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Mittwoch, 6. Juni

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Sie leerte gerade ihr Fach beim Empfang und plauderte gut gelaunt mit den dortigen Kollegen, als der hyperenergiegeladende Redaktionsleiter hereingestürmt kam.

»Zehn Kilometer in 42 Minuten«, rief er triumphierend. Adam unterhielt seine Umgebung täglich mit den Fortschritten seines Marathontrainings.

»Wie gesund für dich«, antwortete Karin und dachte: Gockel.

»Komm gleich mal mit. Schön, dass du wieder am Ball bist. Ganz ausgezeichneter Artikel heute. Ich möchte dir etwas zeigen.«

Karin folgte ihm in den kleinen Glaskasten, von dem aus er seine Redaktion überwachte.

Er nahm die aktuelle Ausgabe mit ihrem Artikel über das Familiendrama in Kappelhøje von seinem Schreibtisch.

»Du bist im Kommen«, sagte er.

Sie musste an sich halten, um nicht herauszuplatzen, sie habe bereits Zeitung gemacht, als er noch gar nicht geboren war.

Dann deutete er auf ihre Meldung über die Bekämpfung der Beschaffungskriminalität. Er hatte eine fette, rote Klammer an den Rand gemalt.

»Kannst du das für morgen nicht ausbauen? Warum soll man das Kind nicht beim Namen nennen? Schließlich weiß jeder, dass hinter der Kriminalität die aus der früheren Sowjetunion stecken.«

»Was meinst du damit?«

»Ich meine, du sollst das offen sagen. Alle wissen doch, dass die es sind.«

Sie war gereizt und zornig, beherrschte sich aber.

»Das kann man nicht machen«, antwortete sie mit ruhiger Stimme. »Schließlich wurde bisher niemand beschuldigt, geschweige denn verhaftet oder verurteilt.«

»Also, ist das nicht ein bisschen zickig? Man kann die Fahne auch so hoch halten, dass man sie nicht mehr sieht. Alle wissen doch, was los ist. Selbst der Innenminister hat im Fernsehen gesagt: ›Sie kommen nur her, um Straftaten zu begehen, man sollte sie auf eine einsame Insel schicken.‹ Und jetzt haben wir doch einen lokalen Ansatzpunkt, oder etwa nicht?«

»Wäre es nicht einfacher, man würde Vorhängeschlösser an den Containern anbringen, in die man die Flüchtlinge eingewiesen hat?«, antwortete Karin sarkastisch.

»Sehr witzig, aber über die Bekämpfung dieser Flüchtlingskriminalität müssen wir etwas bringen. Das interessiert unsere Leser.«

Adam begann in irgendwelchen Papieren zu blättern, griff nach dem Telefon und gab damit zu erkennen, dass das Gespräch beendet sei.

»Dazu, dass ich jemanden verurteile, bevor er auch nur festgenommen ist, kriegst du mich nicht«, sagte Karin entschlossen.

»Ach, sei doch nicht so brav und bieder, dann gebe ich’s eben jemand anderem.«

Plötzlich fühlte sie sich alt und müde. Sie ging vom Glaskasten des Chefredakteurs direkt hinunter zum Kiosk, wo sie sich einen Lottoschein und damit den drei Tage währenden Traum kaufte, ihre Stelle aufzugeben.

Als sie ihr Zimmer betrat, klingelte das Telefon, Thomas hob ab.

»Der Redaktionsleiter hat eine Spezialaufgabe für mich. Erste Seite, für morgen«, sagte der Praktikant und stürzte aus der Tür.

Eine Viertelstunde später kam er wieder hereingeschlendert, gelassen und selbstsicher.

»Na, schreibst du über die osteuropäischen Spitzbuben?«, fragte Karin.

»Verflucht noch mal, nein. Das mach ich nicht.«

»Das hat er dir doch geben wollen?«

»Ja, und ich habe ihm mit einer Lektion in Presserecht geantwortet.«

»Und was hat er dazu gesagt?«

»Dass ich mich studentenhaft verhalte.«

»Und ich zickig.« Karin lachte herzlich.

»Was für ein Idiot.« Thomas stellte das ganz gelassen fest, und Karin beneidete ihn um seine Ausgeglichenheit.

Sie selbst nahm sich die Dinge viel zu sehr zu Herzen, wurde gereizt, wütend, und es ging ihr gegen den Strich, dass sie um ihren Stoff kämpfen musste – oder gegen Tendenzen im Journalismus, mit denen sie sich ungern abfand.

»Manchmal ist es verflucht schwer, an seiner Moral und seinen Idealen festzuhalten«, sagte sie.

Thomas sah sie interessiert an. Sie hatte nie selbst darüber gesprochen, doch er hatte von der Geschichte gehört, dass sie nach einem psychischen Zusammenbruch und langer Krankheit zurzeitung gekommen war. Auf ihn machte sie einen absolut normalen Eindruck. Er bewunderte ihr Tempo und ihre Tüchtigkeit. Ihre freundliche, direkte Art fand er angenehm. Und außerdem war er der Meinung, dass sie für ihr Alter eine tolle Frau sei. Ihre kräftigen Haare waren silbergrau, und sie kleidete sich schick und gemäßigt jugendlich nach ihrem persönlichen Geschmack, der sich nicht an Modelaunen orientierte.

»Ja«, antwortete er. »In diesem Gewerbe verbraucht man sich schnell. Ich meine: Man ist jeden Tag drauf. Ich habe unheimlich Schiss, dass ich einen Fehler mache, den dann 60 000 Leser mitkriegen. Man hört doch von so vielen, die den Druck nicht aushalten.«

»Zum Beispiel ich.« Karin lächelte, als sie das sagte.

»Was ist damals eigentlich passiert?«

»Ich bin mit dem Kopf gegen eine Mauer gerannt, und die Mauer war stärker.«

Jetzt klingelte ihr Telefon.

»Hallo. Hier ist Betina. Betina Bertelsen. Das stimmt nicht, was Sie geschrieben haben. Das war nicht mein Vater, der das gemacht hat …«

»Hallo, Betina. Tut mir Leid, wenn ich etwas Falsches geschrieben habe.«

Karin schaltete ihr Tonbandgerät ein.

Langes Schweigen, dann sagte Karin vorsichtig:

»Ich würde gern das Richtige schreiben, wenn du mir hilfst. Erzähl mir etwas darüber.«

»Es darf nicht in die Zeitung«, murmelte das Mädchen.

»Nein, die Entscheidung liegt bei dir, aber ich würde mich trotzdem gern mit dir unterhalten. Wenn es nicht dein Vater war, wer war es dann?«

Lange Pause.

»Das weiß ich nicht genau, aber er war es jedenfalls nicht. So etwas hätte er nie tun können.«

»Das ist schwer sich vorzustellen, aber du kannst doch die Polizei anrufen, Betina, die Nummer habe ich hier.«

»Das werd ich auf keinen Fall tun.«

»Ich würde gern zu dir kommen und mit dir sprechen.«

»Das geht nicht. Ich hab keine Adresse.«

»Du musst doch irgendwo wohnen?«

»Nein.«

»Ja, aber können wir uns nicht irgendwo treffen?«

Neue lange Pause.

»Ich muss morgen was abholen. Wir können uns auf dem Bahnhof treffen. Ich nehm den Zug um 11.15 Uhr von Tåstrup, dann erzähl ich Ihnen, was ich …«

Vermutlich war dem Mädchen das Kleingeld für das Telefon ausgegangen.

Karin saß da und hypnotisierte das Telefon. Und griff mit einer blitzartigen Bewegung nach dem Hörer, als es wieder klingelte.

Es war Adam.

»Hallo, vermutlich hast du doch keine ethischen Bedenken, einen Beitrag über die Spendenaktion der Zeitung zugunsten allein erziehender Mütter in Vilnius zu schreiben? Du weißt, das ist eine Angelegenheit, der sich unser Chefredakteur mit großer Hingabe widmet.«

Dieser Scheißkerl. Das war die Rache. Nun würde man sie mit diesem lächerlichen Projekt vom »Tiger Club« und von Christoffersen belästigen.

Der »Tiger Club« war ein Wohltätigkeits-Netzwerk, das sich aus den Stützen der Gesellschaft in Süd-Seeland zusammensetzte. Bei den monatlichen Zusammenkünften plante man Spendensammlungen und Flohmärkte zur Unterstützung Armer, Kranker und Behinderter.

»Ist das nicht eher was für die Familienseite?«

»Nein, die Kollegin hat frei, und überlastet bist du heute nicht gerade. Bis vier Uhr muss ich den Artikel haben.«

»Ich hab eben einen interessanten Anruf von Bertelsens erwachsener Tochter bekommen. Sie glaubt nicht, dass ihr Vater Frau und Kind ermordet und sich dann selbst umgebracht hat.«

»Ist da etwas dran? Sollen wir das groß herausbringen?«

»Ich glaube nicht. Und wie viel dran ist, lässt sich schwer sagen. Ich habe das Telefongespräch aufgenommen und will mich morgen mit ihr treffen. Heute brauche ich ein bisschen Zeit, ich muss noch recherchieren.«

»Hast du doch. Für einen Zweispalter über die Spendenaktion braucht man ja keine acht Stunden. Stoffer hat Namen und Telefonnummern hinterlassen, die kannst du benutzen. Ich schick sie dir gleich.«

Sie entschied sich für die konventionelle Lösung: Anruf beim Vorsitzenden des »Tiger Clubs«, einem Bürgermeister der Liberalen in einer der Umlandgemeinden.

»Wenn man diese Aktion unterstützt, unterstützt man sich selbst«, erklärte der Bürgermeister.

Seine Logik lief darauf hinaus, dass man durch die Bekämpfung von Armut auch den Flüchtlingsstrom nach Dänemark eindämmte.

»Die haben jetzt ein freies, demokratisches System, also fliehen sie bloß vor der zunehmenden Armut. Und leider wissen wir nur allzu gut, was passiert, wenn die hierher kommen. Das wollen wir verhindern. Und mit den Müttern und den Kindern müssen wir anfangen«, sagte er.

Es ging um ein Wohnprojekt für allein stehende Mütter in der litauischen Hauptstadt, und der »Tiger Club«, der Vilnius besucht hatte, verfügte über Bilder und case stories, die sie bekommen könne. Ja, vielen Dank. Und außerdem gab es da den litauischen Kontaktmann des Clubs, Boris Garmatschek, der als Dolmetscher fungierte. Und Wagner, den Polizeichef. Als Schatzmeister des Clubs wusste er, wie viel Geld bisher eingegangen war, und Kreisarzt Beck … Und Gemeindedirektor Skov.

Karin seufzte tief, nachdem sie den Hörer aufgelegt hatte. Irgendwann sollte man sich wirklich an eine kleine Untersuchung machen, wie häufig die zehn bekanntesten Männer der Region in der Zeitung erwähnt wurden.

Majbritt Poulsen, die Freundin der ermordeten Linda, gab Karin eine Beschreibung von Betina Bertelsen: krankhaft mager mit kurzen, gebleichten Haaren. Sie müsste am folgenden Tag auf dem Bahnhof leicht zu erkennen sein.

Lene und Anders Beck hatten ihr Haus am Fjordstien, und schon einige Male war in Wohnmagazinen über ihr Heim und seine geschmackvolle Einrichtung berichtet worden. Jeder verfügte über ein eigenes Schlafzimmer und ein eigenes Badezimmer, denn ihr eheliches Zusammenleben hatte vor vierzehn Jahren geendet. Warum das so war, wussten sie selbst nicht, da sie beide zu gebildet waren, um dieses Thema zur Sprache zu bringen. Lene war der Meinung, Anders habe keine Lust mehr, und Anders hatte den Eindruck, Lene interessiere sich nicht für Sex. Jedenfalls war das Thema jetzt nur noch von historischem Interesse.

Äußerlich waren sie ein schönes Paar, und niemand hätte Derartiges vermutet, wenn sie Arm in Arm durch die kleine Stadt promenierten. »Schau mal, mein Lieber« und »Aber ja, mein Schatz« hörte man, wenn sie miteinander sprachen – zu Hause und in der Öffentlichkeit. Bei Freunden und Bekannten galten sie als Muster-Ehepaar, und selbst mit Hilfe einer im Haus versteckten Kamera hätte man keinen anderen Eindruck bekommen. In ihren Umgangsformen waren sie aufmerksam, freundlich und rücksichtsvoll zueinander.

Anders Beck war seit langen Jahren Kreisarzt und Lene hatte, wie sie ein wenig entschuldigend sagte, das Hobby, eine Geschenkboutique zu betreiben, in der man nette Kleinigkeiten für zu Hause kaufen konnte. Wohlduftende Kerzen, Kissenbezüge, Puppen, Platzdeckchen, Krüge, Kannen, Gläser und Designer-Mobiles. In Lenes Boutique erhielt man Geburtstagskarten für 38 Kronen 50 das Stück und Geschenkpapier für 45 Kronen, da, wie sie ihren Kunden erklärte, die Verpackung schon das halbe Geschenk sei.

Lene selbst war eine äußerst gepflegte, angenehm duftende Dame Ende vierzig. Sie war groß und schlank, mit einem Faible für Seide und Leinen, gern miteinander kombiniert, in einfachen, langen, lockeren klassischen Schnitten und naturfarben. Ihre kräftigen blonden Haare, die hin und wieder auch hennafarben waren, waren nach Art der 70er Jahre mit Stirnfranse und Innenrolle frisiert, ganz so, wie es allmählich wieder in Mode kam, jedenfalls nach Meinung der letzten Nummer von »Alles für die Dame«.

Auch Anders Beck war eine gut aussehende Erscheinung – ganz wie auf dem Umschlag eines Arztromans. Stämmig, mit einem Grübchen im Kinn, regelmäßigen, männlichen Zügen, kräftigen dunklen Haaren, grauen Schläfen. Er hatte seiner Frau die Boutique zu ihrem vierzigsten Geburtstag geschenkt, als sie eine Veränderung in ihrem Leben als Rechtsanwaltsgehilfin brauchte und damit gedroht hatte, sich zur Reflexzonentherapeutin ausbilden zu lassen, was den Kreisarzt zutiefst empörte. Die Reflexzonentherapie hielt er für pure Quacksalberei. Und er hatte befürchtet, sie wäre im Begriff, eine für Frauen mittleren Alters typische Neurose zu entwickeln, hatte sich jedoch gehütet, es offen zu sagen. Stattdessen hatte er seine Frau zum Essen eingeladen, und ruhig und sachlich hatten sie die Möglichkeiten erörtert. Sie selbst hatte von dem Traum mit der kleinen Boutique erzählt, und er hatte schnell zugeschlagen und einen leer stehenden ehemaligen Gemüseladen gekauft.

Lene machte keinen Hehl daraus, dass sie ihm dankbar war, so lange der Laden Gewinn abwarf. Anders wiederum war froh, dass seine Frau etwas zu tun hatte, und steuerte gern ein bisschen Geld bei, wenn in der Ladenkasse Ebbe war. Er war ein viel beschäftigter Mann. Seine Position als Kreisarzt war mit einer Reihe von Nebentätigkeiten verbunden, und außerdem war er ein begeisterter Teilnehmer an Konferenzen und Versammlungen. Die Liste der Veranstaltungen, an denen er als Kreisarzt teilnehmen konnte, war endlos: Umweltschutz, Gesundheitsfürsorge für Kinder, Alkoholsucht, Arbeitsmedizin, DNA-Profile als Beweis im Strafprozess waren nur einige Themen von Konferenzen der letzten Monate im In- und Ausland.

Bevor Lene ihren Laden bekam, hatte sie wiederholt in besorgniserregender Weise seine Reisen und die Möglichkeit erwähnt, ihn künftig zu begleiten.

Und als Anders sie an diesem Abend nach Geschäftsschluss abholte, stellte sie ihm eine überraschende und einigermaßen unangenehme Frage: »Warum hast du mir denn überhaupt nichts davon erzählt, das hättest du mir doch nun wirklich sagen können?«

»Was denn, meine Liebe?«

»Dass Linda Bertelsen tot ist. Ich habe versucht sie anzurufen und ihr eine E-Mail geschickt, und schließlich bin ich selbst hingefahren, um die Abrechnung vorbeizubringen. Das Haus war versiegelt, und der Briefträger hat mir erzählt, was passiert ist. Offenbar bin ich die Einzige in der ganzen Stadt, die nicht Bescheid wusste.«

»Aber Liebes, daran habe ich einfach nicht gedacht.«

»Es ist so furchtbar. Und obendrein noch jemand, den man gekannt hat. Du hast sie doch auch gekannt, oder?«

»Wie bitte? Ja, stimmt. Jetzt dämmert es mir. Als ihr mit der Jahresabrechnung zu tun hattet, habe ich kurz vorbeigeschaut, aber ehrlich gesagt, einen besonderen Eindruck hat sie bei mir nicht hinterlassen. Als wir am Tatort waren, habe ich zu Thor gesagt, ich hätte das Gefühl, sie schon mal gesehen zu haben, aber ich konnte mich nicht erinnern, wo. In diesem Ort kennt man schließlich Gott und die Welt. Aber jetzt entsinne ich mich natürlich.«

»Und ich habe keine Ahnung, wie ich das jetzt mit den Angaben zur Mehrwertsteuer schaffen soll. Sie hatte die Unterlagen ab April … soll ich das jemandem sagen, der Polizei vielleicht? Sie hat schwarz gearbeitet, aber nur ein paar Stunden im Monat. Ob ich deswegen Schwierigkeiten bekomme?«

»Immer mit der Ruhe. Nein, ich glaube, der Polizei sagst du besser nichts. Das ist auch ganz unwichtig. Ich kenne Bjarne Andersen, den Steuerberater, den frage ich, ob er dir die Steuererklärung macht. Sag, dass die Unterlagen von April weggekommen sind, dem fällt schon etwas ein. Herrgott, das ist doch nur Kleingeld, mein Schatz.«

Mit beschützender Geste legte er den Arm um die Lehne ihres Sitzes.

»Die arme Linda und das arme Kind. Ich war ganz erschüttert, als ich es gehört habe.«

»In der heutigen Zeitung steht eine längere Geschichte darüber.«

»Aha, ja, ich hatte heute noch keine Gelegenheit, in die Zeitung zu schauen. Die neuen Herbstkataloge sind gekommen, offenbar gehen sie jetzt von erdfarben zu pastell über. Ich muss mir meinen Einkauf gut überlegen.«

Er hörte ihr freundlich zu, dann sagte er, er müsse am Abend zur Versammlung seiner VL-Gruppe, zu einem Vortrag über die Globalisierung.

»Geht es um die Flüchtlinge?«, fragte sie.

»Nein, wahrscheinlich nur um die ökonomischen Möglichkeiten, wenn man die ganze Welt als Absatzmarkt betrachtet.«

»Wäre schon zufrieden, wenn ich die ganze Stadt hätte«, sagte sie und lächelte selbstironisch.

Er lächelte zurück. Die gute Stimmung war wiederhergestellt.

Chefredakteur Werner Christoffersen sagte das Gefühl zu, Mitglied eines Netzwerks zu sein, das ganz Dänemark abdeckte. Es war der erste Mittwoch im Monat, und das bedeutete, dass sich einige tausend Beamte, Richter, Politiker, Redakteure, Verbandsfunktionäre und Geschäftsleute – so wie er – auf dem Weg zu ihrer VL-Gruppe befanden. Als »Netzwerk der Macht« hatte die Kopenhagener Zeitung »Politiken« die VL-Gruppen bezeichnet.

»Neidhammel«, hatte Christoffersen gesagt, als er den Artikel las. Er war verärgert über die Veröffentlichung von Mitgliedernamen und anderen Einzelheiten. Die VL-Gruppen mussten ein Hort des Vertrauens für jene Männer und Frauen sein, die auf privatem Sektor und in der Legislative, Exekutive und Judikative Tag für Tag Verantwortung trugen.

Es war doch nur recht und billig, dass die von großer Verantwortung belasteten Entscheidungsträger die Möglichkeit hatten, über alle Aufgabengebiete und Machtbereiche hinweg mit Gleichgestellten Erfahrungen und Ansichten austauschen zu können, meinte Christoffersen.

Beispielsweise beabsichtigte er, an diesem Abend mit dem Vorstandsvorsitzenden der Zeitung, einem Gutsbesitzer, der sich unverständlicherweise ein wenig von ihm, Christoffersen, distanziert zu haben schien, ein informelles Gespräch zu führen. Christoffersen verfügte über politischen Instinkt und hatte das Gefühl, er könne in irgendeiner Hinsicht bedroht sein. Die Geschäftsergebnisse des letzten Jahres waren nicht gut gewesen, er hatte dem Gutsbesitzer jedoch zu verstehen gegeben, bei der Zeitungskrise handele es sich um eine allgemeine Krise. Der »Sjællandsposten« ging es nicht schlechter als den meisten anderen Zeitungen auch, wichtig war nur, dass man sich bei Investitionen in Internet-Aktivitäten weitsichtig verhielt.

Es kam anders als geplant, und der Redakteur erlebte einen richtig tristen Abend.

Während des ungezwungenen Beisammenseins nach dem Vortrag hatte er das Gefühl, der Mann gehe ihm aus dem Weg. Als der Kaffee gereicht wurde, passte Christoffersen den Moment ab, wo der Gutsbesitzer Platz genommen hatte und setzte sich dann neben ihn. Da aber fiel dem Mann plötzlich ein, dass er dem Richter am Landgericht, der mit dem Gemeindedirektor am Nebentisch saß, etwas sagen müsse, und fort war er. Leider nicht so weit fort, dass er nicht gehört hätte, wie Polizeichef Wagner durch den Raum brüllte: »Na, willst du jetzt dem ›Ekstra Bladet‹ Konkurrenz machen? Ist das eine neue Redaktionspolitik, Familiendramen und Selbstmorde zu Sensationsmeldungenen aufzublasen?«

»Nun ja, wir sind stets bemüht, die Realität wiederzugeben«, antwortete Christoffersen ausweichend. Um die Wahrheit zu sagen, hatte er die Zeitung des Tages gar nicht gelesen und keine Ahnung, was der Polizeichef meinte.

»Habe das Gefühl, mit der Pressemoral geht es bergab, liegt wahrscheinlich an der Konkurrenz unter den Medien«, kommentierte der Richter.

Kreisarzt Beck nickte eifrig.

»Bei der ›Sjællandsposten‹ wird das nicht der Fall sein«, sagte der Gutsbesitzer mit Nachdruck.

Christoffersen fühlte, wie der Gutsbesitzer ihn mit einem vernichtenden Blick bedachte.

»Nein«, sagte Christoffersen verzweifelt und unsicher. »Wir bei der ›Sjællandsposten‹ haben großes soziales Verantwortungsgefühl. Beispielsweise unterstützen wir zurzeit eine Spendenaktion für allein stehende Mütter in Litauen.«

»Wäre es nicht besser, man würde die allein stehenden Mütter in Seeland unterstützen?«, fragte der Gemeindedirektor säuerlich-ironisch.

Die VL-Mitglieder lachten, und Christoffersen lachte bemüht mit. Er kam sich geschlagen, zerstört, gedemütigt vor.

Der Supermann hörte schweigend und aufmerksam zu, er hatte sich am Tischende niedergelassen, um mit dem örtlichen Gewerkschaftsvorsitzenden die Frage zu erörtern, ob eine etwas flexiblere Interpretation der Arbeitszeitbestimmungen nicht zweckmäßiger sei.

Als er in seine Wohnung im Ortszentrum kam, wo er seit seiner Scheidung vor 18 Jahren wohnte, fühlte sich Christoffersen einsam, alt und müde. Der Wohnung fehlte jede persönliche Note, Christoffersen war ins Möbelhaus gegangen und hatte eine ausgestellte, fertige Möblierung für die Räume gekauft – Lampen, Teppiche und Reproduktionen inbegriffen. Er setzte sich in einen der bequemen Sessel und las Karin Sommers Artikel. Nach der Lektüre brach er in Tränen aus, holte sich ein Bier aus dem Kühlschrank, nahm eine Schlaftablette und ging zu Bett.

Christoffersen war in vieler Hinsicht ein sensibler Mann, und sein Arzt vertrat die Ansicht, einige kleine, unbemerkte Schlaganfälle hätten ihn weinerlich gemacht.

Ein anständiger Mord

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