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Noch einmal von vorn und neu erzählt Die Geschichte des Kampfes um das Frauenwahlrecht in Deutschland
ОглавлениеDie Geschichte des Frauenwahlrechtskampfes in Deutschland ist auf den ersten Blick gut erforscht. Im Zuge der Etablierung der Frauen- und Geschlechtergeschichte und in der Folge von Jubiläen oder runden Geburtstagen erschienen zahlreiche Einzelstudien, und mit der 1998 postum publizierten Dissertation von Ute Rosenbusch legte zum ersten Mal eine Juristin eine Arbeit über den Weg der deutschen Frauen zum Wahlrecht vor.1 Seit der Jahrtausendwende ist es allerdings – bezogen auf die Forschungen zur deutschen Entwicklung – eher ruhig um das Thema geworden, lediglich zum 90. Jahrestag 2008 erschienen noch einige Arbeiten, darunter die wichtige Arbeit von Angelika Schaser, die in ihrem Text auf die ältere Forschungsliteratur2 einging und auf immer wieder nacherzählte Stereotypen hinwies.3 Auch die Historikerin Gisela Bock, die sich als eine der ersten kritisch mit besonders wirkmächtigen Arbeiten zur Geschichte des Frauenwahlrechts in Deutschland auseinandergesetzt hat, konstatierte, dass viele dieser Arbeiten einen deutschen »Sonderweg« postulierten, ohne diese These tatsächlich beweisen zu können.4
Es sind, so Gisela Bock, vier Argumentationsmuster die diese »Sonderwegthese« untermauern sollen. Dies ist einmal die Hinwendung der deutschen Frauenbewegung des 19. und frühen 20. Jahrhunderts zum Differenzansatz. Bei diesem argumentierten die Aktivistinnen mit einer besonderen Rolle der Frau in der Gesellschaft aufgrund ihres »natürlichen« Geschlechtscharakters. Das Argument einer grundsätzlichen Verschiedenheit zwischen Mann und Frau habe zur Folge gehabt, dass die deutschen Frauenrechtlerinnen »das Wahlrecht eigentlich nicht gewollt [hätten] und schon gar nicht zu dem Zweck, die separaten Geschlechtersphären und die geschlechtsspezifische Arbeitsteilung abzuschaffen«.5 Die Forderung nach dem Wahlrecht auch für Frauen wäre nur möglich gewesen – so die von Bock untersuchte Forschungsliteratur6 – mit einem Gleichheitsansatz. Nur durch diesen seien die frühen Wahlrechtlerinnen in der Lage gewesen, das Stimmrecht zu fordern, denn nur wenn Geschlechtergleichheit herrsche, könne der Ausschluss von Frauen angeprangert werden. Betone man hingegen die Geschlechterdifferenz, stütze man die Annahme, dass es Bereiche in der Gesellschaft gebe, die für Frauen nicht zugänglich seien, z.B. Politik oder politische Repräsentation.
Das zweite Argumentationsmuster bezieht sich auf die Trennung der deutschen Frauenbewegung in einen bürgerlich-gemäßigten und einen bürgerlich-radikalen Flügel, so Gisela Bock. Nur letzterem sei das Frauenwahlrecht ein wirkliches Anliegen gewesen, denn nur dieser Flügel stehe der Gleichheit der Geschlechter nahe und unterscheide sich damit diametral vom gemäßigten Flügel, der seine Politik auf den Unterschieden der Geschlechter aufgebaut habe. Drittens sei die deutsche Frauenbewegung in Sachen Frauenwahlrecht immer nur zögerlich, leise und vorsichtig aufgetreten, was als Beweis ihrer mangelnden politischen Durchsetzungskraft gesehen wurde. Und viertens schließlich habe die Entwicklung des Kampfes um das Frauenwahlrecht in Deutschland später als in anderen europäischen Ländern stattgefunden.
Gisela Bock überprüft diese vier miteinander verschränkten Argumentationsweisen auf ihre Stichhaltigkeit, indem sie einen internationalen Vergleich durchführt und so aufzeigen kann, dass die oben beschriebenen Einschätzungen einer genaueren Betrachtung nicht standhalten. Sie stellt fest, dass z.B. auch die radikalen englischen Suffragetten, die häufig als maßgeblich im Wahlrechtskampf herangezogen werden, ebenso mit der Geschlechterdifferenz argumentierten wie die bürgerlich-gemäßigten in Deutschland. Radikale Wahlrechtlerinnen argumentierten also nicht immer egalitär. Gisela Bock konnte auch zeigen, dass der Hinweis auf den späten Einstieg der Deutschen in den Frauenwahlrechtskampf ebenfalls nicht stimmig ist. Im Vergleich mit der Situation in England und den USA arbeitet sie heraus, dass es in allen Ländern einen gemeinsamen Faktor gab, der entscheidend war für den Zeitpunkt, an dem die Frauen begannen, für ihr Wahlrecht zu kämpfen. »Eine Frauenwahlrechtsbewegung entstand dann, wenn das Wahlrecht für Männer zur Debatte stand«,7 und dies war in Deutschland um 1900 der Fall, als das Dreiklassenwahlrecht, welches nach wie vor im größten Flächenland Preußen herrschte, immer stärker in die Kritik geriet, nicht zuletzt, weil es stark mit dem allgemeinen und gleichen Männerwahlrecht auf Reichsebene kontrastierte.8
Die Ergebnisse von Gisela Bock und Angelika Schaser zum Ausgangspunkt nehmend möchte ich der Frage nachgehen, warum die Forschung zur deutschen Frauenwahlrechtsbewegung bestimmte Narrative entwickelt hat. Warum verliehen viele deutsche Forscherinnen in den 1980er Jahren der eigenen Wahlrechtsgeschichte ein »konservatives« Gesicht und beschrieben sie als verspätet? Und warum zementierten sie die Trennung in einen radikalen und einen gemäßigten Flügel der Frauenbewegung? Die Geschichte des Kampfes um das Frauenwahlrecht in Deutschland kann, vielleicht sogar sollte – so meine These –, anders erzählt werden. Der Kampf der deutschen bürgerlichen Frauenbewegung um das Frauenstimmrecht ab Mitte der 1890er Jahre ist als Gemeinschaftsprojekt aller Flügel und Richtungen zu verstehen, der von jedem Verband oder Verein in seiner Art und Weise geführt wurde. Der Bund Deutscher Frauenvereine (BDF) verfasste Musterpetitionen zum Frauenstimmrecht und stellte diese seinen Mitgliedsverbänden zur Verfügung, der Allgemeine deutsche Frauenverein (ADF) arbeitete auf kommunaler Ebene und versuchte, den Einfluss von Frauen in städtische Ämter hinein auszudehnen (um damit den Weg für das Frauenwahlrecht zu bahnen), der Deutsch-Evangelischer Frauenbund (D. E. F. B) drängte in seinen Reihen auf das kirchliche Stimmrecht, und die diversen Frauenstimmrechtsvereine und -verbände trugen das Thema sowohl in die externe als auch in die interne Öffentlichkeit und hielten durch ihre Debatten das Thema »am Kochen«. Innerhalb dieses politischen Agitationsprozesses kam es zwischen den verschiedenen Akteurinnen immer wieder zu politischen Verwerfungen um die richtige Richtung und um das zweckdienliche Vorgehen, aber letztendlich war die Frauenstimmrechtsbewegung ein Teil der bürgerlichen Frauenbewegung, die seit dem ausgehenden 19. Jahrhundert von fast allen Richtungen der bürgerlichen Frauenbewegung mitgetragen wurde. Dies sahen die Zeitgenossinnen durchaus so, z.B. Anna Lindemann, die 1913 eine der ersten zusammenfassenden Geschichten des Frauenwahlrechtskampfes vorlegte. Selber dem »radikalen« Flügel angehörend publizierte sie ihren Artikel im Jahrbuch der Frauenbewegung, herausgegeben von Elisabeth Altmann-Gottheiner, also in einer Publikation des »gemäßigten« Flügels. Sie schrieb: »Allein oder mit anderen Frauenvereinen treten die Stimmrechtsvereine auch für alle anderen Forderungen der Frauenbewegung ein, wo und wann die Gelegenheit es fordert.« Die Frauenstimmrechtsbewegung sei, so Lindemann weiter, »geboren aus der ganzen Not der Frau, getragen von ihrem ganzen Streben nach innerer und äußerer Freiheit, fördert sie mit jedem Schritt vorwärts, ihrem eigenen Ziele zu, die GANZE Frauenbewegung, schafft ihr mehr Licht und Luft, gibt ihr einen festeren Boden unter die Füße.«9 Wie also konnte es – fußend auf solchen Aussagen der Zeitgenossinnen – zu der verschobenen Wahnehmung der Forschungsliteratur kommen, und welche Auswirkungen hatte dies?
Meine im Folgenden vorzustellenden Überlegungen stützen sich auf eine Re-Lektüre zentraler Quellen, vor allem der Zeitschriften der bürgerlichen Frauenbewegung und der Schriften von Helene Lange und Minna Cauer, die als Vertreterinnen der beiden Flügel der Frauenbewegung verstanden werden und im Zentrum dieser Untersuchung stehen. Helene Lange und Minna Cauer werden in der Geschichtsschreibung der Frauenbewegung als Antagonistinnen verstanden. Auf der einen Seiten die als konservativ und bürgerlich-gemäßigt geltende Helene Lange, die explizit nicht als Vorkämpferin für das Frauenwahlrecht verstanden wird, auf der anderen Seite die als fortschrittlich und radikal verstandene Minna Cauer, die als mutige Kämpferin für ein liberales Frauenwahlrecht dargestellt wird. In einem ersten Schritt möchte ich die Positionen der beiden Protagonistinnen (und damit auch die beiden »Flügel«) auf einer quantitativen und einer qualitativen Ebene vergleichen: Für die quantitative Ebene habe ich die von Lange und Cauer herausgegebenen Publikationsorgane daraufhin untersucht, wie häufig das Thema Frauenstimmrecht/Frauenwahlrecht auftaucht. Für die qualitative Ebene habe ich die frühen Schriften zum Frauenstimmrecht von Lange und Cauer verglichen; dabei stand die Frage im Zentrum, wie und worin sich die Argumentation der beiden Protagonistinnen zum Frauenwahlrecht unterscheidet. Abschließend habe ich in einem dritten Schritt die Entwicklung der deutschen Frauenstimmrechtsbewegung nachgezeichnet, um anhand der Rekonstruktion der Organisationsgeschichte der bürgerlichen Frauenbewegung in Sachen Wahlrecht zu verstehen, wie auf der organisatorischen Ebene mit diesem Thema umgegangen wurde. Im Folgenden möchte ich diese Re-Lektüre vorstellen und so anregen, das Bild der deutschen Frauenstimmrechtsbewegung noch einmal unter die Lupe zu nehmen, vielleicht sogar zu revidieren.