Читать книгу Ein anständiger Mord - Gretelise Holm - Страница 3
Sehr zufriedenstellend
ОглавлениеMein Vater taugte nicht viel, hatte jedoch ein aufsehenerregendes Talent zum Selbstmord. Wenn alles andere fehlschlug, starb er von eigener Hand. Meine Mutter nahm das jedes Mal ernst, ich aber war erst acht oder neun Jahre alt, als ich ihn durchschaute. Ich beobachtete nämlich, wie der weiße Puder von seinem toten Gesicht auf das Sofakissen rieselte. Das Schweineblut jedoch, mit dem er sich eingerieben hatte, bevor er sich die Handgelenke aufritzte, hatte mir mit sechs einen richtigen Schock versetzt.
Ich verfügte über keine psychologischen Kenntnisse und verspürte nur Abscheu, als mir klar wurde, dass das Ganze ein Schauspiel war, das ultimative Machtmittel gegenüber meiner Mutter und uns Kindern.
Meist gab es eine feste Reihenfolge: Zuerst die Niederlage, die er außerhalb der Familie erlitt, dann machte er seiner Verbitterung und seinem Zorn zu Hause Luft, es folgten Zerstörung und Gewalt – häufig mit mir in der Rolle des Prügelknaben –, und schließlich war er aufgelöst, den Tränen nahe. Zu guter Letzt folgte der vorgetäuschte Selbstmord, dem sich eine Einweisung in das Staatshospital, wie es damals noch hieß, anschloss. Während er im Krankenhaus lag, entspannten wir uns und verbrachten mit unserer Mutter eine schöne Zeit. In der Regel wurde er jedoch bald wieder entlassen, und alles ging von vorn los.
Nach außen verheimlichten wir das Familiendrama. Wir brachten keine Freunde mit nach Hause, denn wir konnten nie wissen, ob nicht die Fenster eingeschlagen waren oder unsere Mutter heulend dasaß, ob mein Vater nicht eine Bestrafung für uns in petto hatte – oder sich gerade als Leiche drapierte.
Heute weiß ich, dass er ein kranker Mann war. Damals empfand ich nur Abscheu und Wut. Das rechtfertigt meinen ersten Mord.
Ich war elf Jahre alt und ein Musterkind, die Erwachsenen hielten mich Gleichaltrigen als leuchtendes Beispiel vor: still, ordentlich, fleißig und sehr begabt. An jenem Tag hatten wir Zeugnisse bekommen. Es gab drei Leistungsstufen: nicht befriedigend, befriedigend und sehr zufriedenstellend. Alle meine Kreuze standen in der letzten Spalte, senkrecht untereinander: sehr zufriedenstellend.
»Deine Noten könnten nicht besser sein«, sagte der Lehrer und lächelte herzlich, als er mir das kleine Heft überreichte. Es verstand sich von selbst, dass mich meine Mutter loben würde. Und während ich mit dem Fahrrad von der Schule nach Hause fuhr, träumte ich von einem stolzen und starken Vater. Ich wusste genau, dass das nur ein Traum war, ich war jedoch nicht auf den Anblick vorbereitet, der sich mir bot, als ich die Küchentür öffnete. Dahinter stand nämlich mein Vater, bereit, dem ersten eintreffenden Familienmitglied seine »Jetzt-hänge-ich-mich-auf«-Szene vorzuspielen. Zufälligerweise war ich dieses Familienmitglied.
Das Seil hatte er an einem Deckenhaken befestigt und sich die Schlinge um den Hals gelegt. Er stand auf einem Hocker. Ich hatte die Küche noch nicht betreten, da schossen ihm bereits die ersten Tränen aus den Augen.
»Ich ertrage dieses Leben nicht mehr«, schluchzte er.
»Wo ist Mutter?«, fragte ich.
»Sie hat mich verlassen, und ich habe es nicht besser verdient. Ich bin immer nur der letzte Dreck gewesen.«
Ich widersprach ihm nicht, denn ich war ganz seiner Meinung.
»Ihr macht euch doch nichts aus eurem Vater, weil ich ein Versager bin …«
Ich schwieg noch immer. Wäre meine Mutter da gewesen, sie hätte ihm sofort widersprochen und, während sie ihn von dem Seil befreite, versichert, wie tüchtig er sei und wie lieb sie ihn habe. Und ich hätte den Arzt und den Krankenwagen rufen müssen.
In meinem tiefsten Innern war ich schon lange überzeugt, dies sei die falsche Strategie, auch wenn ich bisher mitgespielt hatte.
»Sag es nur ganz offen. Ich bin ein schlechter Vater, und du hasst mich, verachtest mich«, wimmerte er und sah mich verwirrt und fragend an, als ich ihm nicht wie üblich widersprach.
Dann spielte er seinen Trumpf aus: »Ich habe nur eine einzige Bitte. Gib dem Hocker einen Tritt, damit ich es überstanden habe. Ich kann nicht mehr. Ich will sterben.«
Ich dachte rasch nach: Keine Abdrücke der Gummischuhe auf dem Hocker! Also griff ich nach dem Besen und legte meine ganze Kraft hinein, als ich mit ihm den Hocker umstieß.
Vater sah im Tod verblüfft aus.
Ich rief den Krankenwagen.
»Irgendwann tun sie es wirklich, aber es ist schrecklich, dass das Kind ihn finden musste«, sagten die Erwachsenen.
Ich konnte nicht begreifen, warum meine Mutter bei der Beerdigung so heftig weinte. Ich selbst konnte mir kaum eine Träne abringen.
»Das Kind ist völlig versteinert«, sagten die Erwachsenen.
Sehr zufriedenstellend, dachte ich und fühlte mich stark. Ich war klüger als sie alle und hatte mich zum Herrn über Leben und Tod gemacht.
In meinem weiteren Leben ist es mir in vieler Hinsicht gut ergangen, im Stillen aber habe ich mich häufig gefragt, ob ich ein Psychopath bin. Versuche ich mich womöglich zu rechtfertigen?
Vielleicht. Andere Mitglieder meiner Familie haben von unserem Vater ein ganz anderes Bild, aber das basiert vor allem auf den Mythen, die unsere Mutter unmittelbar nach seinem Tod zu etablieren begann. Er sei ein begabter, empfindsamer Mensch gewesen. Viel zu weich für diese Welt. Deshalb sei er der Sucht verfallen, in den Wahnsinn getrieben worden und zugrunde gegangen, lautete ihre Version. Er habe den eigenen Ansprüchen an sich selbst nicht gerecht werden können, doch das Verhältnis von eigener Erwartung und Wirklichkeit sei entscheidend für das Glück eines Menschen. In diesem Punkt konnte ich ihr nur Recht geben. Bei ihrem Begräbnis vor zehn Jahren habe ich geweint. So gefühlskalt bin ich nun auch wieder nicht.