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3. Geschichts-Bilder

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Für die Gründungsväter moderner Geschichtswissenschaften wie Ranke bildet das aufgeklärte Subjekt kein Hindernis, sondern die Grundbedingung schlechthin für historisches Erkennen. Diese Idee wird in den Parallelgeschichten vor allem anhand der Rede vom Bild und seinen unterschiedlichen Gebrauchsweisen verfolgt:

Im Esszimmer der Tante hing an der leeren Wand ein einziges Ölbild von Bedeutung und ansehnlichem Ausmaß, ein Leistikow, der zuweilen in Ausstellungen, Alben und Katalogen zu sehen war.1

Zweifellos handelt es sich bei dem Gemälde um ein (kunst-)historisch bedeutsames Objekt. Für diese Einschätzung bürgt neben der Prominenz des Urhebers, eines wichtigen deutschen Vertreters des bildnerischen Impressionismus, auch die Tatsache seiner Repräsentation in „Ausstellungen, Alben und Katalogen“. Dementsprechend rücken in den Parallelgeschichten nicht allein (historische) Bilder, sondern auch das Problem ihrer Entstehung, Erhaltung und Zirkulation und die Rolle der daran beteiligten Subjekte in den Fokus:

Selbstverständlich enthielten die Kataloge die wesentlichen Angaben zum Bild, seine Maße, seinen Titel, die Tatsache, dass das Werk signiert war, aber auf Verlangen der Tante hieß es jeweils nur, dass es sich in Privatbesitz befinde. Döhring hatte als Kind oft und lange über dieses Wort nachgedacht. Da gab es auf der Welt einen wertvollen Gegenstand, für Fremde meist unzugänglich, und sogar sein Ort wurde geheim gehalten.

Die Reproduktion des Kunstwerks in Katalogen bietet nicht nur Informationen zu seiner Provenienz, sondern dient auch einer Bewahrung des Bildes, das unabhängig vom Ort seiner Entstehung und Ausstellung betrachtet und mit anderen Menschen geteilt werden kann. Trotzdem legt der Kontakt mit dem Originalgemälde vermutlich andere Gebrauchsweisen und Interpretationen nahe als seine Reproduktion. Die Differenz zwischen Original und Abbildung mündet schließlich in grundlegende Fragen nach dem Ort der Bilder und ihrer Bedeutung für das kulturelle und individuelle Gedächtnis:

Das war ihm sehr wichtig, er kultivierte Bilder. Bilder begleiteten ihn, besser, er begleitete Bilder und bewahrte sie in sich auf.2

In diesem Zusammenhang erzählen die Parallelgeschichten nicht allein von Bildern in ihren unterschiedlichen materiellen Verfasstheiten und ihrer geschichtlichen Bedeutung. Sie handeln auch von Bildern der Imagination und ihrer Wirkungen auf Individuum und Gesellschaft. Ihre Aussagekraft beziehen die Bilder nicht allein aus ihrer Historizität, sondern auch aus ihrer Unergründbarkeit, wie sie in folgender Passage beschworen wird:

Bestimmt hätte er später nicht Philosophie belegt, wenn sich in seinem Denken nicht solche Fragen festgesetzt hätten. Das Bild war rätselhaft genug, seine Phantasie anzuregen.3

Die Bilder geben ihren Betrachterinnen zu denken und werden geradezu körperlich erfahrbar. Ihre Erscheinung wirkt direkt auf die Selbstwahrnehmung des Individuums und seine Erkenntnisfähigkeit:

Es tat weh, ein scharfer Schmerz, doch hatte er fast vor Erstaunen aufgeschrien; er stand mitten in Leistikows Gemälde. Immer hatte er gemeint, es sei bloß ein Bild. Nie hätte er gedacht, dass es auf der Welt wirklich einen solchen Himmel, eine solche Spiegelung, ein solches Helldunkel gab.4

Das Bild mutiert zum Symptom, die Bildbetrachtung mündet in einen Kontrollverlust, vor dem man buchstäblich nicht die Augen verschließen kann. Der Zusammenfall der so genannten wirklichen Welt mit ihrer Repräsentation auf der Leinwand vermag feststehende Gewissheiten zu erschüttern. Wer in Bildern lediglich Abbilder historischer Wirklichkeit erkennen mag, geht darum fehl. Vielmehr bringen die Bilder ihre eigene Realität hervor, deren Betrachtung gerade deshalb die geschichtliche Wirklichkeit zu erhellen vermag. So wenig das Individuum über seine Geschichte verfügt, kann es über die mit ihr verbundenen, bisweilen nur unbewusst beschworenen Bilder gebieten:

Schon am Abend desselben Tags konnte Döhring diese Bilder nicht mehr heraufbeschwören. Er hörte noch das brüllende Gähnen, sah es aber nicht mehr.5

Trotz ihrer existenzerschütternden Wirkung erweisen sich die Bilder als flüchtig und schwer fassbar. Darin gleichen sie Walter Benjamins Idee einer Historie im ständigen Entzug:

Das wahre Bild der Vergangenheit huscht vorbei. Nur als Bild, das auf Nimmerwiedersehen im Augenblick seiner Erkennbarkeit eben aufblitzt, ist die Vergangenheit festzuhalten. […] [E]s ist ein unwiederbringliches Bild der Vergangenheit, das mit jeder Gegenwart zu verschwinden droht, die sich nicht als in ihm gemeint erkannte.6

Wie im Fall des Bildes wird auch der Sinn historischer Ereignisse maßgeblich von den Erkenntnissinteressen einer in ständigem Wandel begriffenen Gegenwart bestimmt:

Sie sammelte nur bestimmte Maler, und ausschließlich Bilder von lebenden Zeitgenossen. Wer gestorben war, existierte für sie nicht mehr, mit ihm starb ja auch die Möglichkeit eines aufregenden Austausches.7

Das Historische und seine bildlichen Repräsentationen erweisen sich als dynamischer und letztlich unbeherrschbarer Gegenstand, der mit jedem Blick in die Vergangenheit dem Vergessen entrissen und neu geschaffen werden muss. Insofern erscheint Geschichte in den Parallelgeschichten auch als Summe verworfener Ideen und Handlungsmöglichkeiten, wie ihr Autor selbst bemerkt:

Mich hat der Gedanke nicht mehr losgelassen, dass sich die Prosa als Magd des kausalen Denkens ausschließlich mit dem befasst, was geschieht, obwohl doch auch das, was nicht geschieht, in unserem Leben einen riesigen Platz einnimmt.8

Geschichtsbilder und die mit ihnen verbundenen Akteure werden nicht allein durch tatsächliche Ereignisse, sondern auch durch nicht ergriffene Handlungsmöglichkeiten und Utopien geprägt. Der Blick zurück gestattet auch eine Reflexion über mögliche alternative Verlaufsformen und Deutungen vergangener Geschehnisse. Neben Kontinuitäten werden dabei auch Bruchlinien erkennbar, die das Historische unwiderruflich von der jeweiligen Gegenwart abschneiden:

Leistikow musste das Bild genau von der Stelle aus gemalt haben, an der Döhring jetzt stand. Vielleicht zur gleichen Stunde des gleichen Tages des gleichen Monats, auch wenn man nicht sagen konnte, dass sich in den dazwischen vergangenen hundert Jahren nichts geändert hatte.9

Einmal mehr entlarvt die Frage nach der korrekten Position zur Anfertigung und Betrachtung des längst vergangenen Bildes im Roman die Vorstellung einer historischen Ganzheit als Utopie, der bereits Benjamin eine deutliche Absage erteilt: „Die Geschichte ist Gegenstand einer Konstruktion, deren Ort nicht die homogene und leere Zeit sondern die von Jetztzeit erfüllte bildet.“10

Péter Nádas' Parallelgeschichten

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