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Freitag, 8. Juni
ОглавлениеKarin erwachte mit einem seligen Lächeln auf den Lippen. Sie hatte im Traum einen multiplen Orgasmus gehabt – mit ihrer Katze. Absolut perfekt. Das daunenweiche Katzenfell hatte sie mit einer Luftigkeit und Leichtigkeit gestreichelt, die sie nach mehr verlangen ließ, und der klitzekleine Penis, der nicht zu fühlen war, gab der Traumphantasie Stoff für eine Serie explosiver Orgasmen.
Anfangs freute sie sich über ihr Glück. Meist erwachte sie, unmittelbar bevor die sexuellen Träume ihren Höhepunkt erreicht hatten. So wie sie als Kind von Schokolade geträumt hatte und aufgewacht war, bevor sie sie im Mund hatte.
Dann vergegenwärtigte sie sich langsam Inhalt und Einzelheiten ihres Traums.
Für Freud wäre das ein Leckerbissen gewesen, dachte sie halb belustigt, während sie die Espressokanne aufsetzte: Altjungfernsex mit Katze.
Kater, wie sie das Tier einfach nannte, war kurz nachdem sie vor vier Jahren in ihre Wohnung im umgebauten Lagerhaus am Hafen einzog, zu ihr gestoßen. Als großes Kätzchen war er buchstäblich auf ihren Balkon gefallen, wohin er über einen Baum, eine Feuertreppe und einen Balken, der wie ein schwarzer Zeigefinger aus der Hauswand ragte, gefunden hatte. Der Balken war der denkmalgeschützte Rest eines Krans, der aus der Vergangenheit des Hauses stammte.
Noch immer nahm Kater diesen Weg, und das war das Angenehme an ihm. Er war nicht ihr Eigentum. Sie wohnten nur zusammen, sagte sie immer. Er kam und ging, wie er wollte, und war eine bekannte Erscheinung im Hafen, wo die Angler für einen großen Teil seiner täglichen Unterhaltung und Verpflegung sorgten.
Mit der Zeit hatte sich zwischen Karin und Kater eine ziemlich enge Beziehung entwickelt. Meist wartete er, dass sie ihn streichelte, wenn sie nach Hause kam, und versuchte sie mit vorsichtigem Kratzen und kleinen Bissen zu reizen, wenn sie mit Büchern oder Zeitungen beschäftigt war. Oder er lag schlafend auf ihrer Bettdecke.
Karin ertappte sich dabei, dass sie sich mit ihm unterhielt und sich Sorgen machte, wenn er zu lange unterwegs war. Jedoch pflegte sie zu ihrer Funktion als Katzenmutter eine selbstironische Distanz zu wahren: »Wir sind wie ein altes Ehepaar, wo einer die Gewohnheiten des andern kennt …«
»Ja, in Wirklichkeit schleiche ich nachts herum und füttere alle Katzen der Stadt …« Und was sie sich sonst noch einfallen ließ, um spöttischen Bemerkungen zuvorzukommen und sich über das Kuscheltiersyndrom lustig zu machen, das sie bei anderen stets albern gefunden hatte. Kater vertrug sich nicht sehr gut mit ihrem Selbstbild einer rationalen, reifen Frau.
An diesem Tag plante sie einen Besuch bei Betina Bertelsens letzter Adresse in Rødovre. Irgendwas stimmte an der Sache nicht. Sollte der Teufel doch die Zeitung, Adam und Christoffersen holen – ihre persönliche Neugier befahl ihr, den losen Fäden zu folgen.
Soweit sie sich erinnerte, war es ungefähr ein Jahr her, seit sie sich zuletzt krank gemeldet hatte. Sie hatte deshalb keine Skrupel, anzurufen und mitzuteilen, sie könne nicht zur Arbeit kommen.
Als sie die Tür zum Balkon öffnete, um die Hafenaussicht zu genießen, sprang Kater von seinem Balken herunter und rieb sich schnurrend an ihren Beinen.
»Na, da ist ja Mamas frecher kleiner Kater«, sagte sie und streichelte ihm den Rücken.
Jesper hatte vergeblich bei der Polizei von Rødovre angerufen. Nein, es sei absolut unmöglich, in allen Fällen eine Anzeige aufzunehmen, in denen jemand um ein Haus herumschleicht. Nur im Fall eines vollendeten Einbruchs könnten sie jemanden schicken.
Jeanette war ein bisschen besorgt gewesen, weil sie mit dem kleinen Waldemar und ihrem großen Schwangerenbauch allein im Haus war. Als diese Frau geläutet hatte, wollte sie anfangs nicht aufmachen, dann aber fiel ihr ein, dass es sich ja um eine neue Mieterin handeln konnte, wie eine Einbrecherin sah sie jedenfalls nicht aus.
Jeanette war Mitte dreißig und Heimarbeiterin, ein Wort, das sie mit demonstrativem Stolz aussprach, um dann sofort ihren Status zu verteidigen. Für die Kinder und für Jesper war es besser so, und außerdem war es ihre eigene, freiwillige Entscheidung.
»Warum schauen andere so gern auf Frauen herab, die Heimarbeiterinnen sind?«
»Ist das so?«
»Ja. Statt dran zu denken, wie viel Geld wir dem Staat ersparen, und unsere Kinder verwahrlosen nicht und werden keine Kriminellen … Heute Nacht hat jemand versucht hier einzubrechen, als Jesper aber das Licht anmachte und aufgestanden ist, ist er geflüchtet. Die Polizei hatte keine Zeit zu kommen. Die müssen ja Prioritäten setzen, und man muss schon fast tot sein, bis sie mal ausrücken. Diese Einwanderer in der zweiten Generation sind auch …«
Karin lauschte interessiert und führte beim Tee eine professionelle Konversation. Der Kunde hatte immer Recht. Und die Quellen auch, solange man aus ihnen schöpfen muss.
Ja leider, Betina war vorgestern ausgezogen. Wegen des Todes ihres Vaters und so weiter. Furchtbar, das arme Mädchen. Aber was für ein Glück, dass sie vorher weggegangen sei, ehe dieser Desperado auf die Familie losging.
Karin nickte, und Jeanette fuhr fort: »Sie hatte nur eine Sporttasche bei sich, als sie ging. Ich habe sie gefragt, was mit dem Rest ihrer Sachen wird, aber nein, sie hat alles in einen großen, schwarzen Plastiksack getan und in die Garage neben die Säcke mit dem Gartenabfall gestellt, die am Montag mit dem Sperrmüll abgeholt werden.«
Karin hatte sich Jeanette nicht als Journalistin, sondern als Bekannte von Betinas Familie vorgestellt, die das vermutlich deprimierte Mädchen aufsuchen wollte.
Das konnte Jeanette gut verstehen: »Man muss doch jemanden haben, mit dem man sprechen und bei dem man sich ausweinen kann, oder? Das habe ich ja auch versucht, aber sie war vor Kummer wie versteinert. Sie war überhaupt ein bisschen kontaktscheu. So der Typ, der irgendwie eine Schale um sich herum hat. Mit leeren Augen. Harte Kindheit, glaube ich. In ›Alles für die Frau‹ hat ein Psychologe geschrieben …«
»Wissen Sie, ob sie gearbeitet hat?«
»Vor vier oder fünf Monaten wurde sie als pädagogische Mitarbeiterin entlassen. Ich glaube nicht, dass sie eine andere Arbeit gefunden hat, aber abends ist sie viel ausgegangen, vielleicht mehr, als ihr gut getan hat. Na ja, ich fange an alt und prüde zu werden, die Mieter sollen ihr Privatleben so einrichten, wie sie wollen, doch es ist mir aufgefallen, dass sie bis weit nach Mittag im Bett gelegen hat, und blass und krank hat sie ausgesehen, wenn sie endlich aufgestanden ist. Ich habe versucht mit ihr zu reden und gesagt, sie soll sich doch lieber einen netten Mann suchen wie Jesper und …«
Jeanette hatte sich nach jahrelangen vergeblichen Versuchen, einen Traumjob zu finden, bequem in der traditionellen Frauenrolle eingerichtet. Zuerst hatte sie den Versuch aufgegeben, das Abitur auf dem Zweiten Bildungsweg zu machen. »Denn das kann doch nicht der Sinn der Jugend sein, dass man sich das Leben entgehen lässt.« Dann hatte sie eine Friseurlehre abgebrochen. »Meine Hände sind dick und rot geworden, ich habe mich vor diesen Chemikalien einfach gefürchtet. Dieser ganze giftige Kram.«
Ihre Eltern hatten viel Geld für eine private Ausbildung zur Kosmetikerin ausgegeben, die aber hatte ihr nichts gebracht. »Das war der reine Betrug, es gibt so viele Kosmetikerinnen und fast keine Jobs.« Dann hatte sie mit der Ausbildung zur Reflexzonentherapeutin begonnen. »Aber in diesem Fach gibt es zu viele Pfuscher«, sagte sie und lächelte.
Zu guter Letzt hatte sie Jesper gefunden, und nun »arbeitete man an seiner Karriere und konzentrierte sich auf andere Werte«. Waldemar war drei, ihr zweites Kind sollte sie Anfang September bekommen. Jesper war Elektrotechniker, er bildete sich zum Ingenieur weiter und ging voll und ganz im Familienleben auf.
»Wir müssen nur wegen dem Familienzuwachs vermieten«, sagte sie, als sie in das Souterrain des Bungalows gingen, wo Betina in den letzten sechs Monaten ihren offiziellen Wohnsitz gehabt hatte.
Es war ein großes, erstklassiges Zimmer. In einer früheren Waschküche gab es eine kleine Küche, und auch eine eigene Toilette und eine kleine Dusche hatte Betina gehabt. Die Möblierung bestand aus Bett, Tisch und Kleiderschrank, die Mieterin hatte keine eigenen Möbel mitgebracht oder gekauft.
Karin sah sich um und öffnete den Schrank, doch es gab keinerlei Spuren der früheren Mieterin.
»Wenn wir ohnehin einmal hier sind, können wir auch gleich die Matratze mitnehmen, die soll zum Sperrmüll«, sagte Jeanette. Sie hoben die Matratze an, und ein kleiner, bordeauxroter Seidenklumpen fiel aus der Ritze zwischen Matratze und Wand.
»Hallooo!«, sagte Jeanette und ließ die Matratze fallen. Sie hielt das bordeauxrote Textil mit zwei Fingern in die Höhe und schüttelte es, worauf es sich zu einem Paar Boxershorts für Männer entfaltete.
Jeanettes Augenbrauen stiegen zur Stirn, sie öffnete und schloss einige Male den Mund, dann stammelte sie: »Die gehören Jesper. Ich habe sie ihm selbst gekauft, als wir auf Malta waren.«
O nein, dachte Karin müde. Laut sagte sie: »Dafür, dass die hier gelandet sind, kann es viele Erklärungen geben.«
»Aber nur eine wahrscheinliche«, schluchzte die Hochschwangere.
Karin war geneigt, ihr Recht zu geben, protestierte aber empört und konnte die junge Frau schließlich beruhigen.
»Rufen Sie mich an, wenn Jesper etwas weiß, das mich auf Betinas Spur bringt, und den Müllsack mit ihren Sachen nehme ich mit, dann haben Sie keine Arbeit damit.«
Jeanette hatte sich gesammelt, nickte und meinte: »Ich glaube, ich sage nichts von diesen Boxershorts zu Jesper. Wozu soll das gut sein? Ist es nicht besser, wenn man so etwas auf sich beruhen lässt?« Sie lehnte sich in ihrem Gartenstuhl zurück und faltete die Hände über ihrem großen Bauch.
»Ja, manchmal schon«, sagte Karin.
Auf den ersten Blick sah es so aus, als enthielte Betinas Müllsack nur Schmutzwäsche, sie legte ihn gut verschlossen in den Kofferraum ihres Autos. Dann rief sie Birgitte, eine alte Freundin und Kollegin an, die demnächst ihr vierzigstes Jubiläum bei der großen Kopenhagener Morgenzeitung feierte. Es würde ihr ausgezeichnet passen, wenn sie zusammen zu Mittag essen könnten.
»Aber keine Bambussprossen, ich hasse Bambussprossen, ich brauche Fleisch«, sagte Karin.
»Wie unweiblich«, seufzte Birgitte.
»Das liegt am Alter. Außerdem lege ich mir gerade einen Vollbart zu, lass uns irgendwohin gehen, wo es keine Spiegel gibt.«
Sie entschieden sich für eines der altmodischen Restaurants im Stadtteil Fredriksberg, und nach einem Schnelldurchlauf durch Birgittes umfangreiches Familienleben (seit dem letzten Mal hatte sie zwei weitere Enkel bekommen) kam das Gespräch ganz unvermeidlich auf die Zeitung, die alten Kollegen und Bekannten. Verstorbene, Rentner, Frührentner, bei Verhandlungen und Rationalisierungsmaßnahmen Freigestellte.
»Freigestellt. Schönes Wort, nicht? Irgendwann soll in der Redaktion aufgeräumt werden, und dann bestellen sie die Leute nach oben und teilen ihnen mit, sie seien freigestellt. Am Anfang gab es tatsächlich einige, die nicht begriffen haben, was das heißt, und es sich vom Vertrauensmann erst übersetzen lassen mussten: Du fliegst raus, wenn du nicht innerhalb einer bestimmten Zeit einen neuen Job gefunden hast.«
»Und da sprechen sie vom grauen Gold.«
Karin sah Birgitte an, dunkelhaarig, rundlich, immer vergnügt. Nicht blasiert, positiv eingestellt, beliebt und unglaublich produktiv. »Du brauchst dich doch nicht bedroht zu fühlen«, sagte sie.
»Sag so was nicht. Plötzlich ist man unmodern. Oder man hat selbst keine Lust mehr und bleibt stehen. Weißt du, was ich heute machen muss?«
Karin schüttelte den Kopf.
»Ich soll die fünf schicksten Zahnbürstenhalter finden … für das Badezimmer. So etwas nennt man ›Dienstleistungsjournalismus‹«.
»Das ist bei uns jetzt auch modern«, sagte Karin.
»Wenn mir jemand vor 30 Jahren gesagt hätte, ich würde meine journalistische Karriere damit beenden, dass ich durch Läden renne und mir Zahnbürstenhalter ansehe, hätte ich mich krumm gelacht. Nee, nee, man hatte zu tun mit dem Weltfrieden, der Frauenbewegung, der Umwelt, dem Antimaterialismus und was weiß ich noch alles.«
»Vielleicht liegt es einfach an uns, wir sind alt geworden und wissen nicht mehr, wo die Front liegt. Bei den Jungen läuft es …«
»Man wird ruckzuck abserviert. Engagement ist nicht mehr modern, und wenn man etwas ernst nimmt, gilt das als pathetisch.«
»Der Zeitgeist«, sagte Karin und erzählte von ihrem Besuch bei der hochschwangeren Heimarbeiterin.
Sie lachten hässlich, als Karin zu den Boxershorts des Gatten hinter dem Bett der Untermieterin kam.
»Wie lange geben wir ihnen? Zehn Jahre? Dann ist sie in den Vierzigern, allein stehend und nimmt an einem Kurs zur Wiedereingliederung teil«, meinte Birgitte.
»Ist dir aufgefallen, dass die Geschichten immer voraussehbarer werden?«, fragte Karin.
»Gute Prognosen erstellt man auf dem Fundament breiter Erfahrung«, antwortete Birgitte.
Und schließlich das unvermeidliche Thema: Wie es um Karins Liebesleben stehe.
»Schwach, schwach«, antwortete sie. »Heute Nacht habe ich geträumt, ich bumse mit meinem kastrierten Kater. Als ich aufgewacht bin, war ich ganz verlegen. Und du?«
»Ich hab keinen Kater. Hört sich übrigens kuschelig und warm an. Hans und ich haben keine Lust mehr. Wir wollen ganz einfach nicht mehr. Vielleicht liegt es auch nicht im Interesse der Natur, dass man weitermacht. Wir haben uns selbst so reichlich reproduziert, mittlerweile teilen wir lieber einen anständigen Jahrgangswein als das Bett miteinander. Und gehen lieber am Meer spazieren, statt dass wir schwitzend herumliegen und uns abrackern, bis wir diesen unwichtigen Krampf im Unterleib kriegen. Eigentlich ist es uns nie besser gegangen, glaube ich.«
»Aber ich, ich habe die Natur betrogen und mich nicht reproduziert, und deshalb verlangt sie nach wie vor ihr Recht. Vielleicht sollte man Leihmutter werden, damit man Ruhe hat«, seufzte Karin.
»Und wie geht es deinem schicken, reichen Bruder?«, wollte Birgitte wissen.
»Nicht schlecht. Er hat viel zu tun mit neuen Geschäften hier und dort und überall, im In- und Ausland. Er ist nach wie vor verheiratet und hat ein Kind, ein niedliches Gör, Maja heißt sie.«
»Seufz. Er hätte mich fast zu einem Seitensprung verführt.« Birgitte machte den Eindruck, als entspräche das den Tatsachen. Karin hielt es für völlig unmöglich, den eigenen Bruder als Sexualobjekt zu beurteilen, sie erinnerte sich aber dunkel an ein Fest, auf dem Birgitte und Klaus sehr eng miteinander getanzt hatten. Das war vor der Heirat von Klaus und Ellen gewesen.
Sie unterhielten sich weiter auf ihre direkte, vertrauliche Art. Dann musste sich Birgitte jedoch endlich auf die Jagd nach den Zahnbürstenhaltern machen.
Aufgeräumt ging Karin zum Parkplatz. Sie war immer guter Laune, wenn sie sich mit Birgitte getroffen hatte, und beschloss wieder mal, dass sie sich künftig häufiger sehen sollten.
Sie blieb an einem Fußgängerüberweg stehen, als drei große Linienbusse vorbeifuhren. Ein langer junger Mann tippte ihr auf die Schulter, als die Busse vorbei waren.
»Ich glaube, wir Menschen haben mehrere Leben«, sagte er.
Sie sah in seine weit aufgerissenen, psychotischen Augen.
»Das glauben viele«, antwortete sie freundlich.
»Ja. Aber die meisten wissen nicht, wie gefährlich die Übergänge zwischen den verschiedenen Leben sind. Die Perioden, wenn man sich im leeren Raum, im Nichts befindet.«
»Aha«, sagte Karin und blieb stehen, obwohl die Ampel mittlerweile »Grün« zeigte.
»Für Menschen, die mit öffentlichen Verkehrsmitteln fahren, sind diese Übergänge außerordentlich gefährlich«, sagte er und deutete auf die Linienbusse.
»Tatsächlich?«
»Ja, wenn man sich von Bussen, Zügen und Flugzeugen befördern lässt, verliert man die physische Dimension und ist außerstande, sich im Nichts zu orientieren. Entschuldigen Sie, wenn ich Sie belästigt haben sollte. Ich wollte Sie nur warnen, Sie sehen so freundlich aus.«
»Vielen Dank. Haben Sie vielen Dank«, antwortete Karin herzlich.
Wenn es einem selbst einmal so ergangen ist, zieht man die Geisteskranken an, dachte sie. Seit sie mit einer reaktiven Psychose im Krankenhaus gelegen hatte, entdeckte sie, dass die Welt voller gestörter Menschen war, und häufig wendeten genau die sich an sie. Das war völlig in Ordnung. Sie hatte Mitgefühl, und außerdem faszinierte sie, was vom menschlichen Geist sichtbar wurde, wenn erst der Lack ab war. Auf der Fahrt nach Hause hielt sie an, um sich ein Paar Gummihandschuhe und eine Rolle Müllsäcke zu kaufen. Um nicht im Hof zu stehen wie ein Lumpensammler, trug sie den Sack mit Betina Bertelsens Müll direkt in ihre Rumpelkammer im Keller, wo sie den Inhalt untersuchte und sortierte. Betina war offenbar der Typ, der sich neue Unterhosen kaufte, statt die schmutzigen zu waschen. Karin stopfte die Kleider in einen neuen Sack. Zurück blieb ein ziemlich unappetitliches Sammelsurium aus zerknüllten Papierservietten und – was ihren Verdacht bestätigte – einer Einmalspritze und einer leeren Packung Ketogan. Betina Bertelsen war süchtig, und offenbar spritzte sie auch.
Sie hatte gehofft, etwas zu finden, das sie auf Betinas Spur bringen konnte, Briefe, Notizen, Merkzettel oder Telefonnummern, aber da war fast nichts. Auf einer zusammengeknüllten leeren Zigarettenpackung standen der Name Alexander und eine Handynummer. Eine zufällige Kneipenbekanntschaft oder ihr Drogendealer? Jedenfalls wohl kaum ein naher Bekannter. Das Interessanteste war vielleicht ein Fetzen von einem computergeschriebenen Text. Es waren nur einige wenige Worte: » … nun aber festgestellt …« Der Rest fehlte, die nächste Zeile lautete: »… mit rückwirkender Kraft …«
›Rückwirkende Kraft‹, war das nicht ein juristischer Begriff? Gesetze mit rückwirkender Kraft und die Worte des Dichters Kristen Bjørnkjærs: Liebe endet mit rückwirkender Kraft. Und warum war dieser Brief zerrissen worden? Sie suchte nach weiteren Stücken, aber vergeblich.
Stattdessen fand sie einen geöffneten Umschlag mit einer Aufforderung sich bei der epidemiologischen Abteilung des Reichshospitals zu melden. Leberentzündung oder vielleicht HIV? Im Allgemeinen konnten sich junge Mädchen Stoff nur auf eine Weise beschaffen, durch Prostitution, dachte Karin. Verschiedenes mochte darauf hindeuten, dass Betina versuchte davon loszukommen, weil sie zeitweise zu ihrem Vater und ihrer Stiefmutter gezogen war. Vielleicht war sie sogar auf der Flucht vor dem Milieu? Ganz offensichtlich hatte sie ihren Umzug geplant. Vielleicht konnte das aber auch mit ihrem Verhältnis zum Hausherren zu tun haben. Gab es einen Zusammenhang mit den fürchterlichen Ereignissen in Kappelhøje? Oder vielleicht suchte sie in Indien nach ihrer Hippiemutter?
Karin beendete ihre Mutmaßungen. Am Montag würde sie Halfdan Thor anrufen. Die Polizei musste schließlich erfahren, dass Betina Zweifel an den ihrem Vater unterstellten Morden und seinem Selbstmord geäußert hatte und anschließend von ihrer Wohnadresse verschwunden war.
Sie zog die Gummihandschuhe aus und stopfte den Brieffetzen, die Zigarettenpackung und die Aufforderung vom Reichshospital in die Seitentasche ihrer Trekkinghose.
Dann ging sie über die rustikale Vordertreppe des alten Lagerhauses hinauf zu ihrer Wohnung in der dritten, obersten Etage. Abrupt blieb sie auf dem Treppenabsatz stehen. Am Türgriff ihrer Wohnung hing eine große, offenbar schwere, gefüllte Plastiktüte.
Was soll der Quatsch? Das kann doch nur Dreck sein, dachte sie, nahm den Griff der Tüte vom Türknauf und sah hinein. Es war schlimmer.
Sie schrie nicht, wurde aber leichenblass und begann zu zittern. Dann setzte sie sich hin, und nach einigen Minuten hatte sie sich soweit in der Gewalt, dass sie ihren Bruder anrufen konnte.
»Klaus, du musst sofort kommen. Jemand hat Kater umgebracht. Er hängt an meiner Tür …«
»Was sagst du da? Ruhig, nur ruhig, in zehn Minuten bin ich da.«
»Das war meine Schwester. Sie hat etwas Merkwürdiges erzählt. Wenn sie nur nicht wieder krank wird«, sagte der Supermann zu seiner Sekretärin, als er aus dem Büro rannte.
»Ich kauf dir eine neue«, sagte Klaus. »Was für eine möchtest du? Ich denke, du solltest dir eine hübsche Rassekatze anschaffen.«
»Das ist lieb von dir, aber ich will keine Katze mehr. Kater war etwas Besonderes. Er ist selbst eingezogen, und wir haben uns die Wohnung nur geteilt. Doch ich würde gern dieses Schwein finden, das … Soll ich es der Polizei melden?«
»Das kannst du. Ich denke bloß, die haben nicht die Möglichkeiten, in einem Katzenmord zu ermitteln, und außerdem würden sie das ein bisschen, ein bisschen …«
»Lächerlich und altjungfernhaft finden.« Karin vollendete den Satz selbst. Natürlich würde sich die ganze Station den Bauch halten vor Lachen, wenn die Kriminalreporterin erschien, um einen Katzenmord anzuzeigen.
»Aber dieser Zettel, den der Täter geschrieben hat. Glaubst du, das ist eine Drohung?«, fragte sie.
Mit der Katze hatte in der Tüte ein zusammengefalteter Din-A4-Bogen gelegen, auf dem mit großen Buchstaben AN DIE SCHNÜFFLERIN stand.
»Klar, das ist irgendein Kranker, und du hast ihn oder sie wahrscheinlich mit irgendwas provoziert, das du in der Zeitung geschrieben hast. Bei Personen des öffentlichen Lebens ist so etwas nicht ungewöhnlich«, sagte ihr Bruder.
»Aber woher wusste er, dass Kater zu mir gehört?«
»Du weißt doch, in diesem Provinznest kennt jeder jeden.«
Er schlug vor, sie solle über das Wochenende mit zu ihm kommen. Die ganze Familie würde sich freuen, sie zu sehen, und sie käme auf andere Gedanken.
»Das ist lieb von dir, Klaus, aber ich bleibe lieber allein.«
»Ich bin mir nicht sicher, ob das gesund für dich ist.«
»Ich bin absolut gesund. Ich bin nur traurig, weil meine Katze tot ist.«
»Wie du willst. Kater bekommt ein schönes Grab in unserem Garten, doch jetzt muss ich mich beeilen, ich habe eine Sitzung beim Fremdenverkehrsverband. Ruf an, wenn du Probleme hast.«
Er nahm sie fest in den Arm, und sie spürte, wie ihr die Tränen ins Auge stiegen.
»Danke, dass du immer da bist«, sagte sie.
»Das fehlte noch«, antwortete er und griff nach der Tüte mit Katers Leiche.
Das Wochenende war lang, denn es war schwer, mit einer Trauer fertig zu werden, über deren Umfang man sich schämt. Mein Gott, Menschen bekommen Krebs oder sie verunglücken, verlieren Kinder und Ehepartner, hungern, werden gefoltert, kommen im Krieg um … und ich laufe herum und heule wegen einer Katze, dachte sie.
Sie rief bei allen Nachbarn an und sprach mit fast sämtlichen Leuten im Hafen. Alle waren über den Mord an Kater entrüstet, aber nein, ein Fremder mit einer großen Tragetüte von NETTO war niemandem aufgefallen. Ein Angler war sich sicher, dass er Kater gegen 11 Uhr einen kleinen Fisch gegeben hatte. Oder war das doch am Tag vorher gewesen?
AN DIE SCHNÜFFLERIN! Sie hatte das sichere Gefühl, das könne eigentlich nur im Zusammenhang mit ihrem Artikel über das Familiendrama in Kappelhøje stehen. Rache oder Warnung? Dieser Artikel hatte einen Riesenwirbel verursacht, drohen lassen wollte sie sich jedenfalls nicht. Am Montag würde sie Halfdan Thor anrufen.
Beim Fremdenverkehrsverband trafen Chefredakteur Werner Christoffersen und Klaus Sommer aufeinander.
»Ich komme gerade von Karin. Geht ihr nicht so gut. Jemand hat ihre Katze umgebracht, während sie in Kopenhagen war, und du weißt ja, dass sie ein bisschen empfindlich ist. Ich hab immer Angst, diese Krankheit bricht wieder aus. Sei lieb zu ihr«, sagte Klaus Sommer zu Karins Chef, als sie nach der Sitzung miteinander durch den Ort gingen.
»Aber natürlich, für so was haben wir doch immer Verständnis.«
Lene Beck war zunächst verwirrt, als sie den Anruf des großen Hotels in München entgegennahm und bestätigte, sie sei die Frau des Kreisarztes Beck.
»Ich habe etwas im Zimmer vergessen?«, fragte sie. Sie überlegte rasch. Den Namen des Hotels hatte sie noch nie gehört, und in München war sie auch nicht gewesen. Anders hingegen schon – vor einem Monat, zu irgendeinem Ärztekongress.
»Mein Mann hat Anfang Mai an einer Konferenz in ihrem Hotel teilgenommen«, sagte sie in ihrem besten Schulenglisch.
»Ja, am Wochenende vom 5. auf den 6. Mai, der Veranstalter hat uns Ihre Adresse und Telefonnummer gegeben, Sie haben nämlich eine Halskette vergessen.«
Sie nannte die Adresse ihrer Geschenkboutique. »Und vielen herzlichen Dank für Ihre Freundlichkeit.«
Gegenüber ihrem Mann erwähnte Lene Beck diesen Vorfall nicht. Als sie die Kette nach einigen Tagen in Händen hielt, studierte sie sie genau und war nicht sonderlich überrascht. Sie versteckte sie an einem sicheren Ort in ihrem Hinterzimmer. So war sie gegen eine demütigende Scheidung gesichert. Nicht, dass sie der Meinung war, Anders trüge sich mit konkreten Scheidungsabsichten, aber man konnte nie wissen. Sie hatte einige Frauen gesehen, die kopfüber die soziale Rangleiter hinuntergefallen waren, als ihre Männer sie wegen jüngerer Frauen verließen.
Gegen ein solches Schicksal war sie gefeit. Das würde er niemals wagen. So billig käme er nicht davon. Lene Beck, die selbst aus einfachem Milieu stammte, fürchtete Armut und sozialen Abstieg mehr als alles andere. Mit allem anderen konnte sie leben.
Die Herbstkollektion musste geplant werden. Sollte sie ein wenig mehr bestellen? Und was? Die junge Mode war so furchtbar hässlich, fand sie. Überall gestreiftes Nylon und andere geschmacklose Kunststoffe. Aber sie musste versuchen, die Jungen in den Laden zu locken. Andererseits gab es Bedarf an Elegantem und Schönem für reifere Frauen, beige, olivegrün, rostrot im klassischen Schnitt. Nein, bei den Teenagern würde sie sich nicht anbiedern. Da konnte sie ohnehin nicht mithalten, entschied sie.