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SARS-COV-3

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von Robert Schweizer

04.05.2023

»Das ist nicht fair!«, sagte Martina. »Wie können sie eine solche Entscheidung jedem Einzelnen überlassen?«

»Tun sie ja nicht«, sagte Thomas.

»Wie meinst du das? Natürlich tun sie das!«, sagte Martina. »Du musst entscheiden, ob dir deine Sicherheit wichtiger ist, als bei mir zu bleiben!«

»Ich müsste eine Ausnahmegenehmigung beantragen. Also ist es genau genommen nicht meine Entscheidung. Sie haben bereits entschieden.«

»Und du ziehst den Antrag überhaupt nicht in Betracht?«

»Wir können uns doch weiterhin sehen!«

»Zum Mittagessen übers Tablet mit FaceTime? Einmal in der Woche durch eine Glasscheibe? Das ist doch kein Zusammenleben!«

Thomas schwieg.

»Das ist, wie wenn du ins Gefängnis gehen würdest!«, sagte Martina.

»Jetzt übertreib mal nicht!«

»Nein, es ist noch schlimmer als Gefängnis! Da könnte ich dich besuchen und in den Arm nehmen!«

»Möchtest du, dass ich sterbe?«

»Nein! Es muss aber eine andere Möglichkeit geben! Wenn du da hingehst, bedeutet es das Ende von uns! Sieben Jahre! – Überleg doch mal, was das bedeutet!«

»Ich werde auf dich warten.«

»Sieben Jahre! – Du weißt nicht, was du da sagst! Und überhaupt: Wenn wir dann beide noch leben sollten, wie viel Zeit haben wir dann wohl noch vor uns? Noch einmal sieben Jahre? Vielleicht aber auch nicht! Der Virus mutiert doch ständig. Wer weiß schon, was es das nächste Mal ist? Vielleicht eine Verlängerung der Inkubationsfrist. Und bevor sie es merken, ist er mit den nächsten neu ankommenden Corona-Rentnern auf der anderen Seite! Und dann? – Dann war alles umsonst!«

Martina standen die Tränen in den Augen.

»Dafür gibt es keine Hinweise«, sagte Thomas leise.

»Es gibt auch keine Sicherheit«, sagte sie.

»Hast du einen anderen Vorschlag?«, fragte er.

Sie schniefte und schüttelte den Kopf.

»Wenn ich nicht gehe, ist es nur eine Frage der Zeit, bis es mich erwischt!«, sagte er. »Je älter ich werde, desto höher das Risiko, dass es einen schweren Verlauf nimmt. Du kennst die Prognosen! Seit der Nairobi-Mutation ist statistisch gesehen spätestens mit siebenundsechzig Schluss! Da liegt die Sterbewahrscheinlichkeit schon bei über achtzig Prozent! Ich kann froh sein, dass ich es überhaupt bis hierhin geschafft habe. Vor zwei Jahren wäre es das fast für mich gewesen. Und die Schmalbach hat gesagt, dass ich zu wenig Antikörper habe. Das nächste Mal hätte ich keine Chance mehr!«

»Es ist ein Ghetto! Ein riesiges Altersheim! Willst du da wirklich hin? Was ist das denn für ein Leben? Eines, für das sich noch zu leben lohnt?«

Thomas stand vom Tisch auf.

»Wo gehst du hin?«, fragte Martina.

»Nirgends.«

»Warum stehst du dann?«

»Du bist nicht fair! Dann sag mir doch, welche Alternative es sonst noch gibt!«

Martina senkte den Blick und starrte auf die Tischplatte vor sich.

»Wenn ich wenigstens mitgehen könnte!«, sagte sie.

»Wir haben das doch durchgerechnet. Das Geld reicht nicht, dich vorzeitig auszulösen«, sagte er. »Und Frauen erreichen halt erst fünf Jahre später die gleiche Gefährdungsstufe wie Männer. Wenn alle Frauen mitgehen würden, würde das die Wirtschaft nicht verkraften.«

»Die Wirtschaft!«, schrie sie. »Scheiß Wirtschaft! Die ist doch eh schon am Arsch!«

»Die Youngster können nicht alles alleine schaffen!«, sagte er. »Sie sind jetzt schon überlastet. Die Lücken in den Regalen der Supermärkte werden immer größer.«

Sie schwieg.

»Sie forschen weiter. Sie werden Fortschritte machen! Wahrscheinlich finden sie schon bald einen Impfstoff! Dann werden es gar nicht sieben Jahre.«

»Du meinst so, wie die letzten drei Jahre?«, sagte sie. »Wie viele ›vielversprechende‹ Impfstoffe haben wir seitdem gesehen? Zehn? Zwanzig? Und wie viele davon hat das Virus nicht früher oder später ausmanövriert?«

Sie flüsterte jetzt. »Wie viele denn? Hat vielleicht irgendetwas in den letzten drei Jahren geholfen?«

Thomas ging um den Tisch und legte schweigend seine Hand auf ihre Schulter. Sie drückte ihr Gesicht gegen seinen Bauch und schluchzte hemmungslos.

10.05.2024

»Kim! Mein Gott! … Wie …?« Thomas stand fassungslos vor der Scheibe.

»Hallo Papa!«, sagte Kim mit breitem Grinsen. »Herzlichen Glückwunsch zum Geburtstag!«

»Wo ist Mama?«

»Ich habe leider kein Geschenk für dich.«

»Wo ist Mama?«

Kim wurde ernst. »Sie kann leider nicht kommen. Sie hat es! Warum weißt du das nicht?«

»Oh Gott, wie geht es ihr?«

»Soweit gut. Sie ist noch zu Hause. Es dauert noch drei bis vier Tage, bis sich entscheidet, welchen Verlauf es nimmt.«

»Bleibst du bei ihr? Bist du deswegen in Frankfurt?«, fragte Thomas.

Kim nickte. »Ich bleibe bei ihr. Warum wusstest du es nicht?«

»Wir sehen uns einmal die Woche und … und wir haben vor ein paar Wochen beschlossen, nicht mehr jeden Tag zu skypen. Es ist …«

»Was ist es?«

»… zu anstrengend.«

»Was?!«

»Emotional zu anstrengend.«

Kim schüttelte verständnislos den Kopf.

»Und wie hast du es geschafft, hier reinzukommen?«, fragte Thomas. »Hast du … hast du einen Antikörper-Ausweis?«

»Ich hatte es vor zwei Monaten. Ohne Symptome. Aber ich habe jetzt genügend Antikörper.«

»Gut, gut. Du bist nur noch ein Jahr Youngster! Dann hast du es geschafft!«

»Was geschafft?«

»Du musst nicht mehr die gefährlichen Arbeiten machen, die Youngster eben machen müssen! Was machst du eigentlich gerade? Job-technisch, meine ich.«

»Immer noch Pfleger im Krankenhaus. Ich weiß noch nicht, ob sie mich in einem Jahr gehen lassen.«

»Was? Das müssen sie aber!«

»Es kann sein, dass sie das Gesetz ändern. Sie haben zu wenig Personal. Und du hast sicherlich auch dort auf der anderen Seite mitbekommen, dass die Zahl der Infizierten wieder steigt.«

Thomas nickte. Er räusperte sich. »Ich würde dich gerne umarmen!«

»Es tut mir leid, Papa!«

»Komm, wir machen es wie im Film!« Thomas presste die Handfläche seiner rechten Hand mit gespreizten Fingern an die Scheibe.

Kim grinste und legte seine linke von der anderen Seite dagegen.

»Warum können sie dich nicht rüberlassen, wenn du einen aktuellen Ausweis hast?«, sagte Thomas.

»Du kennst die Regeln. Das Risiko ist zu groß. Erinner dich daran, was letzten Herbst in Köln passiert ist!«

»Der Corona-Rentner, den sie ohne Quarantäne rübergelassen haben, weil er einen Ausweis hatte?«

»Und der trotzdem Überträger war. Sie haben ein paar Hundert Leute verloren, bis sie es eingedämmt hatten!«

»Wie geht es Lana und den Kindern?«

»Alle gesund!«

»Und die Kinder? Wie geht es mit der Schule?«

»Weiterhin Split-Modus! Ich habe zuletzt einen Artikel gelesen. Da wurden die Kinder, die jetzt zur Schule gehen, ›Die verlorene Generation‹ genannt. Ich fürchte, sie bekommen einfach nicht die Bildung, die sie später brauchen.«

»Eine Woche zu Hause, eine in der Schule!«, sagte Thomas.

»Ja, und sie sind natürlich nie in der gleichen Woche in der Schule. Lana muss jeden Tag fahren! Den Bus haben sie bei uns eingestellt. Zu wenig Passagiere – zu teuer. Wir werden Max wahrscheinlich für eine der neuen zertifizierten Online-Schulen anmelden. Für Luna ist es noch zu früh.«

»Sie haben noch drei Minuten! Bitte verabschieden Sie sich jetzt!«, tönte es deutlich zu laut aus den Deckenlautsprechern. Thomas verzog das Gesicht.

»Sie haben zu wenig Plätze an der Scheibe«, sagte er. »Das liegt wohl an den geburtenstarken Jahrgängen. Bis du hier bist, wird mehr Platz sein. Mehr Zeit.«

Kim lachte. »Papa, bis dahin haben wir das Virus besiegt!«

Thomas nickte. »Grüß Mama von mir! Ich wünsche ihr gute Besserung! Ich warte hier auf sie – wehe sie enttäuscht mich!«

Kim schluckte. »Mach ich!«

11.05.2024

»Thomas?« Martinas Stimme klang wie aus weiter Ferne, wacklig und schwach.

»Ich bin auf FaceTime«, sagte Thomas. »Schaltest du die Kamera ein?«

»Nein. Ich möchte jetzt nicht.«

»Okay. Wie geht es dir?«

»Wird schon. Ich hab Fieber. Ich fühl mich nicht so gut. Wird schon.«

»Kümmert sich Kimmie gut um dich?«

»Ja. Er ist ja ein Profi. Du hattest recht!«

»Recht? Womit?«

»Wenn du bei mir geblieben wärest, hätte es dich jetzt auch erwischt!«

»Vielleicht – Du hättest mit mir kommen sollen!«

»Wie geht es dir?«

»Ich bin gesund.«

»Das meinte ich nicht.«

»Ich mache mir Sorgen!«

»Ich muss jetzt schlafen.«

»Ich liebe dich!«

»Ich dich auch.«

12.05.2024

»Papa … hallo!«

»Hallo, Kim!«, sagte Thomas und winkte in die Kamera. »Gibst du mir Mama?«

Kim schüttelte den Kopf. »Sie haben sie heute Morgen mitgenommen.«

»Was? Wohin?«

»In die Uniklinik, Papa. Es ist über Nacht schlechter geworden.«

»Was soll das heißen?«

»Sie hat schon zu lange hohes Fieber. Das Atmen fällt ihr schwer.«

»Wie schlimm ist es?«

»Ich weiß nicht. Du weißt, dass man das nie sagen kann! Noch ist sie nicht an der Maschine.«

»Kümmerst du dich um sie?«

»Das geht nicht! Ich arbeite da nicht. Sie lassen mich nicht rein!«

»Scheiße!«

»Ohne mich hätte sie vielleicht gar keinen Platz bekommen. Die Zahlen steigen gerade wieder!«

Thomas sagte nichts.

»Ich … ich kann nicht länger bleiben. Sie verlangen, dass ich nach München zurückkomme. Jetzt, wo die Zahlen wieder steigen, brauchen sie jeden Einzelnen! Es wird zwei oder drei Wochen dauern, bis der neue Lock-down Wirkung zeigt.«

»Scheiße!«

»Ich kann ihr hier doch nicht helfen!«

26.05.2024

»Kim … hallo?«

»Ich bin gerade nicht erreichbar. Bitte hinterlassen Sie nach dem Signalton eine Nachricht! Piep!«

»Kim … ich … hier ist Papa … ruf mich bitte zurück!«

27.05.2024

»Papa? Was ist?«

»Kim … jetzt rufst du zurück? Warum erst heute?«

»Papa, ich hatte eine Doppelschicht. Ich bin müde. Was ist los? Wie geht es Mama?«

»Sie hat es nicht geschafft. Sie ist gestern gestorben.«

»Oh Gott …«

»Ja.«

»Hat sie gelitten?«

»Das sagen sie nicht.«

»Was war es?«

»Woher soll ich das wissen? Wahrscheinlich einfach Sauerstoffmangel. Spielt jetzt keine Rolle mehr …«

»Wird es eine Beerdigung geben?«

»Nein. Sie sagen, wegen der steigenden Zahlen sind die wieder ausgesetzt.«

»Ich weiß nicht, was ich sagen soll.«

»Ich hätte eh nicht hingehen können. Sie schicken die Urne zu mir rüber.«

»Eine Urne? Wollte sie denn eingeäschert werden?«

Thomas schniefte. »Ist das Einzige, was jetzt hier noch gemacht wird.«

»Es fällt alles auseinander«, sagte Kim.

»Was meinst du damit?«

»Du bist auf der anderen Seite, Mama … ist tot … und die Zahlen steigen immer weiter an. Wir haben jetzt wieder mehr als zehntausend Neuinfizierte jeden Tag. Das hatten wir das letzte Mal im Frühjahr 2021. Und wir haben hier in München ein paar Kinder, die starke Symptome haben. Es geht das Gerücht um, dass es einen neuen Strang SARS-CoV-2 gibt, der vor allem Kinder betrifft.«

»Die Kinder?«

»Ja, das erste Mal die Kinder. Wir haben Angst um Max und Luna. Ich werde wahrscheinlich in ein Hotel ziehen, damit ich sie nicht anstecken kann.«

»Das … das tut mir leid!«

»Papa, ich habe das erste Mal Angst, dass wir gegen das Virus verlieren.«

03.07.2024

»Ist das nicht toll, Kim? Sie haben einen Impfstoff gefunden! Ich kann hier bald raus!«, sagte Thomas.

»Ich weiß! Ich freue mich für dich, Papa«, sagte Kim.

»Du, ich habe nachgedacht. Da Mama nicht mehr da ist, gibt es hier nichts mehr für mich. Was hältst du davon, wenn ich nach München ziehe?«

»Ich … ich weiß nicht.«

»Du weißt nicht?«

»Das hat nichts mit dir zu tun. Aber der neue SARS-CoV-3 bedroht die Kinder. Diesmal ist es andersherum! Auch wenn du gegen Covid-19 geimpft bist, kannst du Überträger sein! Die Kinder sind jetzt mit Lana in Quarantäne. Ich wohne im Hotel.«

»Dann könnten immer noch wir beide uns sehen.«

»Ja, könnten wir.«

15.08.2024

Thomas stand etwas unschlüssig vor der Wohnungstür, den Trolley in der einen Hand, den Schlüssel in der anderen. Er seufzte, steckte ihn ins Schloss, öffnete. Mit kleinen Schritten drang er in die Wohnung ein, die er vor anderthalb Jahren verlassen hatte. So viel war passiert. Tränen standen ihm in den Augen.

Er drückte die Tür so leise wie es ging ins Schloss. Hoffte, dass keiner der Nachbarn mitbekommen hatte, dass er zurück war. Es wäre ihm zu viel gewesen, jetzt mit einem von ihnen sprechen zu müssen. Wer weiß, wer von denen überhaupt noch hier wohnte. Das Virus zerstörte Leben, riss Familien auseinander, verlegte Wohnorte.

Er schleppte sich von Zimmer zu Zimmer. Warf jeweils einen skeptischen Blick hinein, beschränkte seine Schritte auf den Flur. Das Schlafzimmer. Ein einseitig bezogenes Doppelbett, ungemacht. Er wandte sich ab. So weit war er noch nicht. Er betrat die Küche. Ein Blick in den Kühlschrank blieb ihm zunächst verwehrt. Als er die Tür einen Spalt geöffnet hatte, schlug ihm ein Gestank entgegen, dass er sie sofort wieder schloss.

Und jetzt?

Noch im Mantel setzte er sich an den Küchentisch und vergrub seinen Kopf in den Händen.

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