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Huang ging es nicht in den Kopf, wie sich manche Regierungen willkürlich auf diese Art von gesundheitspolitischem Abenteuertum einlassen konnten. Und warum ließ sich die Bevölkerung das gefallen? Warum gingen die Leute nicht auf die Barrikaden? Die Grenzen zu diesen Pariastaaten waren militärisch für jede Form von Personen- und Warenverkehr abgeriegelt. Auch Kommunikation auf elektronischem Wege fand so gut wie nicht statt. Niemand wusste, was dort vorging und welche Seuchen dort wüteten.

Verlässliche Daten gab es nur für den Schenzhenraum. Vier verschiedene Viren trieben derzeit ihr Unwesen. Die beiden länger bekannten, Bigon-37 und Lecran-38, befanden sich laut Morgenbulletin im Rückzug. Neuinfektionen in nennenswertem Ausmaß gab es nur noch in einigen Staaten Afrikas und Südamerikas.

Anders sah es mit den beiden neueren Viren aus. Feral-39 und Rabion-40 breiteten sich rapide aus. In einigen schwer betroffenen Gebieten Europas, Asiens und Nordamerikas gingen die Opfer in die Tausende. Videobeiträge zeigten die hektische Betriebsamkeit vermummter Ärzte und Pfleger in Quarantänesanatorien. Trotz aller Anstrengungen kam man mit dem Abtransport der Toten nicht nach.

Huang legte den Morgenmantel ab und schlüpfte in Trainingshose und Sweater. Im rückwärtigen Teil des Lofts standen einige Fitnessgeräte. Gleich daneben befand sich die Glastür zum kleinen Balkon. Er öffnete diese einen Spaltbreit und spürte, wie die kühle Luft hereinströmte. Sie roch nach Desinfektionsmittel. Nur nicht verkühlen.

Rasch begab er sich zum Laufband. »Langsam anfahren, Chérie, acht Stundenkilometer zum Aufwärmen.«

»Très bien«, flötete Mireille, »alles klar.«

Während Huang gemächlich dahintrabte, verfolgte er weiter das Bulletin am Bildschirm. Ein animierter Beitrag illustrierte, wie sich Rabion-40 im menschlichen Körper ausbreitete.

Die Grafik zeigte den Schattenriss eines Menschen. An der Spitze des rechten Mittelfingers begann ein grün fluoreszierendes Pünktchen zu blinken. Nach und nach nahm die Zahl der leuchtenden Tupfen in der Fingerkuppe zu, erst langsam, dann immer schneller. Sie kletterten auf verzweigten Pfaden den Arm entlang, zur Wirbelsäule und diese entlang zum Kopf.

Eine männliche Off-Stimme erläuterte: »Das Rabion-40-Virus kann Menschen, Tiere und sogar Pflanzen befallen. Ein mikroskopisches Tröpfchen Speichel, Schweiß oder Tränenflüssigkeit, das auf die nackte Haut gelangt, reicht zur Übertragung. Nach jüngsten Erkenntnissen können möglicherweise auch Insekten das Virus verbreiten. Der Erreger dringt in die Zellen der Nervenfasern an der Hautoberfläche ein und vermehrt sich darin. Schmerzen und später Gefühllosigkeit an der Infektionsstelle können erste Symptome sein. Nach und nach arbeiten sich die Viren über das Innere der Nervenfasern bis in das Rückenmark und von dort weiter ins Gehirn.«

Anstelle des Körpers erschienen jetzt Querschnitte durch das Gehirn am Schirm. Wie eine Invasionsarmee eroberten die fluoreszierenden Pünktchen die äußere Hirnrinde und konzentrierten sich dort besonders in der linken Hälfte.

Der Sprecher fuhr fort: »Rabion-40 greift gezielt den Neocortex an, die äußere graue Schicht der Großhirnrinde, und dort insbesondere die linke Seite. Diese Gehirnregion ist für die Vernunft, Einsicht und das logische Denken beim Menschen verantwortlich. Vom Zentralnervensystem breitet sich das Virus zu den Speicheldrüsen und Tränendrüsen aus und findet über deren Sekrete den Weg zu neuen Wirten.«

»Auf zehn Stundenkilometer steigern, und zehn Prozent Steigung«, ordnete Huang an.

»Wird gemacht«, bestätigte Mireille.

Während Huang seine Laufschritte dem neuen Tempo anpasste, vergrößerte sich am Bildschirm eine der infizierten Gehirnregionen und die Animation wurde durch die reale Aufnahme eines hochauflösenden elektronischen Mikroskops überblendet. Das Bild zeigte dicht aneinandergedrängte Gebilde, die in der Form einer Pistolenpatrone ähnelten. Der Ausschnitt zoomte sich weiter hinein, bis nur noch eine einzelne der organischen Strukturen die gesamte Wand füllte. Die äußere Hülle war von kleinen Härchen bedeckt.

»Rabion-40 gehört zur den Rhabdoviren«, erläuterte der Sprecher. »Die Härchen an der äußeren Hülle dienen dazu, in die Wirtszelle einzudringen. Der allgemein bekannteste Vertreter dieser Familie ist das Lyssavirus, das zu Gehirnschäden führt und dadurch die Tollwut auslöst. Rabion-40 weist starke Ähnlichkeiten mit dieser Gattung auf. Zugleich bestehen aber auch erhebliche Unterschiede. Tollwutviren befallen nur warmblütige Tiere, Rabion-40 dagegen auch andere Lebensformen, darunter, wie schon erwähnt, eventuell Insekten. Zudem führt die Erkrankung bei Menschen nicht zu Halluzinationen, Verwirrtheit, Angstzuständen und Wutanfällen. Die Symptome sind viel subtiler: Realitätsverlust und unvernünftiges Trotzverhalten bis hin zu selbstzerstörerischer und gesellschaftsschädigender Aufmüpfigkeit.«

»Steigung auf 20 % erhöhen«, befahl Huang. Er keuchte.

»Tempo beibehalten?«, erkundigte sich Mireille.

»Gehen wir auf 12 Stundenkilometer.«

»Der Tod«, setzte der Sprecher seinen Monolog fort, »tritt bei Rabion-40 erst Wochen oder sogar Monate nach Auftreten der Verhaltensstörungen auf, nicht schon nach wenigen Tagen wie bei der Tollwut. Das macht diese Krankheit besonders gefährlich, weil sich dadurch die Chancen einer Übertragung vervielfachen. Die Experten sind sich uneinig, ob es sich bei dem neuen Virus um eine Mutation des Tollwuterregers handelt. Fest steht, dass weder die Tollwutimpfung noch die Behandlung mit Tollwut-Antikörpern gegen Rabion-40 erfolgreich ist. Bei den wenigen Patienten, die bisher eine Infektion überlebt haben, sind schwere Gehirnschäden zurückgeblieben.«

Huangs Herz raste. »Steigung wegnehmen«, hechelte er.

»Gerne«, hauchte Mireille.

Am Bildschirm erschien eine Sprecherin mit rosigen Wangen und dunkelblonden Zöpfen. »Mehr zu diesem hochaktuellen Thema gibt es heute Abend um neunzehn Uhr dreißig im Gesundheitsmikroskop auf der Gemeinschaftswelle. Unser besonderer Gast und Gesprächspartner in dieser Sendung ist der Entdecker von Rabion-40, Moritz Huang …«

Huang sah sein eigenes Porträtbild die Stirnwand füllen und sein Herzschlag legte noch eine Spur zu.

»Gratuliere, Chérie «, flötete Mireille.

2

Nach der Dusche unterzog sich Huang der routinemäßigen Ganzkörperdesinfektion. Üblicherweise reichte eine einfache Sprühdüse in der Duschkabine für diesen Zweck. Diese gab einen feinen Nebel keimtötender Substanzen ab.

Huang gönnte sich etwas Besseres. Er besaß die neueste Entwicklung auf diesem Gebiet. Seine Desinfektionskabine ähnelte einem überdimensionierten Kühlschrank. Ein chemischer Cocktail verbunden mit exakt dosierten Ultraviolettstrahlen ganz bestimmter Wellenlängen machte Bakterien und Viren unerbittlich den Garaus. Das Gerät bezog über das Netz laufend die aktuellen Daten über das Auftreten und die Verbreitung von Infektionen im näheren Umfeld. Darauf abgestimmt stellte die Elektronik aus einer Auswahl von Wirkstoffpatronen, ähnlich den Farbbehältern bei Tintenstrahldruckern, die tagesaktuell optimale Desinfektionsmischung zusammen. Zum Abschluss der Behandlung wurde noch ein hauchdünner Film eines atmungsaktiven Sprühpflasters aufgetragen, das wie ein unsichtbarer Film die Haut am gesamten Körper bedeckte und mehrere Stunden vor Keimen schützte.

Der Desinfektor war nicht billig. Das Gleiche galt für die regelmäßig zu ergänzenden Wirkstoffpatronen. Aber wenn es um die Gesundheit ging, war Huang nichts zu teuer. Zumal er sich in weiser Voraussicht mit Aktien des Geräteherstellers eingedeckt hatte. Die Wertpapiere legten seither erklecklich an Wert zu und schütteten ordentliche Dividenden aus.

Huang stieg nackt aus dem Desinfektor und zog umgehend den Bademantel an. Er war gerade dabei, die Schutzmaske, welche Augen, Mund und Nase gegen die Strahlen- und Chemieattacke schützte, abzunehmen, als sich Mireille meldete: »Die Lieferung ist da, Chérie.«

»Ich komme schon.« Er schlüpfte schnell in die warmen Pantoffeln. Nur keine kalten Füße. Unterkühlung der unteren Extremitäten, rief er sich in den Sinn, lassen das vegetative Nervensystem die Durchblutung der Atemwege drosseln. Die Nasenschleimhäute werden kalt und trocken, was Viren den Zugang erleichtert.

Die Lieferschleuse befand sich zwischen der Balkontür und der Fensterfront. Alle Wohnhäuser waren an den Fassaden mit Sterillastenaufzügen nachgerüstet worden. Warenzusteller, inzwischen meist autonom fahrende Lieferscooter, schoben ihre Pakete unten hinein. In jeder Wohnung gab es eine Entnahmeklappe, die der Tür eines großen elektronischen Safes ähnelte.

Die Digitalanzeige über der Schleuse leuchtete noch rot. Das blieb so, solange der Sterilisationsvorgang lief. Das Paket wurde vor der Freigabe gründlich desinfiziert, was einige Minuten in Anspruch nahm. Ein gelber Balken, der nach und nach ein weißes Feld am unteren Rand des kleinen Bildschirms füllte, zeigte den Fortschritt des Vorganges an. »Bitte Geduld«, stand darüber.

Als der Balken das rechte Ende des Feldes erreichte, sprang die Farbe der Anzeige auf Grün. Mit einem metallischen Schnalzen löste sich die Verriegelung. Der Schriftzug änderte sich auf »Sicher zur Entnahme.«

Huang zog die sich auf Augenhöhe befindliche Schleusentür auf. In der etwa waschmaschinengroßen Edelstahlkabine dahinter stand eine Kunststoffbox mit dem Markenzeichen des weltweit führenden Versandhauses. Huang bestellte fast alles bei diesem. Qualität hatte ihren Preis.

»Die Lebensmittel«, kommentierte Mireille.

Das Paket wog mindestens zehn Kilo, wahrscheinlich mehr. Huang schleppte es nach hinten zur Küchentheke.

»Kann ich dir helfen?«, kicherte Mireille.

»Sehr witzig«, kommentierte Huang und ging zurück, um die Schleuse zu schließen.

Der Deckel der Box war rundherum mit einem breiten roten Klebeband versiegelt. Es trug den Aufdruck »Inhalt garantiert steril«.

Huang machte sich daran, die Kiste auszupacken. Er legte Wert auf immunstärkende Ernährung. Karotten, Blumenkohl, Kiwi, Avocados, Walnüsse und eine Papaya kamen zum Vorschein. Eine Schachtel enthielt offenbar irgendein elektrisches Gerät. Huang warf einen Blick auf die Beschriftung: »Leinsamenprozessor. Haben wir das bestellt?«

»Ich habe mir erlaubt, ihn auf die Liste zu setzen«, erklärte Mireille. »Röstet und mahlt frische Leinsamen in einem Arbeitsgang. Die beste Quelle für Omega-3-Fettsäuren, eine Wunderwaffe gegen Entzündungen.«

»Aha.« Huang stellte das Wunderding in eines der Küchenregale.

Nachdem auch Milch, Eier und frische Hühnerbrustfilets ihren Weg in den Kühlschrank gefunden hatten, stellte Huang die geleerte Box zurück in den Aufzug. Er warf einen Blick aus dem Fenster. Es nieselte nicht mehr, aber eine graue Wolkendecke bedeckte den Himmel.

»Wie sieht unser Programm heute aus?«

»Dein Ausgangsslot ist vormittags zwischen 10 und 11 Uhr«, klärte ihn Mireille auf. »Und am Abend das Interview mit dem Gesundheitsmikroskop. Sonst nichts Besonderes.«

»Gut. Dann werde ich mal frühstücken. Am Nachmittag brauche ich Zeit, um mich auf den Fernsehauftritt vorzubereiten.«

Mireille stellte das Frühstückmenü für ihren Meister jeden Tag nach demselben immunitätsstärkenden Grundsatz zusammen: Vitamine, Ballaststoffe, gesunde Proteine und Probiotika. Heute äußerte sich dies in einem Obstsalat aus Stachelbeeren und Kiwi, zwei weichgekochten Eiern und einer Schüssel Müsli mit Joghurt, ergänzt um eine Handvoll Mandeln.

Huang aß bewusst langsam und kaute jeden Bissen gemächlich. Er saß an der Frühstückstheke, welche die Küchenzeile vom Rest des Raumes trennte. Auf der Schirmwand lief ein Beitrag über die letzten kleinen Läden der Stadt. Die meisten waren in den zwei Jahrzehnten des Gesundheitsnotstandes zugrunde gegangen.

Der Inhaber eines Haarsalons sprach gerade über die Herausforderungen für sein Geschäft, verursacht durch die Ausgangsbeschränkungen und die strengen Regeln zum Social Distancing. Er wurstelte sich als Einmannbetrieb durch, was kein Problem war, angesichts der Tatsache, dass sich ohnehin jeweils nur ein einziger Kunde im Laden aufhalten durfte.

»Zum Glück erbringe ich eine Dienstleistung, die nicht vom Versandhandel oder vom Homeoffice zu ersetzen ist«, erklärte er mit müdem Blick das Geheimnis seines wirtschaftlichen Fortbestandes. »Die meisten Leute legen ja jetzt weniger Wert auf die Haartracht, seit keine Feste, Theateraufführungen und so mehr stattfinden. Aber die alten Stammkunden von früher halten mich über Wasser.«

In einem Feld am oberen rechten Rand des Schirmes erschien eine Linie aus Punkten, die sich wellenförmig auf und ab bewegten. Die Anzeige dafür, dass ein Zuschauer gerade einen Kommentar schrieb.

Der Text erschien kurz darauf: »Die übertriebenen Notstandsmaßnahmen der Regierung haben sich als Mord am Mittelstand erwiesen. Fleißige kleine Geschäftsleute sind zu Nothilfeempfängern gemacht worden!«

Im Nu stürzten Reaktionen wie ein Wasserfall aus Wortfetzen die ganze rechte Bildschirmwand hinunter.

»Die Verhaltensregeln der Regierung infrage zu stellen, das ist Mord!«

»Von wegen fleißig. Hauptsache die Kasse stimmt.«

»Idiot! Begreifst du denn immer noch nicht?«

»Gesundheit hat Vorrang vor Geschäft.«

»Wir alle müssen Opfer bringen.«

»Trottel.«

»Manche begreifen es nie.«

»Asoziales Schwein.«

»Besser Nothilfe als tot.«

»Wir müssen Leben retten, keine Geschäfte.«

»Der Gipfel an Unvernunft.«

»Sind Sie blind? – Sehen Sie denn nicht, was auf der Welt los ist?«

»Verantwortungsloses Geschwafel.«

Der ursprüngliche Kommentar wurde vom Schwall der Reaktionen nach oben verdrängt und verschwand vom Schirm.

Huang dachte an seinen Vater. Auf genau diese Art hatte sich der alte Herr unbeliebt gemacht.

Charly Huang betrieb ein Chinarestaurant, ein alteingesessenes Lokal in einer Kleinstadt. Dessen Eltern hatten es gegründet, bevor er geboren wurde. In Wirklichkeit lautete sein Vorname Chanming. Aber schon als Kind nannten ihn alle Charly. Er wurde als Einheimischer betrachtet.

Trotzdem sorgte seine Verehelichung mit Karina Hofhall in manchen Kreisen für Getuschel und hochgezogene Augenbrauen. Gebührte es sich für die Tochter einer alten Bürgerfamilie, seit Generationen Inhaberin des elegantesten Lederwarenfachgeschäftes des Städtchens, einen Chinesen zu heiraten? Selbst wenn dieser im Inland geboren war und die Staatsbürgerschaft besaß?

Das Gerede legte sich wieder. Der kleine Moritz kam auf die Welt; Chinalokal und Lederwarenladen gediehen prächtig; und Herr und Frau Huang zeigten sich stets spendenfreudig und hilfsbereit, wenn es um örtliche Veranstaltungen, caritative Projekte und ansässige Vereine ging. Das blieb so, bis die Covid-19-Pandemie ausbrach.

Restaurants und Geschäfte mussten wochenlang geschlossen bleiben. Die große Mehrheit der Menschen sah die Notwendigkeit ein und fügte sich den Schutzmaßnahmen der Regierung. Huang Senior aber war ein Querkopf. Er zweifelte den Sinn der behördlich verordneten Einschränkungen an, warf den Medien Übertreibung und den Politikern Feigheit vor, weil sie Angst davor hätten, in der Öffentlichkeit als tatenlos hingestellt zu werden. Diese Ansichten vertrat er nicht etwa nur privat, wie einige andere lokale Gewerbetreibende, sondern tat sie auf Facebook, Twitter und in diversen Chatgruppen öffentlich kund. Zu allem Überfluss teilte er auch noch Beiträge mit Abhandlungen irgendwelcher zwielichtiger Experten, die die solidarischen Opfer der Allgemeinheit im Kampf gegen das Virus infrage stellten.

Mit Verbitterung erinnerte sich Huang daran, was er damals erleiden musste, auf Verschulden seines Vaters. Obwohl das alles schon zwei Jahrzehnte zurücklag, verursachte es immer noch ein Drücken in seiner Magengegend. Er stand ein Jahr vor dem Schulabschluss für die Hochschulreife. Zwar war die Schule geschlossen und jede Art von Zusammenkunft untersagt, aber umso mehr passierte im Reich der Social Media.

Freunde und Schulkollegen fielen über ihn her. Am schlimmsten waren die, mit denen er sich sonst am besten verstand: die mit Herz und sozialer Einstellung, die sich immer für Minderheiten und Flüchtlinge und Gerechtigkeit einsetzten. Mit einem Mal stellten sie ihn als den Spross einer Sippe von Geschäftemachern da, von Leuten, denen die eigenen Interessen vor das Allgemeinwohl ging, bei denen Profit über der Rettung von Leben stand. Da konnte er noch so sehr versichern, dass er die Ansichten seines Seniors nicht teilte, dass er persönlich alle Maßnahmen der Regierung voll und ganz unterstütze. Ein Mädchen nannte ihn »Chinesenvirus«.

Das Restaurant des Vaters verstarb am Virus. Zwar kehrte im Laufe des Sommers nach und nach wieder eine gewisse Normalität ein und auch Lokale durften unter gewissen Bedingungen wieder öffnen. Nur Charly Huang hatte sich mit seinem rebellischen Gehabe in der Kleinstadt ein für alle Mal unbeliebt gemacht.

Fragen tauchten hinter vorgehaltener Hand auf. Was wohl in den diversen Fleischgerichten, die auf der Speisekarte standen, wirklich drinnen war? Man hatte ja erfahren, was Chinesen so alles verzehrten. Gerüchte über verschwundene Katzen und Hunde in der Nachbarschaft machten die Runde. Nach und nach musste Huang Senior Kellner und Köche entlassen. Moritz Huang sah ihn im Geiste, vergrämt und gebrochen, wie er weiterhin jeden Tag das Restaurant aufsperrte, um über leere Stühle und verwaiste Tische zu wachen.

Er tat ihm nicht leid.

Denn Huang Junior plagten zu dieser Zeit eigene Sorgen. Die, welche sein Vater ihm eingebrockt hatte.

Als der Schulunterricht im Herbst wieder anlief, verspotteten sie ihn als Chinesenvirus. Plötzlich war er Außenseiter, von den Mitschülern gemieden. Die Schule wurde ihm zur Qual. Er begann, den Unterricht zu schwänzen, sperrte sich in sein Zimmer ein und las Fantasy-Romane. Seine Eltern bemerkten es nicht einmal, bis die Lehrer Alarm schlugen. Zur Rede gestellt, reagierte er mit Wutanfällen. Monate vor dem Abschluss warf er das Handtuch und brach die Schule ab. Die Kleinstadt hing ihm zum Hals raus. Er packte seine Sachen und zog in die Hauptstadt.

Huang sah seinen Vater nie wieder.

Er jobbte hier und da, während die Schutzmaßnahmen gegen Covid-19 nach und nach in kleinen Schritten gelockert wurden. Dann zog der Winter ins Land und die zweite Welle derselben Pandemie überschwemmte die Welt. Neue strenge Beschränkungen wurden verhängt, noch bevor die alten völlig aufgehoben waren. Reisen kamen nicht infrage.

Huang nahm eine freiberufliche Tätigkeit für ein Versandhandelsunternehmen auf. Seine winzige Wohnung funktionierte er zum Homeoffice um. So hielt er sich über Wasser. Nebenbei begann er, an einem Fantasy-Roman zu schreiben.

Sein Vater erlitt einen Schlaganfall und verstarb kurz darauf. »Der Stress hat ihn umgebracht«, erinnerte sich Huang an die Worte seiner Mutter am Telefon. Er sparte sich die Mühe, die notwendige Reisegenehmigung einzuholen, um am Begräbnis teilzunehmen.

Der Lederwarenladen der Mutter überlebte noch recht und schlecht die beiden Pandemien lebensbedrohlicher Viren, die an die zweite Welle von Covid-19 anschlossen: drei Jahre mit einmal strengen und einmal weniger strengen Schutzmaßnahmen, mit Monaten absoluten Lockdowns und solchen mit stark eingeschränkten Öffnungszeiten.

Als sich danach aber wieder eine neue Erkrankungswelle am Horizont zeigte, gab sich Karina Huang geschlagen. Das hübsche große Haus, in dem die Familie gelebt hatte, wurde versteigert. Sie hatte es bis übers Dach mit Schulden belastet, um ihr Geschäft am Leben zu erhalten.

Moritz Huang konnte bis heute nicht nachvollziehen, wie das geschehen konnte, angesichts der großzügigen Hilfspakete. Die Regierung griff den Wirtschaftstreibenden in noch nie dagewesenem Maße unter die Arme. Zweifellos mangelte es seiner Mutter an unternehmerischem Geschick.

Zum Glück kam sie in einem der Altersheime für ehemalige kleine Geschäftsinhaber unter. Eine weitere Initiative der Regierung. Umgesetzt mit großzügiger Unterstützung des weltweit führenden Versandhauses. Huang war diesem dafür sehr dankbar.

»Hast du dein Frühstück genossen, Chérie?«, ließ sich Mireilles melodische Stimme vernehmen.

»Perfekt zusammengestellt, wie immer.« Huang nahm den letzten Schluck vom Birnen-Rote-Bete-Saft und machte sich daran, das Geschirr in den Spüler zu räumen.

Die Doku über die letzten kleinen Läden war vorbei und am Wandschirm kündigte die Zopfträgerin mit den rosigen Wangen eine Mitteilung der Regierungskoalition an. Es handelte sich um einen Hinweis auf die laufende Volksabstimmung.

Die Bürger hatten in allen wichtigen Angelegenheiten das Sagen. Wegen der Ansteckungsgefahr ließen die Schutzmaßnahmen im Abwehrkampf gegen die Viren weder Versammlungen noch Demonstrationen zu. Als Ausgleich gab es mehr direkte Demokratie. Die Stimmabgabe erfolgte online von zu Hause.

Die aktuell zur Entscheidung anstehende Frage wurde flächenfüllend eingeblendet:

»Sollen Patienten, die an Rabion-40 erkrankt sind und Anzeichen von selbstzerstörerischem oder gesellschaftsschädigendem Verhalten zeigen, in gesonderte Sicherheitssanatorien isoliert werden? Ja oder nein.«

Huang hatte seine Wahl schon gestern getroffen.

3

Die Strenge des Lockdowns konnte sich von einem Augenblick auf den anderen verändern. Das Update erfolgte in Realtime auf Basis der in der Umgebung gemessenen Virenbedrohung und nach Maßgabe der Richtlinien der Weltgesundheitsbehörde. Die App auf Huangs Kommunikator zeigte Stufe Orange. Das bedeutete moderate Ausgangssperre. Rot zog die sofortige Streichung aller vergebenen Ausgangsslots nach sich.

Aber auch auf Stufe Orange galt es eine Reihe von Formalitäten zu erfüllen. Vor allem musste man sich minutiös an das genehmigte Zeitfenster halten. Der Sinn lag darin, die Anzahl der Benutzer des öffentlichen Raumes unter Kontrolle zu halten. Dies wiederum war unvermeidlich, um die Einhaltung der Regeln des Social Distancing zu gewährleisten.

Der Kommunikator zeigte neun Uhr zweiundfünfzig an. Huang blieben also noch ein paar Minuten.

»Vergiss nicht, den Barcode zu checken, Chérie«, erinnerte ihn Mireille.

Völlig unnötigerweise. Registrierte sie denn nicht, dass Huang gerade dabei war, genau das zu tun? – Zu überprüfen, ob die elektronische Ausgangsgenehmigung ordnungsgemäß auf seinem Kommunikator hochgeladen war?

Im Prinzip ging alles automatisch.

In jedem Quartal stellte Huang einen Antrag auf täglichen Ausgang. Auf der Grundlage seiner Gesundheitsdaten und der Bevölkerungsdichte in seiner Wohngegend erteilte ihm die Gesundheitspolizei eine für drei Monate gültige Freigabe. Er durfte seine Wohnung demnach pro Tag jeweils für eine Stunde verlassen. Mit gewissen Auflagen: Erstens Vollkörperdesinfektion innerhalb von 120 Minuten vor Betreten des öffentlichen Raums; zweitens Tragen einer Schutzmaske; drittens Infektionstest nach der Rückkehr.

Täglich bekam Huang seinen Slot für den Folgetag elektronisch mitgeteilt. Die Vergabe erfolgte im Losverfahren. Nachts herrschte Ausgangssperre. Daher fiel der Ausgang immer auf die Tageslichtstunden.

Die Genehmigung für den Ausgang zur festgelegten Zeit lud sich automatisch auf den Kommunikator. Einmal als Barcode zur optischen Identifikation und zusätzlich als elektronisches Signal. Letzteres diente der Kommunikation mit den diversen Schnittstellen draußen. Stellten diese Sensoren einen Konflikt mit den zentral gespeicherten Daten fest, lösten sie sofort Alarm aus.

Befriedigt stellte Huang fest, dass alles seine Ordnung hatte. Dies zu überprüfen lag in der Verantwortung jedes Einzelnen. So schrieben es die Erlässe zur Gesundheitsschutzverordnung vor.

Huang zog sich seine Schutzmaske über Mund und Nase und schlenderte gemächlich zur Eingangstür. Er hatte gerade seine Jacken übergezogen, als ihm der Kommunikator grünes Licht gab. Er drückte die Klinke und trat hinaus.

»Das Erweiterungsmodul, Chérie«, erinnerte ihn Mireille.

Richtig, das hatte er vergessen. Es empfahl sich, den handflächengroßen Ergänzungsbildschirm einzustecken, wenn man die Wohnung verließ. Wegen der Benachrichtigungen und Hinweise, die man zur eigenen Sicherheit unterwegs bekam.

Die Ergänzung lag auf dem Tischchen bei der Garderobe. Huang schob sie in die Jackentasche.

»Auf Wiedersehen, Chérie, genieße deinen Spaziergang und sei vorsichtig«, hörte er noch Mireilles Stimme in seinem Rücken, bevor er die Tür hinter sich schloss.

Huang benutzte die Treppe. Er mied den Aufzug. Die Kabine konnte eine Brutstätte für Erreger sein, trotz der integrierten Desinfektionsfunktion. Das Haustor unten war mit einem optischen Schloss versehen. Der Barcode am Kommunikator entriegelte es.

Auf der Straße galt ein Einbahnsystem für Fußgänger. Die vorgeschriebene Gehrichtung war in Abständen von einigen Schritten durch weiße Pfeile am Boden markiert. Huang wollte nach links gehen, also musste er auf die andere Seite wechseln. Fahrzeuge gab es fast keine. Aber es galt, den Mindestabstand zu anderen Personen einzuhalten. Neun Meter waren empfohlen, sechs das gesetzliche Minimum.

Der Kommunikator gab einen Warnton ab. Huang schaute sich um. Von rechts näherte sich ein Passant seinem Standort. Er machte einen Schritt zurück in die Eingangshalle und schloss das Glasportal bis auf einen schmalen Spalt. Die Person ging vorbei. Es handelte sich um eine Frau.

Huang wartete noch einige Sekunden und trat dann wieder hinaus. Jetzt war die Luft rein. Im Umkreis von mindestens 20 Meter niemand in Sicht. Rasch überquerte er die Straße.

Die Ergänzung des Kommunikators gab ein vibrierendes Summen von sich. Huang holte es aus der Tasche. »Erholsamen Spaziergang«, stand auf dem Display. »Achten Sie bitte auf die Regeln des Social Distancing. Die Vernunft ist unsere Waffe.«

Mit den Jahren entwickelte Huang ein ziemlich sicheres Augenmaß für die sechs bis neun Meter. Das Epidemiegesetz verpflichtete ihn lediglich, der Person vor ihm nicht zu nahe zu kommen. Was hinter seinem Rücken vorging, entzog sich seiner Verantwortung. Er warf trotzdem gelegentlich einen wachsamen Blick über die Schulter. Manche Leute neigten einfach zum Leichtsinn.

Huang schritt entspannt dahin. Seit eine Virenpandemie der nächsten folgte, hatte sich das Straßenbild grundlegend verändert: im fußgängerfreundlichen Sinn. In der Mitte verlief eine nur einspurige Fahrbahn, die an manchen Stellen um Ausweichbuchten erweitert war. Das reichte, denn Privatfahrzeuge gab es so gut wie keine mehr. Nicht, dass diese verboten waren. Jeder konnte eines oder mehrere besitzen. Aber wozu? In der Stadt machten sie wenig Sinn. Wer nicht vom Homeoffice aus arbeitete, wurde per Firmenshuttle zum Arbeitsplatz befördert, und die Einkäufe kamen per Zustellservice ins Haus. Geselligkeiten mit Familie und Freunden fanden im Allgemeinen in virtuellen Wohnzimmern am Großbildschirm statt. Ansonsten benötigte man einen triftigen Grund und eine Genehmigung der Gesundheitspolizei, um die unmittelbare Nachbarschaft zu verlassen. Für die paar Gelegenheiten taten es Taxis oder Beförderungsdienste.

Ein autonomer Lieferscooter kam piepsend auf Huang zu. Er bewegte sich etwa in doppeltem Schritttempo. Für diese Gefährte und andere mobile Dienste verlief ein 1,4 Meter breiter, blau eingefärbter Fahrstreifen entlang der Hausfassaden, wo sich die Lastaufzüge befanden. Die Fahrtrichtung verlief entgegengesetzt zur Gehrichtung auf der jeweiligen Straßenseite. Der Bereich für die Fußgänger erstreckte sich zwischen dem Scooter-Weg und der Fahrbahn.

Die Bewölkung riss ein wenig auf und vereinzelte Sonnenstrahlen brachen durch. Huang erreichte die weite Kreuzung mit der Hauptstraße. Die Häuser wichen zurück und dahinter sah er in der Ferne die Silhouetten der Wolkenkratzer in den Neubauvierteln jenseits des Flusses. Ein Gebäude überragte alle anderen um ein gutes Stück. Die Glasfassade glitzerte in der Sonne. Es handelte sich um den lokalen Firmensitz des führenden Versandhandelshauses. Das vertraute Markenzeichen hob sich an der Turmspitze gegen den Himmel ab. Die anderen Bürotürme gehörten Konzernen aus den Bereichen Pharmaindustrie, Biotechnologie, Medizintechnik, Finanzwesen, Elektronik und Datenverarbeitung. Alles Bereiche, die seit Eintreten des permanenten Gesundheitsnotstandes boomten.

Diese innovativen Unternehmen boten ihren Mitarbeitern jetzt Office-Homes, statt sie vom Homeoffice aus arbeiten zu lassen. Huang hatte Dokumentationen über den Alltag in diesen Hochhäusern gesehen. Für das Firmenpersonal waren sie Wohn- und Arbeitsplatz in einem, ausgestattet mit allen erdenklichen Annehmlichkeiten. Jeder bekam seine eigene Dienst-Garçonnière mit integriertem Büro. Dank dieser praktischen Einzimmerwohnungen brauchte das Personal die Firma nicht mehr zu verlassen.

Wieder meldete sich der Kommunikator. »Helfen Sie, die Schutzmaßnahmen einzuhalten. Halten Sie die Augen offen. Melden Sie Verstöße. Die Einheit macht uns stark.«

Huang wandte seine Aufmerksamkeit den Schaufenstern zu. Er wollte sich ein neues Paar Schuhe zulegen. Zwar existierten praktisch keine Einzelhandelsgeschäfte mehr, die großen Versandfirmen hatten aber die Läden samt Auslagen übernommen. Eine gemeinsame Initiative mit der Kommunalverwaltung, um das lebendige Stadtbild zu erhalten.

In den Lokalen gab es zwar kein Personal, in den Schaufenstern waren die Produkte aber real ausgestellt. Huang zog das den digitalen Abbildungen in den Onlineshops vor. Besonders wenn es um Bekleidung ging.

Ein paar hundert Meter weiter oben auf der Hauptstraße befand sich ein Schuhgeschäft. Es gehörte zu einem der internationalen Modeversandhäuser. Die Auswahl war überwältigend. Trotzdem fand Huang in den Auslagen nichts, das seinem Geschmack entsprach. Kein Wunder, wenn man das Angebot aus eineinhalb Metern Entfernung betrachten musste. Denn es war ein Vergehen, auf dem Scooter-Weg, der die Häuserfront entlangführte, herumzustehen. Huang empfand das als störend.

Der Kommunikator summte. »Danke für Ihre Bereitschaft, sich den unvermeidlichen Einschränkungen im Kampf gegen die Viren zu fügen. Einsicht ist unser Schutz.«

Man könnte glauben, das Ding kann Gedanken lesen. Huang beschloss, ins Geschäft hineinzugehen und sich dort umzusehen. Beim Eingang markierten Zebrastreifen den Übergang über den Scooter-Weg. Die Anzeige über dem Portal leuchtete grün, was besagte, dass sich niemand drinnen befand. In einem Laden durfte sich nämlich laut Schutzverordnung immer nur eine einzelne Person aufhalten. Huang hielt seinen Kommunikator an das elektronische Schloss und die Schiebetüren glitten auf.

»Willkommen in unserem Schuhparadies, Herr Huang«, begrüßte ihn eine weibliche Stimme mit italienischem Einschlag. »Wir freuen uns auf ihren Besuch.«

Auch im Laden standen die Schuhe in Regalen und Vitrinen hinter Glas. Aber man konnte wenigstens nahe heran. Huang brauchte etwas Warmes für die Spaziergänge im Winter. Gefütterte Halbstiefel im Schaukasten mit den neuesten Modellen fanden sein Gefallen. Nicht eben billig, aber angesichts der jüngsten Gehaltserhöhung konnte er es sich leisten.

Huang hielt seinen Kommunikator an das Minidisplay mit dem Preis und der Modellnummer. Sofort piepste das Erweiterungsmodul in seiner Tasche. Auf dessen Display erschien ein fertig ausgefülltes Orderformular. Sogar die Schuhgröße stimmte. Huang bestätigte mit der Eingabe seines persönlichen Passwortes. Fertig. Die Anzeige versprach die Lieferung für den nächsten Vormittag.

»Danke für Ihren Einkauf, bellissimo, ausgezeichnete Wahl«, verkündete die unsichtbare Verkäuferin. »Wir empfehlen für die Pflege ihrer neuen, hochwertigen Winterschuhe das umweltfreundliche, virenabweisende Imprägnierspray …«

»Danke, habe ich schon«, unterbrach Huang sie und strebte dem Ausgang zu.

Die digitale Italienerin ließ sich vom barschen Ton nicht aus der Fassung bringen: »Ciao, Herr Huang. Besuchen Sie uns bald wieder.«

Noch bevor Huang die nächste Kreuzung erreichte, signalisierte der Kommunikator, dass die Ausgehzeit zur Hälfte abgelaufen war.

Huang beschloss, nicht auf der gegenüberliegenden Seite zurückzugehen, sondern einen anderen Heimweg einzuschlagen. Er bog an der nächsten Ecke rechts ab. Die Straße ähnelte der, in der er wohnte. An einigen Fenstern und Balkonen in den oberen Stockwerken hingen Pflanztröge. Ein paar bunte Blumen trotzten darin wacker dem kühlen Herbstwetter.

Etwas berührte Huangs linke Hand. Er zuckte zusammen. Erschrocken sah er, wie eine fette Fliege über den Knöchel in Richtung Jackenärmel krabbelte. Mit einer hastigen Bewegung seiner Rechten scheuchte er das Vieh weg. Dieses flog zwar auf, statt aber das Weite zu suchen, machte es sich daran, summend seinen Kopf zu umkreisen. Es war eine Fliege von der trägen Sorte, wie man sie in der kalten Jahreszeit antrifft.

Wild mit den Armen fuchtelnd versuchte Huang, das Insekt zu vertreiben. Woraufhin dieses zielstrebig seine rechte Wange ansteuerte. Dort kroch es eilig auf die Gesichtsmaske zu, um darunter Deckung zu suchen. Die Fliege zwängte sich zwischen Stoff und Haut. Genau in diesem Augenblick schlug Huang zu.

Und im selben Moment schoss es ihm durch den Kopf.

Die Schutzcreme. Er hatte die Schutzcreme vergessen! Die virenabweisende Salbe fürs Gesicht. Weil im Desinfektor Mund und Nase abgedeckt sein mussten, fehlte in diesem Bereich der Schutzfilm, mit dem der ganze übrige Körper überzogen wurde. Daher war es erforderlich, die Creme nachträglich aufzutragen.

Noch nie zuvor hatte Huang das vergessen. Aber heute kam diese Lieferung dazwischen. Ausgerechnet, als er aus dem Desinfektor stieg. Nach dem Ausräumen hatte er nicht mehr daran gedacht.

Huang riss sich die Maske vom Gesicht. Am Rand klebte die zermalmte Fliege. Er schüttelte die Insektenleiche ab. Ein braunroter Fleck markierte den Punkt, ab dem das Tier sein Ende fand. Voller Ekel wischte sich Huang mit dem Jackenärmel über die Wange.

»Hey, hallo«, brüllte eine aufgebrachte Stimme hinter seinem Rücken.

Huang wandte sich um.

»Sind Sie völlig daneben?« Ein beleibter Herr in knielangem grauem Mantel zeigte ihm aus sicherer Entfernung einen Vogel. Geifernd drang seine Stimme durch den Mundschutz: »Setzen Sie ihre Maske wieder auf! Und schauen sie gefälligst nach vorne. Wollen Sie mich infizieren?«

Eine Frau, die auf der gegenüberliegenden Straßenseite entgegenkam, blieb stehen und starrte entgeistert herüber.

Huang hob beschwichtigend die Arme. »Eine Flie…«, er brach mitten im Wort ab. Das brauchte er diesen Leuten nicht auf die Nase zu binden. Womöglich lösten die deswegen noch einen Großalarm aus.

Der hinter ihm hörte ohnehin nicht zu. »Maske aufsetzen, habe ich gesagt«, tobte er.

Huang starrte voller Grauen auf den rotbraunen Klecks auf dem Stoff.

»So etwas Unverantwortliches«, kreischte die Frau gegenüber. »Das gehört gemeldet!«

Huang überwand seine Abscheu und zog die Maske über. Hastig setzte er seinen Weg fort. Er konnte den rotbraunen Fleck förmlich auf der Haut spüren. Es fühlte sich an, als würden dort die Fliegenbeine immer noch herumkrabbeln. Aber er zwang sich, nicht hinzugreifen. Die Hände vom Gesicht fernzuhalten, war eine der wichtigsten Überlebensregeln im Zeitalter der Pandemien.

Wo kam diese verfluchte Fliege überhaupt her? Die Straßen waren klinisch sauber. Nachts beseitigten automatische Reinigungsmaschinen jedes Staubkörnchen. Sie sprühten die kleinsten Winkel mit Desinfektionsmittel aus.

Die Blumenkästen. Huangs Blick wanderte die Fassaden entlang zu den Pflanztrögen. Natürlich. Eine Brutstätte für Ungeziefer. Dachten sich die Leute denn überhaupt nichts dabei? Das gehörte verboten.

Sirenengeheul lenkte seinen Blick auf die Straße zurück. Ein Ordnungsscooter rollte mit Blaulicht auf ihn zu. Er war gut doppelt so schnell unterwegs wie die Lieferscooter. Drei Schritte vor Huang scherte das autonome Gefährt vom Scooter-Weg aus und blockierte den Gehweg. Ein rotes Licht leuchtete oben auf der Stirnseite auf.

Huang wusste, was das bedeutete. Also hatte ihn doch jemand gemeldet. Was ja im Grunde seine Ordnung hatte, absolut. Die Schutzbestimmungen schrieben vor, jeden Verstoß sofort anzuzeigen. Man wurde über den Kommunikator ja auch laufend gebeten, in dieser Beziehung mitzuhelfen. Einheit macht uns stark.

Das rote Licht war eine Aufforderung, sofort stehenzubleiben. Huang gehorchte. Der Ordnungsscooter glitt langsam auf ihn zu und stoppte kaum einen Fingerbreit vor seinen Schuhspitzen. Er war etwa kniehoch und erinnerte in seiner Form an ein früheres Automodell. Dieser Umstand verbunden mit dem Blaulicht und allerlei anderen Signallampen auf dem gewölbten Rumpf trug dem automatischen Gesundheitspolizisten im Chatjargon den Spitznamen Leuchtkäfer ein.

Ein Kameraauge richtete sich auf Huangs Gesicht. Das kam nicht unerwartet. Regelmäßige Infoclips klärten die Bürger darüber auf, was hinter dem gewölbten Kunststoffgehäuse ablief. Zuerst schloss sich das System mit dem Kommunikator der auffällig gewordenen Person kurz. Zur Identitätsfeststellung. Um jeden Zweifel auszuschließen, folgte eine Überprüfung mittels Gesichtserkennungssoftware, daher das Kameraauge. Sodann maßen Sensoren die Körpertemperatur, lauschten dem Herzschlag und prüften alle möglichen anderen Vitalfunktionen, soweit dies ohne Berührung möglich war. All das verglich der integrierte Rechner mit den vom Netz heruntergeladenen medizinischen Daten und der Krankheitsgeschichte des Diagnosesubjekts.

Huang mühte sich, gelassen dreinzuschauen. Er war sich darüber im Klaren, dass der Leuchtkäfer seine Gesichtszüge prüfte. Künstliche Intelligenz suchte nach Anzeichen negativer Emotionen wie Zorn, Verbitterung oder Schmerz. Bei begründetem Verdacht auf eine Abnormität oder gar eine Infektion würde innerhalb von Minuten ein Einsatzfahrzeug der Antivirusstaffel anrücken.

Was Rabion-40 so bösartig machte, war seine Übertragbarkeit durch Insekten. Niemand wusste das besser als Huang. Schließlich hatte er selbst das Virus mit dieser Eigenschaft versehen. Des Effektes wegen. Und diese tückische Fähigkeit schien der wirkliche Erreger tatsächlich zu besitzen. Möglicherweise zumindest. Das ging klar aus der Dokumentation im Morgenbulletin hervor.

Aber, beruhigte sich Huang, so schnell schaffte es selbst Rabion-40 nicht, Symptome zu entwickeln. Da konnte der Leuchtkäfer messen und prüfen so viel er wollte. Der Vorfall mit der Fliege lag nur wenige Minuten zurück. Jedes Virus hatte eine Inkubationszeit von wenigstens ein paar Tagen. Außerdem war ja keineswegs gesagt, dass ausgerechnet diese verdammte Fliege infiziert gewesen war.

Der Kommunikator meldete eine Nachricht.

Von der Gesundheitspolizei: »Nach einer eingegangenen Meldung haben Sie während Ihres Ausganges die Gesichtsmaske abgenommen. Trifft dies zu – ja oder nein?«

»Ja.« Leugnen war zwecklos. Irgendeine Überwachungskamera hatte den Vorfall mit ziemlicher Wahrscheinlichkeit gefilmt.

»Bitte begründen sie den Ordnungsbruch«, textete der amtliche Chatbot.

Fieberhaft überlegte Huang. Sollte er die Geschichte mit der Fliege preisgeben? Lieber nicht. Wer wusste, was das für Komplikationen nach sich ziehen würde. Was gab es sonst für eine plausible Begründung? Etwas Unverdächtiges? Zu viel Zeit durfte er sich nicht lassen. Auch das erregte womöglich Verdacht.

Am besten nahe an der Wahrheit bleiben. »Ich dachte, etwas ist mir hineingekrochen. Aber es war nichts.«

»Danke. Bitte halten Sie sich künftig an die Schutzregeln.«

»Selbstverständlich.« War es das dann?

Das Stirnlicht des Leuchtkäfers sprang auf Grün. Huang atmete auf. Aber ohne es sich äußerlich anmerken zu lassen. Der Ordnungsscooter schob sich im Rückwärtsgang auf den Scooter-Weg zurück und glitt von dannen. Huang nahm seinen Heimweg wieder auf.

Der Kommunikator meldete eine Nachricht. Was war jetzt schon wieder? »Entschuldigen Sie die Störung Ihres Ausgangs. Die Einsicht ist unser Schutz.« Huang las es mit Erleichterung.

Kaum schwand die Anspannung der gesundheitspolizeilichen Überprüfung, kehrte das krabbelige Gefühl am Maskenrand zurück. Was, wenn die Fliege doch infiziert war? Sie hatte sich eigenartig verhalten. Irgendwie siech und verwirrt. Ließ sich nicht verscheuchen, wich seinen rudernden Armen nicht aus. Unvernünftiges Trotzverhalten bis hin zu selbstzerstörerischer Aufmüpfigkeit, rief er sich die Symptome beim Menschen in Gedächtnis. Traf das auch auf Insekten zu?

Ein mikroskopisches Tröpfchen reichte zur Übertragung. Und er hatte sich die volle Ladung der Innensäfte dieser Fliege förmlich ins Gesicht geklatscht. Der rotbraune Fleck.

Der Erreger dringt in die Zellen der Nervenfasern an der Hautoberfläche ein und vermehrt sich darin.

Die Worte des Kommentators beim Morgenbulletin drängten sich in Huangs Gedächtnis. Alles in ihm fieberte danach, die Maske wieder herunterzureißen. Die Stelle abzuwischen. Er musste seine geballte Selbstbeherrschung aufbringen, um die Hände unter Kontrolle zu halten.

Er wünschte sich nichts mehr, als sich einer gründlichen Reinigung zu unterziehen. Das konnte er nur zu Hause. Ohne es wahrzunehmen beschleunigte er seine Schritte.

Aufgeregtes Piepsen riss ihn aus den Gedanken. Der Kommunikator schlug Alarm. Offenbar tat das auch jener des Straßenbenutzers vor ihm. Dieser, soweit erkennbar ein junger Mann, hatte sich umgewandt und vollführte mit Händen und Armen hastige, wegscheuchende Bewegungen.

Huang war unwillkürlich in die Sechsmeterzone vorgedrungen. Sofort blieb er stehen und dienerte entschuldigend, die Handflächen bittend flach aufeinandergelegt wie im Gebet. Nur nicht schon wieder eine Anzeige.

Diesmal würde es zwangsläufig Konsequenzen nach sich ziehen.

Pandemie

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