Читать книгу Ein anständiger Mord - Gretelise Holm - Страница 4
Dienstag, 5. Juni 2001
ОглавлениеIch werde einen Verein für frustrierte Greise gründen«, sagte Karin Sommer und machte ein paar Bewegungen mit dem Unterarm, die nach Meinung ihres Physiotherapeuten Sehnenscheidenentzündungen vom ständigen Mausklicken verhinderten.
»Halt mir einen Sitz im Vorstand frei«, sagte Henrik und holte sich das Patiencespiel auf seinen Monitor. »Im Journalismus darf man nicht alt werden.«
»Was habt ihr beide eigentlich heute für schlechte Laune?«
Thomas, der Praktikant, hatte sich den Jargon und die lockeren Sprüche der Redaktion rasch angewöhnt. Für Karins Geschmack hatte er die Beine ein bisschen zu bald auf dem Schreibtisch, das Bier ein bisschen zu früh im Glas und die Zigarette ein bisschen zu oft im Schnabel. Nun gut, vielleicht brauchte die Jugend ihre Klischees und Stereotypen.
»Das kann ich dir sagen. Ein langweiliger Pfingstdienst, Regenwetter und dazu ein Brief vom Finanzamt, den ich nicht verstehe. Ich mein das ganz wörtlich. Der ist so unmöglich abgefasst, dass ich überhaupt nichts begreife. Und wenn ich den schon nicht begreife, obwohl ich mein ganzes Leben von der Sprache gelebt habe, dann … Ja, wo sind wir denn eigentlich? Arroganz der Macht, dass es nur so kracht!«
»Nimm dir doch einen Steuerberater … Aufgegangen«, fügte Henrik hinzu und meinte die Patience.
»Ich hol Kaffee«, sagte Thomas, der sich ausnahmsweise an seine Aufgaben erinnerte.
»Jetzt wollen sie noch einen Schreibtisch hier reinstellen«, sagte Henrik in dem Moment, als der Praktikant den Raum verlassen hatte.
»Wie bitte? Was wollen die? Wollen die uns hier rausdrängen? Hier hat unmöglich noch jemand Platz. Das verstößt gegen die Arbeitsbestimmungen …«
Als Karin im Frühjahr aus dem Urlaub gekommen war, hatte sie plötzlich kein eigenes Zimmer mehr gehabt. So war das eben.
»Wenn du denen einen Augenblick den Rücken kehrst, hast du keinen Stuhl mehr unterm Hintern«, hatte Henrik gesagt, als sie zusammen in ein Zimmer gezogen waren. Er hatte das Privileg eingebüßt, ungestört in der Nase bohren zu können und intime Telefonate mit seiner zwanzig Jahre jüngeren Geliebten zu führen. Nicht etwa mit seiner Frau, denn, wie er Karin unverzüglich erklärte, hatte er immer das Prinzip eingehalten, Privat- und Familienleben strikt zu trennen. Der Satz war als eine Art Test der Zimmergemeinschaft gedacht gewesen, und Karin hatte ihn bestanden, indem sie lachte.
Wie Karin war Henrik Mitte fünfzig. Er war grau, und das Haar wurde langsam dünner, er hatte sich jedoch klugerweise für einen modernen, millimeterkurzen Haarschnitt entschieden, der den Haarausfall tarnte. Äußerlich war er ein bisschen vertrocknet und welk, aber er lief Marathon, achtete darauf, sich jugendlich zu kleiden, und konnte das Wort »Kriminalreporter« auf eine Weise aussprechen, die die Produktion weiblicher Geschlechtshormone ankurbelte.
Ja, doch, man musste in den Büros zusammenrücken, damit Platz geschaffen wurde für die neue Online-Redaktion. Das Internet war die Zukunft, mit der es Schritt zu halten galt, wie es in der floskelhaften Sprache des Managements hieß.
Karin und Henrik repräsentierten die Vergangenheit. Ihr unerschöpfliches Gesprächsthema war, dass die Redakteure immer jünger und jünger und zunehmend dümmer wurden. Und dass der Journalismus im Allgemeinen und die Polizei- und Gerichtsreportage im Besonderen dem Niedergang geweiht seien. Henrik blickte auf eine glorreiche Vergangenheit in der Hauptstadt zurück, und auch Karin hatte größere Ambitionen gehabt, als die »Sjællandsposten« sie einlösen konnte.
Um der Nörgelei der Altgedienten ein Ende zu bereiten, hatte Adam, der zweiunddreißigjährige Redaktionsleiter, beschlossen, einen Praktikanten in ihr Büro zu quetschen.
»Es ist wichtig, dass eure große Erfahrung den Praktikanten unserer Zeitung zugute kommt«, hatte er schulmeisterlich erklärt, als er den beiden langjährigen Mitarbeitern die Entscheidung verkündete.
Sie hatten protestiert und waren zum Chefredakteur und zum Vertrauensmann gegangen, aber es war einfach so, dass ältere Mitarbeiter im Hause ihren Wünschen und Forderungen nicht den nötigen Nachdruck verleihen konnten, also saß der Praktikant nun im Zimmer. Karin überprüfte ihren E-Mail-Eingang und sortierte die Post und die eingelaufenen Agenturmeldungen des Tages.
»Nein, jetzt ist aber wirklich Schluss«, rief sie plötzlich und rannte mit einem Stück Papier in der Hand aus dem Zimmer.
»Sturm in der Redaktion«, brummte Thomas, der bereits einen Artikel angefangen hatte, in dem es um mehr Plätze für Jugendliche und Kinder in geschlossenen Anstalten ging. Nach einer hässlichen Gewalttat in Kopenhagen wollten die Politiker den Blutdurst der Leser befriedigen.
»Das musst du ein bisschen hinterfragen«, sagte Henrik zu ihm. »Da steckt Panik dahinter. Stimmenfängerei. Denn dass man der Kriminalität nicht beikommt, wenn man Kinder und Jugendliche ins Gefängnis steckt, weiß man doch seit ewigen Zeiten. Schon vor …«
Er unterbrach sich, denn er erkannte, wie altmodisch und verbraucht sich das anhörte. Das eben war das Problem. Schon vor zwanzig Jahren hatte man über all das geschrieben und seither immer wieder, ungefähr einmal pro Jahr.
Thomas nahm Henriks Ansichten gar nicht zur Kenntnis. Er wollte Nachrichten schreiben und nicht hinterfragen. In der Redaktion war er wegen seiner Artikel, seiner Willigkeit und seines Tempos beliebt. So beliebt, dass man ihn bei der Aufgabenverteilung behandelte wie einen ausgebildeten Journalisten.
»Lass dich bloß nicht von der Blasiertheit und dem Frust der Alten anstecken«, hatte Adam, der Redaktionsleiter, zu ihm gesagt und ihm eine Stelle in Aussicht gestellt, wenn er auf der Journalistenschule fertig war. Thomas wusste nicht, ob er das eigentlich wollte. Die elektronischen Medien hatten mehr Zukunft.
Ich finde, dass das eine Aufgabe ist, die du mit deinem Einfühlungsvermögen bestimmt meistern kannst.« Der Redaktionsleiter sah Karin eindringlich an.
»Ja, aber Adam, wir treten doch solchen Kleinkram sonst nicht breit. Normalerweise genügt eine kleine Meldung wie die, die ich gestern geschrieben habe. ›Familiendrama in soundso‹ und dann ein paar Zeilen, dass der Mann seine Frau und sein Kind und anschließend sich selbst umgebracht hat.«
Adam holte tief Luft. Als er die Stelle vor einem Jahr angetreten hatte, war er beauftragt worden, die Zeitung zu modernisieren, sie farbiger, unterhaltsamer und konkurrenzfähiger gegenüber den neuen Medien zu machen. Einige der alten Mitarbeiter allerdings saßen wie Hemmschuhe im System. Er zählte die Jahre, bis sie in den vorzeitigen Ruhestand oder in Rente gingen.
»Normalerweise. Normalerweise. Wir müssen uns verjüngen«, sagte er. »Und, Karin, ehrlich gesagt verstehe ich nicht, was gerade du gegen eine gediegene soziale Hintergrundreportage einzuwenden hast – alles über ein Familiendrama. Was hat den Mann so weit gebracht? Wirtschaftliche Schwierigkeiten, Krankheit, Sucht, sozialer Abstieg?«
»Bestimmt nur seine Frau, die sich scheiden lassen wollte. So ist das ja fast immer.«
»Aber das ist doch auch interessant!«, sagte Adam mit gekünstelter Begeisterung. »Warum können Männer Familienkonflikte so schlecht handeln?«
Du kannst mich gleich am Arsch handeln, dachte Karin, sagte jedoch laut: »Willst du, dass ich bei Hinterbliebenen, Familie, Nachbarn, Freunden herumschnüffle?«
Das Wort ›herumschnüffeln‹ versuchte sie so lang und so schleimig wie möglich auszusprechen.
»Nein, aber Karin, ich bin der Meinung, du bist die Einzige, die hier über den Takt und psychologischen Spürsinn verfügt, um diese Aufgabe richtig hinzukriegen … Selbstverständlich sollst du mit denen sprechen, die die Familie gekannt haben, doch du sollst der Geschichte auch Tiefe geben, dazu die Statistik, Experten, Psychologenmeinungen und so weiter. Und selbstverständlich muss das mit größter Sensibilität geschrieben werden. Wir müssen die nüchterne Linie unserer Zeitung wahren …«
Die Schmeichelei hatte Karin nicht ganz unbeeindruckt gelassen, und vielleicht war die Idee ja gar nicht schlecht. Falls es einen interessanten sozialen Ansatz gab. Sie musste aufpassen, dass sie nicht in den Ruf geriet, eine schwierige, ausgebrannte Nörglerin zu sein.
»Ja gut, dann seh ich mir das heute an.«
»Prima. Ich habe gewusst, dass ich auf dich zählen kann.«
Adams Blick klebte schon wieder am Monitor. Er arbeitete am Konzept einer neuen Lifestyle-Beilage: Lifestyle, gesellschaftliche Ereignisse, Sex, Mode, Trends, Konsumartikel. Christoffer, sein Chefredakteur, war sich sicher, dass die Leser genau das haben wollten. Im Übrigen brachten auch alle anderen Zeitungen gegenwärtig nichts anderes. Adam hatte die Magazine und Illustrierten seiner Frau durchgeblättert, bevor er mit dem Konzept anfing. Er wollte alles etwas prägnanter, rascher, jünger und aktueller gestalten. Sex war immer gut, aber wie viel sollte man über Kinder bringen, wollten Familien mit Kindern überhaupt etwas von ihren Problemen lesen, hatten sie Zeit dazu? Und wie gewann man die ganz Jungen? Was interessierte Teenager? Graffiti, Rollerblades, Rap? Wie verflucht schnell wurde man selber alt. Im Augenblick war sein Hobby der neue Carport, den er für Tines Auto bauen wollte. Er musste den Konzeptvorschlag für das Magazin fertig bekommen. Christoffersen, unter Freunden Christoffer und in der absoluten In-Group Stoffer genannt, kam morgen in die Zeitung, musste aber bald wieder weg. Man sah den Chefredakteur immer seltener. Offiziell huldigte er nämlich dem Führungsprinzip, ein Vorgesetzter müsse sich selbst überflüssig machen. Aufgaben sollen delegiert werden, Verantwortung schafft Arbeitsfreude, lautete die ideelle Begründung für seine häufige Abwesenheit.
Im Gegenzug beschäftigte er sich mit Übergeordnetem und vertrat die Interessen der Zeitung nach außen, wie er sagte. Einen Teil dieser Interessen nahm er in den Restaurants der Stadt und auf Auslandsreisen wahr. Beispielsweise fuhr er zurzeit häufig ins Baltikum und in die anderen ehemaligen Sowjetrepubliken. »Im neuen Europa muss man am Ball bleiben«, sagte er. Ein Nebeneffekt war, dass junge osteuropäische Mädchen an dänischen Männern mittleren Alters, die über ein Geschäftskonto verfügten, ein gewisses Interesse hatten. Der Chefredakteur machte keinen Hehl aus seiner Begeisterung für die »ganz ungewöhnlich reizenden Mädchen«, die der Eiserne Vorhang bedauerlicherweise so viele Jahre vor dem Westen verborgen hatte.
Christoffersen war geschieden und besaß nur einen kleinen persönlichen Freundeskreis. Die meisten seiner journalistischen Ideen konnte man in diesen Kreis zurückverfolgen, beispielsweise hatte der Inhaber einer Hundezucht eine Hundeseite in der Samstagsausgabe bekommen. Selbstverständlich war der Chefredakteur entsprechend seiner Stellung Mitglied von Vereinen und Vorständen, in Wirklichkeit aber war er ein ziemlich einsamer, schüchterner Mensch, der sich nur deshalb über Wasser hielt, weil er sich mit niemandem anlegte und eine untrügliche Fähigkeit besaß, sich gute, loyale Mitarbeiter auszuwählen. Hinzu kamen der treue, solide Leserkreis und ein starker Anzeigenmarkt. Nun aber stiegen dunkle Wolken am Horizont auf. Die Anzeigenkunden wanderten ins Internet ab, und die Jugend wollte keine Zeitungen mehr lesen. Die Auflage ging zurück. Adam hatte er eingestellt, damit der die Situation änderte. Es bedurfte neuer, jüngerer Kräfte.
Adam griff begierig nach dieser Chance. Schon seit langem gab es Gerüchte, die Verlagsleitung halte Ausschau nach einem Nachfolger für Christoffersen, der, wie jeder meinte, allmählich alt wurde.
Man lächelte über Christoffersen, bei den Mitarbeitern war er jedoch nicht unbeliebt. Meist ließ er die Leute in Ruhe und zeigte bei Krankheit, Todesfällen und Ehescheidungen im Mitarbeiterkreis großes Verständnis. Auch Karin Sommer war das zugute gekommen, als sie eine psychische Krise durchgemacht hatte. Derzeit zeigte der Chefredakteur indes besonderes Verständnis für die jungen Frauen im Baltikum und hielt sich in Vilnius auf wegen einer Spendenaktion, mit der ein Projekt für allein stehende litauische Mütter unterstützt werden sollte – der persönliche Einfall und die Hauptbeschäftigung Christoffersens in den zurückliegenden beiden Monaten.
Das ist richtig hässlich. Der Mann hat die Frau erwürgt und das Kind und sich selbst mit seiner Heimwehr-Waffe erschossen. Wahrscheinlich wird man nie verstehen, was in den Menschen vorgeht«, sagte Kriminalinspektor Halfdan Thor und versuchte den zerstreuten Blick des stellvertretenden Polizeichefs Bent Abildstrup einzufangen.
Abildstrup, der über Pfingsten frei gehabt hatte, blätterte desinteressiert im Tagesbericht, wurde dann auf einen Vorgang vor dem Fenster aufmerksam und antwortete reichlich gleichgültig: »Aber es läuft doch alles.«
»Ja, die Kriminaltechnik und die Gerichtsmedizin arbeiten mit vollem Einsatz, an den Vorgängen gibt es keinen Zweifel, auch der Tatzeitpunkt steht einigermaßen fest – in der Nacht zum Sonntag. Die Ehefrau lag erwürgt in ihrem Bett im Schlafzimmer, der Junge wurde am Eingang erschossen. Er war nur mit einem Schlafanzug bekleidet. Wenn man bloß begreifen könnte … Wir haben mit den Nachbarn und mit der Familie gesprochen, sie haben nichts zum Hintergrund beitragen können. Das Haus ist etwas abgelegen, man hat die Probleme hinter verschlossenen Türen gehalten. Wir gehen Gerüchten nach, dass die Frau mit Kontaktanzeigen im Internet zu tun hatte, und haben die Festplatte des Computers ins Labor geschickt. Außerdem haben wir eine Tochter aus erster Ehe des Mannes ausfindig gemacht, in Kopenhagen. Sie hat einen Schock erlitten und war nicht besonders gesprächig, 18 Jahre alt, gute Beziehungen zum Vater, zur leiblichen Mutter nicht, die war früher Hippie und ist in Indien verschwunden. Das Mädchen hat irgendwelche sozialen Probleme. Das Gymnasium hat sie geschmissen, zeitweise hat sie bei ihrem Vater und der Stiefmutter gewohnt, zuletzt unmittelbar vor dem Ereignis.«
»Deutet irgendwas drauf hin, dass es sich nicht um ein Familiendrama handelt?« Der stellvertretende Polizeichef schien für einen Augenblick ganz Ohr zu sein.
»Nein, das kann man nicht sagen. Beck, der Kreisarzt, hat die Leichenschau vorgenommen, er hat das ganze Drum und Dran als klassischen Selbstmord, dem zwei Morde vorausgingen, klassifiziert. Irgendwo in Jütland hatte er mal einen ähnlichen Fall. Ich war ein bisschen erstaunt, dass Bertelsen nicht auch die Frau erschossen hat, aber Beck meint, er habe sie im Affekt erwürgt, und das Kind sei durch den Lärm aufgewacht … Sieh dir die Fotos von der Lage der Leichen an. Er selbst hat sich in den Kopf geschossen. Es gibt keinerlei Anzeichen für einen Kampf oder Einbruch.«
»Albert Bertelsen …, den müsste ich eigentlich gekannt haben, wenn er an den Übungen teilgenommen hat.« Der stellvertretende Polizeichef, der selbst in der örtlichen Heimwehr-Kompanie aktiv war, sah Thor fragend an.
»Früher war er Autohändler in Kappelhøje, aber er hat den Laden schließen müssen. Später hatte er die Werkstatt und den Autohandel beim Haus, Autowracks in einem Halbkreis auf dem Grundstück verstreut und eine lange Zufahrt von der Landstraße, weißt du?«
»Ja, ja, jetzt fällt es mir ein! Vor einiger Zeit, das ist noch gar nicht so lange her, habe ich bei ihm einen alten Volvo Amazon gesehen, als ich vorbeigefahren bin. Für so einen Amazon habe ich eine Schwäche, aber es hätte ein Vermögen gekostet, ihn wieder fahrbereit zu machen. So, der ist das also, na, die Menschen sind schon seltsam.«
»Hast du mit Bertelsen gesprochen?«
»Ja, er hat mir ein paar Ersatzteile für den Amazon gezeigt, aber es waren noch mehr Kunden dort …«
»Wann war das?«
»Ist das jetzt ein Verhör?« Abildstrup lachte ungewöhnlich laut. »Vor ein paar Wochen, um meinen Geburtstag herum. Ich habe nämlich gedacht, so ein Amazon, das wäre doch ein schönes Geschenk für dich selbst … und der ist also tatsächlich Amok gelaufen?«
»Es besteht kein Zweifel, aber wir warten noch auf die kriminaltechnische Untersuchung und das Obduktionsergebnis, dann schließen wir den Fall ab.«
»Verflucht noch mal!« Abildstrup fuhr heftig in seinem Stuhl hoch. »Die neuen Gewehre haben wir doch erst vor ein paar Wochen bekommen. Ich habe sie persönlich an die Heimwehr-Mitglieder verteilt und bin auch als Instrukteur bei einigen Gruppen gewesen. Das heißt, dass sich auf vielen vermutlich meine Fingerabdrücke befinden. Stell das fest und kehr das im Bericht nicht unter den Teppich. Andererseits gibt es auch keinen Grund, viel Aufhebens davon zu machen.«
»Nein, natürlich nicht.«
Was Abildstrup veranlasste, einen der Lieblingswitze der Polizeistation von sich zu geben: »Die Wahrheit muss man sagen, aber verschwenderisch muss man mit ihr nicht umgehen.« Dann wurde er plötzlich ernst: »Familientragödien sind für alle Beteiligten schlimm. Bei so was gibt es nur Opfer. Und jetzt kriegen wir bestimmt wieder diese übliche Diskussion über die Aufbewahrung der Waffen in der Heimwehr, ach!«
Halfdan Thor warf einen kurzen, überraschten Blick auf das halb abgewandte Gesicht des stellvertretenden Polizeichefs.
Nicht, dass er ihm widersprechen wollte, aber es war nicht üblich, dass man Täter als Opfer bezeichnete. Es gab Täter, und es gab Opfer. Vermengte man die Begriffe, wurde die Arbeit zu kompliziert und man zählte zu diesen pflaumenweichen Humanisten. Wo sollte man denn auch mit dieser Opferphilosophie anfangen und aufhören? Sie waren doch alle Opfer der Zufälle und Ungerechtigkeiten des Daseins, der Sinnlosigkeit des Lebens, von allem, was sich zwischen Himmel und Erde ereignete und von noch ein bisschen mehr, dachte Halfdan Thor. Alle Täter waren auch Opfer. Daran gab es keinen Zweifel, was aber nutzte diese Erkenntnis im Alltag?
»Und dann beschäftigt ihr euch energisch mit diesen Osteuropäern. Die Einbruchs- und Diebstahlanzeigen strömen nur so herein, die Handelskammer ist ernstlich besorgt. Die beantragen nur Asyl, damit sie uns hier ausplündern können.«
»Und um den Reichtum kennen zu lernen, den wir ihnen versprochen haben, wenn sie sich vom Kommunismus befreien«, sagte Thor.
»Wie bitte? Das ist eine Bande von Räubern und Gewaltverbrechern, wir müssen etwas gegen sie unternehmen. Setz zwei Mann dran, die diese Letten und Litauer im Auge behalten und wer sonst noch alles von dort drüben kommt. Auch Wagner möchte verstärkten …«
»Ja, wenn Papa das will …«
Thor unterdrückte seine ironische Bemerkung. Selbstverständlich hatte Wagner, der Polizeichef, Recht, wenn er sagte, es sei unakzeptabel, dass man allmählich nicht mehr durch die Hauptstraße gehen könne, ohne Hut, Stock und Handschuhe festzuhalten.
»Mette und Magnus sollen die Anzeigen systematisch durchsehen und die Verdächtigen überwachen«, sagte er.
»Und vergeudet nicht unnötig Zeit mit dem Familiendrama.«
»Natürlich nicht. Das ist reine Routinesache.«
Als Thor etwas später an der Kaffeemaschine stand, dachte er, Abildstrup sei leicht zu durchschauen. Seine überraschende Einschätzung der Tragödie. Der schrille Unterton, als er lachte. Die Fingerabdrücke. Na ja, es war gut, dass er darauf aufmerksam gemacht hatte. Und man würde dem auf alle Fälle nachgehen.
Linkisch und gehemmt, wenig kommunikativ, aber ausreichend, lautete die Kurzcharakteristik der Kollegen über den stellvertretenden Polizeichef, dessen Tür meist geschlossen war.
Als Karin Sommer sich schließlich selbst davon überzeugt hatte, dass die Geschichte geschrieben werden konnte, arbeitete sie mit jener Sicherheit und Schnelligkeit, die man mit mehr als 30 Jahren Erfahrung im Zeitungsjournalismus besitzt. Über den Aufbau brauchte sie nicht nachzudenken. Der befand sich geradezu als Schablone auf ihrer inneren Festplatte: Zuerst eine Skizze des konkreten Falls, verpackt in eine anschauliche Schilderung. Dann eine Beschreibung des grundsätzlichen Problems: Wie viele Tötungsfälle/Selbstmorde in Familien? Wie? Wann? Regional und auf Landesebene? Gemeinsamkeiten wie Alkoholismus, Eifersucht, Geisteskrankheit und soziale Probleme? Beispiele. Schließlich die Experten mit ihren Erklärungen, Analysen und Lösungsmodellen.
Sie stellte rasch eine Checkliste zusammen: Kriminalstatistik, Polizei, Kreisarzt, Krisenzentrum, Sozialberatung, Psychologie, ansonsten der Schneeballeffekt. Die Methode, sich von Quellen zu anderen Quellen führen zu lassen.
Als alle Fakten ermittelt waren, musste sie hinaus, um im Milieu zu schnuppern und dem aktuellen Fall ein wenig Farbe zu verleihen.
»Aber darüber habt ihr doch schon geschrieben!«, sagte Kriminalinspektor Halfdan Thor, als sie anrief.
»Ja, das ist richtig. Wir haben heute eine kleine Meldung gebracht, doch wir würden gern noch mal über den Hintergrund des Ganzen berichten. Darüber, welche sozialen und psychologischen Probleme hinter solchen Familientragödien stecken. Ich möchte eine Vertiefung des Bertelsen-Falls zum aktuellen Ausgangspunkt nehmen.«
Halfdan Thor verstand sehr gut. Er war ein moderner, aufgeschlossener Polizeibeamter, der den üblichen Horror seiner Berufskollegen vor der Presse nicht teilte. Karin Sommer war ihm als gründliche, glaubwürdige Journalistin bekannt.
Er gab ihr die relevanten Informationen und seine eigene Einschätzung, wenn auch nicht als Zitat.
Bertelsen war Ende vierzig gewesen, Mechaniker und Autohändler, wirtschaftlich hatte er einige Krisen durchgemacht. Er war zum zweiten Mal verheiratet gewesen, die Frau war etwas jünger und hatte auf dem Grundstück eine Hundezucht betrieben. Das Kind war knapp vier. Über irgendwelche Ehestreitigkeiten konnten weder Polizei, noch Nachbarn oder Familie etwas berichten. Im Strafregister keine Einträge, auch über irgendeine Sucht war nichts bekannt, keine Einweisung in eine psychiatrische Anstalt. Gutes Verhältnis zur Tochter aus erster Ehe, die sich häufig bei der Familie aufgehalten hat.
»Ich bin zwar kein Psychologe, aber manche Leute fressen die Probleme so lange in sich rein, bis sie explodieren«, sagte der Kriminalinspektor.
»Können Sie mir Namen und Adresse der Tochter geben?«
»Sie nennen doch nicht etwa Namen?«, fragte der Polizeibeamte mit einer leichten Empörung in der Stimme.
»Aber nein, ich weiß gar nicht, ob ich mit ihr sprechen werde. Nur wenn ich ein bisschen mehr über die Verhältnisse wissen muss. Bis auf weiteres nicht, okay? Ich kann den Namen auch selbst herausfinden, doch es würde Zeit sparen, wenn Sie …«
Am Ende des Gesprächs hatte Karin alle relevanten Daten auf ihrem Block, darunter auch den der achtzehnjährigen Betina Bertelsen im Kopenhagener Stadtteil Rødovre.
Betina Bertelsen war einer dieser jungen Menschen mit Anpassungsschwierigkeiten, die nicht wissen, was sie mit sich anfangen sollen, hatte der Kriminalinspektor gemeint. Sie hatte zunächst in einem Jugendwohnheim und später unter wechselnden Adressen gewohnt. Kurz vor der Tat hatte sie sich zwei Wochen bei ihrem Vater und seiner zweiten Frau aufgehalten: »Aber sie hat das Glück gehabt, dass sie am Freitag weg ist – am Tag, bevor es passierte. Selbstverständlich hatten wir die Hoffnung, sie könnte uns ein paar Hintergrundinformationen geben, aber ihr ist nichts Besonderes aufgefallen, und natürlich war sie stark mitgenommen. Man hat ihr psychologische Hilfe und so weiter angeboten. Zitieren dürfen Sie mich aber nicht. Gegenseitige Diskretion«, versicherte Thor sich.
»Versprochen, und an der Geschichte ist, wie gesagt, überhaupt nichts Heikles. Es soll nur so ein menschlicher Hintergrundartikel werden. Das soziale und psychologische Umfeld, wissen Sie.«
Karin wollte sich für seine Hilfe bedanken, als sie unterbrochen wurde.
»Falls es Sie interessiert, wir starten eine Kampagne gegen die Einbrüche und die Diebstähle.«
»Natürlich interessiert mich das. Denken Sie dabei an die Osteuropäer?«, fragte Karin mit gekünsteltem Interesse, obwohl ihr nichts gleichgültiger war als diese banale Beschaffungskriminalität.
»Wir haben keine Vorurteile, wir konzentrieren uns nicht auf bestimmte Nationalitäten«, lautete die auffallend politisch korrekte Antwort des Polizeibeamten.
»Aber ist es seit der Öffnung der Flüchtlingslager denn schlimmer geworden?«
»Es sieht so aus. Zumindest gibt es ein Zusammentreffen von Umständen, aber Zusammentreffen heißt noch nicht Zusammenhang.«
Genau an dieser Art von Äußerungen erkennt man, dass Thor ein überdurchschnittlich guter Polizeibeamter ist, dachte Karin, während sie eine Meldung über die Bekämpfung der Beschaffungskriminalität verfasste. Kein Wort über Flüchtlinge und Osteuropäer.
Bei ihren Recherchen zum Familiendrama stieß Karin auf dieselben Probleme wie Thors Kollegen. Es gab keine Vorgeschichte, und es gab keine Erklärung. Sie interviewte einen Gruppenchef der Heimwehr, der sagte, Bertelsen sei ein netter, ruhiger Kamerad gewesen, alle seien völlig fassungslos wegen dieser furchtbaren Geschichte. Genauso entsetzt waren die Nachbarn. Bertelsen sei der Letzte, von dem man so etwas gedacht hätte.
Am engsten war der Kontakt der Familie Bertelsen zu Bitten und Kenneth Pedersen gewesen, die 300 Meter von ihnen entfernt wohnten – unmittelbar an der Landstraße. Beide Familien hatten nämlich regelmäßig Tageszeitungen und Illustrierte getauscht. Täglich die »Sjællandsposten« und das »Ekstra Bladet«, einmal die Woche das »Billed Bladet« und »Se og Hør«.
In der Regel hatte Kenneth für den Kauf und die Tauschaktion gesorgt, weil er »bei der Gemeinde angestellt« war, wie er ironisch über seine ABM-Maßnahme sagte. Bitten war Haushaltsgehilfin.
Ihr weiß gekalktes Haus mit seiner abblätternden Fassade und seinen verrotteten Fenstersprossen wirkte heruntergekommen, aber das kleine Wohnzimmer wurde völlig von einer großen ledernen Sitzlandschaft, einem Fernsehapparat und einer Stereoanlage beherrscht. Auf dem Couchtisch stand ein PC, daneben ein randvoller Aschenbecher und die Ausrüstung zum Zigarettendrehen, außerdem lagen da noch stapelweise »Ekstra Bladet« und »Se og Hør«, die nach der Tauschaktion dort gelandet waren.
Bitten und Kenneth waren so erschüttert über das Ereignis, dass sie ihrer Arbeit beziehungsweise der ABM-Maßnahme ferngeblieben waren und sich an der Tankstelle Bier und Kartoffelchips besorgt hatten. Sie erwogen ernsthaft, das Haus zu verkaufen und wegzuziehen, sagten sie und gaben Karin Namen und Telefonnummer einer Freundin von Linda Bertelsen.
Karin hielt den Besuch kurz, Kenneth bestand jedoch darauf, sie zum Auto zu bringen, und genau da ließ er, eingeleitet von einem Bierrülpser, die Bemerkung fallen: »Man macht sich ja so seine Gedanken.« Woraufhin er sie starr ansah.
»Worüber?«, fragte Karin.
»Na, dass er vielleicht seine Gründe hatte.«
Karin merkte, dass sie keine Fragen stellen musste.
Kenneth fuhr fort: »Da drüben herrschte ein lebhaftes Kommen und Gehen, Männer meist. Und Linda saß immer am Computer. Wissen Sie, so kommen die in Kontakt. Manchmal war sie tagelang weg. War ja auch eine leckere Frau, und Röcke hatte die, die saßen wie die Wurstpellen. Viel Phantasie braucht man da nicht.«
Karin unterbrach ihn: »Aber Bertelsen hat doch meist zu Hause gearbeitet?«
»Ja, schon, aber nicht immer. Nicht, dass ich etwas sagen will, und es bleibt ja unter uns, aber immerhin war sie viel jünger als er. Du bist doch auch schon erwachsen und weißt bestimmt gut, wie ich das meine …« Er sah sie zudringlich an.
»Auf Wiedersehen, und vielen Dank für die Hilfe«, sagte sie schroff. Ihr war unbehaglich. Schleimer, dachte sie.
Wieder in der Redaktion, rief sie Majbritt Poulsen, die Freundin der Getöteten, an.
»Albert und Linda sind gut miteinander ausgekommen«, sagte die Freundin mit großem Nachdruck. Nein, irgendwelche Dritten, die ein Eifersuchtsdrama ausgelöst haben könnten, waren da nicht im Spiel. Linda war hübsch und attraktiv, gewiss, aber nein, so etwas konnte sie sich nicht vorstellen. »Also, natürlich hatte es auch die üblichen ehelichen Reibereien Typ Zahnpastatube gegeben, aber sie haben immer einen harmonischen Eindruck gemacht. Sie waren doch erst vier Jahre verheiratet und hatten diesen lebhaften kleinen Jungen.«
Linda, die achtunddreißig Jahre alt geworden war, sei zum ersten Mal verheiratet gewesen; vor ihrer Heirat habe Linda beim »Supermann« im Büro gearbeitet, wusste die Freundin noch zu sagen.
Die letzte Information verwies Karin auf eine exklusive Quelle, denn der »Supermann« war ihr Bruder. In den letzten fünfzehn Jahren hatte er sich mit sieben Supermärkten in Süd-Seeland etabliert. Sein erfolgreiches Konzept hatte darin bestanden, Supermarkt und Kaufmann zu »Supermann« zu verbinden und damit die kleinen Geschäfte in den Hauptstraßen der Dörfer aus dem Feld zu schlagen.
»Und die Tochter, Betina Bertelsen, kennen Sie die auch?«
»Aber ja. Sie war der Liebling ihres Vaters, er wollte sie immer überreden, nach Hause zu ziehen, doch die jungen Leute haben schließlich keine Lust, irgendwo abgeschieden an einer Landstraße zu leben. Sie hat in einem Jugendheim gewohnt, vor einem Jahr hat sie das Gymnasium geschmissen. Später hatte sie Gelegenheitsjobs, eine Zeit lang in einer Kinderkrippe, glaube ich. Für sie muss das fürchterlich sein, ihre Mutter ist übrigens in Indien verschwunden.«
»Und welchen Eindruck hatten Sie von Albert Bertelsen?«
»Ja, was immer man über ihn auch sagen könnte … gewalttätig war er jedenfalls nicht.«
»Was könnte man denn über ihn sagen?« Karin hatte das Gefühl, da sei noch irgendwas.
»Wahrscheinlich war er nicht der Zuverlässigste. Gebrauchtwagenhändler. Wenn ich ganz ehrlich sein soll, meiner Meinung nach war er ein Blender. Aber das dürfen Sie natürlich nicht schreiben. Und es hat oft Probleme wegen Geld gegeben. Er hat gern auf großem Fuß gelebt, doch es hat nicht zu sehr viel gereicht. Deshalb hat Linda nebenher gearbeitet, aber das dürfen Sie natürlich auch nicht schreiben, bestimmt weiß das Finanzamt nicht alles.«
»Die Schäferhunde meinen Sie?«
»Ja. Und außerdem hat sie für kleine Firmen die Buchhaltung gemacht. Sie ist doch auf der Handelsschule gewesen. Dort haben wir uns kennen gelernt.«
Karin wusste nicht, ob es Wichtigtuerei oder PRFirlefanz war, wenn ihr Bruder sich selbst »Supermann« nannte und erwartete, dass Personal und Kunden ihn auch so ansprachen.
Sie fragte nach Klaus Sommer, erhielt aber von der Telefonzentrale und der Sekretärin die Antwort, der Supermann befinde sich in einer Besprechung.
Wie großspurig. Sie hinterließ die Nachricht, er solle seine Schwester in der Redaktion anrufen.
Während sie wartete, versuchte sie Chefredakteur Christoffersen zu Hause zu erreichen. Er hatte einen Freund mit Hundeinteressen, der vielleicht etwas über die Hundezucht der ermordeten Linda Bertelsen wusste. Offenbar war Christoffersen von seiner Mission in Litauen noch nicht zurück.
Weiter. Zu Kreisarzt Beck, der mit der Polizei am Tatort gewesen war. Er verhielt sich sehr abweisend und wollte überhaupt nichts sagen.
»Verzeihung, haben Sie gesagt, Sie sind vom ›Ekstra Bladet‹?«, fragte er mit übertriebener Ironie, als sie ihr Anliegen nannte.
»Natürlich will ich Sie nicht nach dem konkreten Sachverhalt fragen. Ich möchte Sie nur um eine ganz allgemeine Stellungnahme zu solchen Familiendramen bitten«, sagte sie vorsichtig.
»Kein Kommentar«, antwortete er in einer Stimmlage, die einem amerikanischen Präsidenten angestanden hätte.
Der Herr bewahre uns vor Selbstherrlichkeit.
Bis auf weiteres musste sie sich mit dem »unerklärlichen Familiendrama« abfinden. Einem Psychologen entlockte sie ganz allgemeine, ziemlich weitschweifige Äußerungen über unterdrückte Aggressionen, die plötzlich und unerwartet zu heftigen Entladungen führen. Im Internet fand sie Angaben aus offiziellen Statistiken zur Gewalt in der Familie, Totschlag und Selbstmord. Und die Leiterin des Krisenzentrums für Frauen, die für Zitate immer gut war, steuerte einen Kommentar bei: »Ja, Männer meinen oft, es sei ihr gutes Recht, Frau und Kinder mit in den Tod zu nehmen, damit sie bis in alle Ewigkeit Macht über die Familie haben.«
Häufig steckten Sucht und soziale Probleme dahinter, aber auch generelle Rollen- und Verhaltensmuster könnten in Krisensituationen extrem gewalttätige Formen annehmen.
»Das mag alles richtig sein«, sagte sie zu Thomas, dem Praktikanten, der mithörte. »Aber ich habe das eigenartige Gefühl, dass nichts davon auf den Bertelsen-Fall zutrifft. Alle sagen, er sei ein freundlicher, ruhiger, nicht gewalttätiger Mensch gewesen.«
»Das sagen die Leute immer, wenn einer als Mörder überführt ist: ›Er war ein liebevoller Familienvater, der sehr an seinen Kanarienvögeln hing‹«, meinte der junge Mann.
»Na ja. Ich muss eben das Rätselhafte, Unergründliche an der menschlichen Seele herausstellen.«
Dann rief ihr Supermann-Bruder an. Natürlich hatte er Linda Bertelsen gekannt. Er kenne sein gesamtes Personal, bis zum jüngsten Burschen in der Pfandflaschenannahme, darauf lege er Wert: management by walking around. Ob sie von diesem großartigen Führungsstil noch nichts gehört habe? Ach, nicht? Allerdings war es einige Jahre her, dass Linda Bertelsen bei ihm gekündigt hatte, um zu heiraten. »Schreibst du darüber?«, fragte er.
»Ja, vielleicht. Irgendwie. Du wirst natürlich nicht erwähnt.«
»Nein, Gott bewahre, aber ich kann auch nichts Aufsehenerregendes beisteuern. Ich habe sie gleich nach der Handelsschule eingestellt. Ein hübsches, munteres Mädchen, soweit ich mich entsinne. Grüß Christoffersen und schau bald mal bei uns vorbei«, schloss ihr Bruder mit leichter Ungeduld in der Stimme. Er war immer auf dem Sprung.
»Christoffersen ist verreist. Vermutlich ist er in Litauen, um schöne junge Frauen zu retten. Grüß Ellen und Maja.«
Der Supermann lachte und legte auf.
»Manchmal kriegt man direkt klaustrophobische Zustände, wenn man in so einem kleinen Ort lebt, in dem jeder jeden kennt. Mein Bruder ist mit unserem Chefredakteur befreundet, und er war mal der Chef der Frau, die in Kappelhøje umgebracht wurde«, sagte Karin.
»Eben, deshalb geh ich nach Kopenhagen, wenn ich das 8. Semester hinter mir habe«, sagte Thomas. »Und wenn es das ›Kristelig Dagblad‹ ist. In Provinznestern krieg ich die Krätze. Nur drei schöne Frauen habe ich hier gesehen. Zwei davon sind verheiratet, die dritte ist lesbisch.«
»Ach, und deshalb donnerst du immer in die Großstadt, nach Roskilde?«
»Mmmmh. Universitätszentrum Roskilde. Sie studiert Soziologie, will auch Journalistin werden.«
Karin ging ins Bahnhofscafé, um etwas zu essen. Das machte sie manchmal, wenn sie nicht selbst kochen wollte. Im Bahnhofscafé konnte man herumsitzen und so tun, als sei man auf Reisen. In den anderen Cafés und Restaurants des Ortes fühlte man sich stärker allein. Nicht, dass sie einsam war. Sie war gern Single.
Kopenhagen und die alten Freunde und Kollegen waren ja auch bloß eine Stunde entfernt, trotzdem sah man sich immer seltener. Mental war die Entfernung einfach größer geworden. Nach ihrem Zusammenbruch vor fünf Jahren, als sie nach Süd-Seeland emigriert war, wie die anderen so witzig kommentierten, hatte sie sich mehr und mehr in sich selbst zurückgezogen.
Ihr umtriebiger kleiner Bruder hatte sie aus dem Sumpf geholt und ihr bei fast allem geholfen: »Du, ich kenn den Chefredakteur der ›Sjællandsposten‹. Dort hast du einen netten, ruhigen Job. Ist doch besser, als sich in Nichtstun zu begraben. Eine Wohnung kann ich dir auch besorgen.«
Und so war es gekommen. Zuerst Roskilde und Køge und dann, nach der Zeitungszusammenlegung, das neue, zentrale Medienhaus, wie man es im Hinblick auf die künftigen, neuen elektronischen Aktivitäten nannte.
Von diesem Medienhaus, das man auf einer Wiese vor der Stadt errichtet hatte, wurde ganz Süd-Seeland versorgt, auch die gemeinsamen Inlandsund Auslandsseiten wurden hier produziert, mit Beiträgen der politischen Redaktion in Kopenhagen. Die Redaktion in Hillerød war für Nord-Seeland, die in Kalundborg für West-Seeland zuständig. Das große, moderne Regionalzeitungskonzept.
Sie bestellte sich eine halbe Flasche Wein, sie war mit der Arbeit des Tages zufrieden. Keine große Geschichte, aber eine handwerklich saubere Sache, bei der sie das Beste aus dem vorliegenden Kleinkram gemacht hatte. Die Andeutung, die ermordete Frau habe mit Hilfe des Internets Prostitution betrieben, fiel ihr ein und wieder hatte sie das unangenehme Gefühl, sie sei dieser Geschichte noch nicht ganz auf den Grund gegangen. Es gab zu viele unbeantwortete Fragen und lose Enden, die sie irritierten und ihre persönliche Neugier weckten. Nach dem zweiten Glas Wein hatte sie eine Idee, die sie sofort in die Tat umsetzte, als sie nach Hause kam.
Karin hatte früher verschiede Internet-Foren besucht, aus reinem Wissensdurst, wie sie es vor sich selbst entschuldigte. Damals hatte sie sich einen Überblick über das Männerangebot im Internet verschafft.
Um die Wahrheit zu sagen, eine Zeit lang war sie ziemlich angetan von den Möglichkeiten gewesen. Hatte den Computer mit ins Bett genommen und in herrlicher Anonymität mit potentiellen Liebhabern gechattet. Einigermaßen erfolgreich hatte sie zwei ins wirkliche Leben gelockt. Einen bei einer Gemeindeverwaltung in Nord-Seeland beschäftigten Ingenieur, dessen Ehe festgefahren war, und einen richtig gut aussehenden jungen Steuerberater, der ein Faible für ältere Frauen hatte. Zum ersten Mal war sie mit einem Mann im Bett gewesen, der ihr Sohn hätte sein können. Im Internet hatte sie die interessante Erfahrung gemacht, dass manche jüngere Männer reife, ältere Frauen suchten. Ein ansonsten ziemlich wohlgehütetes Geheimnis.
Verliebt hatte sie sich in die Internet-Lover nicht, für ihr Selbstwertgefühl aber waren sie wichtig gewesen. Ihre sexuelle Aktivität beziehungsweise ihr Verzicht darauf, war selbstbestimmt. Sie lief nicht mehr mit dem Gefühl herum, alt, verbraucht und ausrangiert zu sein. Man musste sich nur am Spiel beteiligen.
Und es waren viele Spiele im Gang. Bei einigen ging es ganz unverhohlen um Pornografie, und da konnte man alle Arten von Angeboten finden, während in anderen Foren Zärtlichkeit, häusliche Geborgenheit und gemeinsame Opernbesuche gefragt waren.
Sie meldete sich bei zwei der eher offenherzigen Foren an und verfasste das folgende Profil:
»Kappelhøje-Girl.
Erinnerst du dich noch? MELDE DICH! Neue Adresse und Telefonnummer. Antworte!«
Am folgenden Morgen hatte sie sieben Antworten. Fünf der Absender gaben ganz offen zu, dass sie noch nie in Kappelhøje gewesen waren, aber ziemlich geil seien und gern kommen würden. Zwei waren etwas suspekter. Sie taten so, als seien sie dort gewesen, schrieben aber nichts, was es beweisen konnte. Diesen beiden antwortete sie:
»Ich weiß nicht, ob du der Richtige bist? Kannst du mir etwas über mich und meine Wohnung sagen? Hier kann sich schließlich jeder melden, also muss man mit der Herausgabe seiner Adresse vorsichtig sein.«
Ein Schuss ins Blaue, dachte sie, während sie nach wärmeren Kleidungsstücken suchte, der Sommer ließ nach wie vor auf sich warten … Linda Bertelsen dürfte wohl kaum Prostituierte gewesen sein, das Familiendrama würde ungeklärt bleiben. Kriminalinspektor Halfdan Thor hatte entschieden ausgeschlossen, dass andere Männer in das tödliche Drama verwickelt sein könnten, hatte aber hinzugefügt, man müsse das Ergebnis der kriminaltechnischen Untersuchung abwarten, bevor man den Fall abschloss. Sie durfte nicht vergessen, ihn danach zu fragen.