbedingt in einer Kirch und braucht auch keinen Pfarrer«, sagte er immer zur Therese, wenn diese sich um sein Seelenheil sorgte.
Wie sich herausstellte, hielt Sophie von Arnstetten, die aus Coburg stammte, nicht viel von der Arbeit in der freien Natur. Sie beschäftigte sich lieber mit dem Leben der Heiligen, über das sie schon viele Bücher gelesen hatte, sie handarbeitete gerne und hatte eine sehr schöne Singstimme. Schon mehrfach hatte sie bei der Morgenandacht eine Kostprobe davon geben dürfen. Mit Flora habe sie sich gut verstanden, sie habe sich auch gerne mit ihr über das Theater und über München unterhalten.
Beide Novizinnen bestätigten, dass sie Flora zum letzten Mal bei der Abendmahlzeit gesehen hätten. Sie habe gewirkt wie immer. Von einer Freundschaft drüben im Dorf wüssten sie beide nichts, versicherten sie sehr rasch, doch gerade dieser Eifer ließ bei Fanderl leise Zweifel aufkommen.
Nach dem Verlassen des Klosters gab Fanderl sich einen Ruck.
»Du kommst eh nicht rum um die Leichenschau, Gustav«, sagte er zu sich. »Fahr lieber gleich hin, dann hast es hinter dir!«