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KUMMERKONZERT

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von Michael Kootz

Die schmale Treppe hinauf zum Wohnzimmer hatte ihm zu schaffen gemacht. Er sackte ins Sofa und nahm das Pillendöschen aus der Jackentasche: fast leer.

Beim Arzt war alles sehr schnell gegangen. Der Doktor hatte Bernhard gar nicht sehen wollen, das Wartezimmer war ohnehin übervoll. »Gehen Sie da bloß nicht rein, Herr Wegener«, riet die Arzthelferin. Ob sie ihn dabei anlächelte, hatte er wegen ihres Mundschutzes nicht feststellen können; ihre Augen jedenfalls blickten müde. Bernhard hatte nur sagen müssen, welche Medikamente er wieder benötigte, und sie fertigte ihm wortlos das Rezept aus. Freundlich hatte er sich bedankt und war ein paar Häuser weiter gegangen, in die Apotheke. Die Stimmung dort: gedrückte Stille, wie in den zurückliegenden Wochen auch. Die Leute in der Warteschlange: alle deutlich jünger als er selbst, und brav mit großem Abstand voneinander. Nachdem der Mann am Ende der Reihe Bernhard mit einer Handbewegung vorgelassen hatte, taten die anderen in der Schlange es auch, weshalb er schon Minuten später die Apotheke verlassen konnte, in der Hand einen prallen Plastikbeutel mit buntem Aufdruck. Die Straßenbahn nahm er lieber nicht – Stoßzeit, zu viele Menschen, zu riskant, also würde er laufen. Langsam trottete Bernhard zu Annette und Tobias nach Hause und war vor den beiden da, fand das Haus noch leer, was selten vorkam: auch nicht schlecht! Die Apothekertüte leerte er auf den Couchtisch neben seinem Plastikdöschen aus. Lauter leichte, kleine Pappschachteln, die er vorsichtig öffnete, ohne etwas zu beschädigen. Zeit hatte er ja, noch. Dann hatte er die Sortierdose aufgemacht.

MO bis SO: Je zwei von den kleinen Weißen. Bernhard drückte die Pillen aus ihrer Bläschenpackung in das Sortierdöschen. Am DI drei von den orangefarbenen, am MI nur zwei, und am DO nur noch eine. Frage: morgens oder abends? Ab FR fielen die jedenfalls ganz weg, stattdessen eine halbe von den langen weißen. Die blauen immer nur bei Bedarf, gegebenenfalls täglich. Ganz sicher war er sich da nicht … Bernhard seufzte. Irgendwann, dachte er, irgendwann werd ich mir all das aufschreiben.

Und Tobias? Ist in diesem Augenblick noch auf dem Parkplatz des Supermarkts. Hellwach! Heute bemühte er sich wirklich, denn es ging ja um etwas. Im Supermarkt hatte er nicht gequengelt, damit die Mutter ihm »… ausnahmsweise, nur ganz ausnahmsweise …« eine Dose des Energydrinks kaufte. Aus der Warteschlange vor der Kasse war Tobias diesmal nicht wieder zurück in den Laden gelaufen, um der Mutter im Handumdrehen – mit bittendem Blick – eine Tüte Paprikachips oder eine Tiefkühlpizza vor das Gesicht zu halten. Nein … Umhergeflitzt war er und hatte für Annette Waren aus den Regalen geholt, damit man schnell den Supermarkt verließ und ein wartender Kunde nachrücken konnte. Korrekt hatte er an der Kasse den geforderten Abstand zu anderen Kunden gehalten, anderthalb Meter, mindestens. Flink hatte Tobias geholfen, die Tragetaschen zu füllen mit dem Einkauf für mehrere Tage. Zwei Beutel schleppte er selbst zum Auto; für die Mutter blieben nur die große Packung mit dem Toilettenpapier und der Beutel mit Salat und Obst. Am Zeitungskiosk tat Tobias so, als sähe er nicht, dass das neue Heft von Gameworld im Fenster ausgelegt war; das musste warten, denn heute war DER Tag; da durfte nichts schiefgehen. Vielleicht aber, fiel ihm ein, vorher könnte die Mutter zu Hause in der Post irgendein Schreiben finden, das sie aufregt. Oder, wenn es mit dem Teufel zugeht, klingelt das Telefon, irgendwas Wichtiges, das wäre ganz blöd. Vielleicht muss sie ja auch aufs Klo … Besser, ich mache die Sache vorher klar.

Vor Annette lag wieder eine Tobiaswoche, und ihre Stimmung war im Keller, seit sie den Jungen von Marco abgeholt hatte. Wie immer mit Sack und Pack: der halbe Polo war voll. Beim Abschied hatte sie Marco die Entlastung angesehen, auch wenn der sich bemüht hatte, freundlich zu Tobias zu sein. Eine Woche lang von zu Hause aus arbeiten, und dabei ständig den Jungen um sich, weil die Schulen geschlossen worden waren … »… das ist die Härte!« Zumindest in diesem Punkt verstand Annette ihren Exmann. Sie allerdings konnte morgens das Haus verlassen wie immer, sofern ihr Vater pünktlich zu dem eingetroffen war, was er seinen Tobiasdienst nannte. Kam sie am Nachmittag heim, würden Sohn und Großvater bereits gegessen haben. Für sie selbst würde etwas im Kühlschrank bereitstehen, und die Küche wäre leidlich sauber. Als die Schulen wegen der Seuche die erste Woche geschlossen hatten, klappte das ganz gut. Freilich hatte ihr Vater sich eilig verabschiedet, sobald Annette heimgekommen war. So würde es wohl auch in dieser Woche sein. Dem Vater würde sie ansehen, dass die Hausarbeit, die er ihr abnahm, und die kleinen Auseinandersetzungen mit dem Enkel ihn Kraft gekostet hatten. Bei sich zu Hause angekommen, das wusste sie, würde Bernhard sich sofort hinlegen. Und Tobias? In der ersten Woche der Seuchenferien hatte der sich entweder auf die heimkehrende Mutter gestürzt, hatte sie zugeschüttet mit einem Redeschwall von Fragen, Ideen und Klagen, oder er hatte sich in seinem Zimmer verbarrikadiert mit der Behauptung, für die Schule zu arbeiten, während sie selbst doch hören konnte, dass er am Computer daddelte. Im schlimmsten Fall hatte der Junge Annette durch die geschlossene Zimmertür mit Vorwürfen zu Dingen überfallen, die sie selbst als alte Geschichten abtat, mal wieder. Zum Glück war dem eine Papawoche gefolgt. Bis heute; nun kamen sie ja gemeinsam heim. Wenn ich wenigstens mal zum Friseur könnte, murmelte sie, die Tönung, und überhaupt.

Auf dem schmalen Bürgersteig vom Parkplatz zum Haus ging der Junge vor der Mutter. Die übervollen Einkaufstaschen bereiteten ihm Mühe, das sah sie, er war halt noch ein schmales Hemd … Schon leistete Annette ihm Abbitte, innerlich. Nein, in normalen Zeiten, das wusste sie, da lebten sie entspannter. Vor der Pandemie … da war Tobias nachmittags oft gar nicht daheim gewesen, weil er von der Schule aus gleich zum Sportverein ging, oder zu einem Freund nach Hause. An anderen Tagen verschwand er nach draußen, nach irgendwo, sobald er stumm seine Hausaufgaben erledigt hatte. Aber nichts war mehr normal, seit es das Gebot gab, Abstand voneinander zu halten. Gruppen von mehr als zwei Personen sind in der Öffentlichkeit untersagt. Ausgenommen davon sind Familien und Menschen, die gemeinsam in einer Wohnung leben. Bleiben sie nach Möglichkeit zu Hause! Besuchen Sie keine anderen Personen! Fast alle Geschäfte geschlossen, Sporthallen dicht, Parks und Spielplätze mit Flatterband abgesperrt … Wenn wenigstens die Kinder sich verabreden und treffen dürften! Aber nein … Also hielten die meisten Eltern ihren Nachwuchs im Haus, denn zu erwarten, dass sie auf der Straße oder im Park den geforderten Abstand voneinander halten würden … Nein, an den Weihnachtsmann glaub’ ich ja auch nicht mehr, dachte Tobias’ Mutter. Heute jedenfalls würde der Großvater zum Abendessen kommen und danach eine Weile bleiben. Inständig hoffte Annette, dass die beiden eine Runde Schach spielen oder einen Film schauen würden. Während der folgenden sechs Abende würde sie mit Tobias alleine sein … müssen. Und Tobias mit ihr.

Der Junge hatte einen Entschluss gefasst. Nee, lieber die Sache gleich festklopfen, solange die Stimmung gut ist! Als die Mutter die Toilettenpapierpackung abgesetzt hatte, um in ihrer Handtasche nach dem Hausschlüssel zu suchen, wagte er den Sprung. »Du fährst mich doch nachher zu Fabian? Um halb acht?« Er beobachtete ihren Gesichtsausdruck: verständnisloses Stirnrunzeln. »Ich kapier gar nicht, was du meinst. Ist doch Kontaktsperre; miteinander telefonieren könnt ihr doch, oder skypen, meinetwegen, wenn der Opa nachher gegangen ist.« Sein Großvater! Den hatte Tobias nicht mehr im Sinn gehabt; egal: »Den Opa seh’ ich doch morgen wieder, den ganzen Tag.«

Das Fenster des Wohnzimmers hatte Bernhard geöffnet: Schön war es ja draußen, ein herrlicher Tag, Frühlingsanfang, viele Büsche in üppiger Blüte … Kaum Autos, keine Flugzeuge, und in vielen Fabriken ruhte die Produktion: die Luft war rein wie schon seit Ewigkeiten nicht mehr. Drinnen bleiben sollte man dennoch, wenn irgend möglich. Tschernobyl, erinnerte er sich, Tschernobyl, bei der Atomkatastrophe in Tschernobyl war es genauso gewesen: Warmes, sonniges Frühlingswetter, aber wir hatten drinnen bleiben müssen! Annette war noch zu klein gewesen, als dass sie sich heute erinnern könnte. Er selbst wusste noch genau, wie Ingrid und er sich um ihr Kind geängstigt hatten; nicht nur sie. Die meisten Eltern, erinnerte er sich, die machten sich Sorgen wegen der Kinder, mehr noch als um sich selbst. Das Land hielt den Atem an. Nach wenigen Tagen gab es dann schon genug Messungen, um uns in Deutschland halbwegs entlasten zu können. Klar, was die Lebensmittel betraf, da hatten wir auf ein paar wenige verzichten müssen, und man hatte auf den Regen gewartet, dass der den radioaktiven Staub auswusch. Im großen Ganzen aber … Bernhard beugte sich aus dem Fenster. Niemand war zu Fuß unterwegs. Von ferne war ein einzelnes Auto zu hören; fast totenstill, nannte Bernhard das. Laut wiederholte er sich das Wort: totenstill. Nicht mal ein Windhauch, keine Bewegung in den noch kahlen Bäumen. Aber dann! Aus der Ferne hörte er die Stimmen seiner Tochter und des Enkels. Meine Ohren sind jedenfalls entschieden besser als die Augen, fand er; man freut sich ja schon an kleinen Dingen. Früh heute, die beiden; Marco war mit Sicherheit erleichtert, als er den Jungen abgeben konnte. Lieber Kerl, eigentlich; aber eine Woche allein mit dem, ans Haus gebunden … Abgesehen vom Rap und den Videoclips, die der Junge liebte, gab es vieles, das Bernhard gern mit Tobias zusammen tat; Schachspielen zuerst, dann: ihm bei den Matheaufgaben helfen, nicht zuletzt: draußen umherstreuen, zu Fuß, manchmal mit den Rädern. Während der letzten Wochen hatten sie aber notgedrungen vor allem in der Wohnung gehockt. Häufig hatten sie gemeinsam etwas im Fernsehen gesehen und dann darüber gequatscht, wie Tobias es nannte. Bernhard genoss das unendlich! Niemandem hätte er verraten mögen, wie gern er seinem Enkel nahe war, so herrlich fand er es, wenn der gerade Dreizehnjährige zuweilen – abends beim Fernsehen – einschlief und gegen den Großvater sackte, als sei er noch der kleine Junge von früher. Und dennoch: Seit einigen Wochen hielt Bernhard vom Jungen Abstand. Immer häufiger löste er Angst in ihm aus, denn wer konnte wissen, wo der sich herumgetrieben hatte, mit wem Tobias Kontakt gehabt hatte, und ob darunter jemand infiziert war? Zu Hause wusch Tobias sich die Hände anscheinend gründlich, aber wie war das woanders? Was fasste der Enkel an, und wie stand es mit den Dingen, die er heimbrachte? Was bedeutete es, wenn er schnupfte und hustete – war das seine Pollenallergie, oder war auch Tobias mit dem Virus infiziert? Er selbst, wusste Bernhard, hatte in dem Alter jedenfalls auf Vorschriften gepfiffen … Im Dämmerlicht des Wohnzimmers erhob sich der Großvater. Gestützt auf die Lehne des abgewetzten grünen Sofas, schämte er sich seiner Angst.

Die zwei werden staunen, dass ich schon hier bin, und nicht noch beim Arzt sitze.

Inzwischen waren Mutter und Sohn bereits am Gartenzaun zu sehen. Annette hing ihr hellgrüner Mundschutz unter dem Kinn, auf dem grauen Wintermantel, den sie wegen der unerwarteten Wärme offen trug. Bernhard stutzte. Mitten im blonden Haar der Tochter fiel ihm eine breite dunkle Linie auf. Den Friseur würd ich ihr bezahlen, wenn einer geöffnet hätte. Kann ja noch Wochen dauern. Tobias trug sein rot kariertes Tuch ungeachtet der menschenleeren Straßen noch korrekt über Mund und Nase. Wie ein Cowboy, mit seinen strubbligen braunen Haaren. Oder wie ein altmodischer Bankräuber. Sein Großvater fuhr sich über die Glatze und lächelte. Draußen, unterhalb des Wohnzimmerfensters, standen die beiden auf den Betonplatten, die zur Haustür führten; irgendetwas diskutierten sie. Bernhard trat einen Schritt zurück in den Raum, denn die zwei sollten sich schließlich nicht beobachtet fühlen. Gerade blieben sie vor der Eingangstür stehen, denn Annette wühlte in ihrer Tasche. Lauschen musste Bernhard nicht, musste nicht die Ohren spitzen, er konnte ja gar nicht anders, als dem Gespräch der beiden zu folgen; warum auch nicht?

Pandemie

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