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Vorwort der Herausgeber Zwischen Literatur und Reflexion

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Der vorliegende Band geht auf eine Tagung des Literarischen Quartiers – Alte Schmiede im Jahr 2018 zurück. Zu Wort kommen Experten aus Österreich, Ungarn und Deutschland, Literatur- und Kulturwissenschaftler, Historiker, Theoretiker der Architektur und der Psychologie. Die verschiedenen Perspektiven sind dabei mit Nádas’ Text und miteinander verwoben. Im Mittelpunkt steht weniger der philologische Aspekt, sondern vielmehr der Gedanke des Dialogs mit dem Werk. Die Bandbreite der Beiträge umfasst Themen wie Architektur, Geschichte, Sexualität und Geschlecht, Bürgertum und Bürgerlichkeit, der Ort des Romans in der europäischen Literatur und Kultur, aber auch Fragen der narrativen Konstruktionsweise von Nádas’ Roman. Es handelt sich um insgesamt elf Lektüren, die jeweils von einem ganz bestimmten Themenschwerpunkt ihren Ausgang nehmen und diesen dann vertiefen. Was sie verbindet, ist der Verzicht auf eine lückenlose philologische Inbesitznahme oder eine geschlossene Interpretation.

Abgeschlossen wird der Band mit einem Beitrag, in dem der Autor nach einer Lesung aus dem Roman, in dessen Mittelpunkt der deutsche Handlungsstrang stand, zu Wort kommt, als eine Stimme, die zum ‚eigenen Roman‘ spricht. Das Gespräch zwischen den beiden Herausgebern und dem Autor fand im Rahmen des Symposions statt und wird hier in seiner gesamten Länge dokumentiert.

Das Symposium und der Band beschränken sich mit Bedacht auf ein einziges Werk, auch wenn andere Werke des Autors und Texte anderer Schriftsteller von Dante bis Flaubert Erwähnung finden. Es ging den Organisatoren des Projekts darum, ein Werk, vermutlich das Opus ultimum Nádas’, literarisch und theoretisch zu erschließen

Der Monumentalroman von Péter Nádas, Parallelgeschichten (Párhuzamos történetek), ist eine der großartigsten Zumutungen der neuesten europäischen Literatur. 2005 auf Ungarisch erschienen, wurde er seitdem in viele europäische Sprachen übersetzt. Seit 2012 liegt das Werk auch in deutscher Übersetzung vor.

Die Rezensenten haben einhellig hervorgehoben, dass dieses Werk die traditionellen Gattungserwartungen unterläuft und zugleich übertrifft. Der Roman reflektiert auf überaus paradoxe Weise die Unmöglichkeit der Wiederherstellung einer zerbrochenen Totalität und er verzichtet dabei auf die Idee einer kausalen Gesamtschau. Indem er die Brüchigkeit des geschichtlichen Daseins selbst zum Thema und zum Ausgangspunkt der narrativen Komposition macht, treten die äußerst komplexen poetischen, räumlichen, sozialen, psychologischen, geschichtlichen usw. Erzählbezüge zutage. Die mikro-realistische Dichte ist keine Substitution, kein Ersatz für die verlorene Ganzheitlichkeit. Nádas gibt uns eine Lektion, die Welt nicht durch vertikale Unterordnungen in den Griff bekommen zu wollen, die leicht theoretisierbar sind, sondern die unendliche Horizontalität der Sinneswahrnehmungen immer wieder zu bewundern und ohne Urteilsbildung zu reflektieren. „Nicht die Sexualität ist bei Nádas mystisch, auch nicht die Erotik, sondern die Sinneswahrnehmung“, hat Viktória Radics, eine der wichtigsten ungarischen Kritikerinnen des Romans, bemerkt. Die Sinneswahrnehmungen stoßen bei Nádas ans Unendliche. Die Wahrnehmung, so hatte Nádas in seiner faszinierenden Geschichte „Der eigene Tod“ schon geschrieben, geht über die Zeitlichkeit hinaus und ist nicht an die Räumlichkeit gebunden.

Es geht Nádas um eine Schicksalsverstrickung jenseits traditioneller Metaphysik oder historischer Determination, um eine Kausalität „außerhalb der sichtbaren Kausalität“. Und diesen „verborgenen und rätselhaften Zusammenhang“, der ihm so wichtig sei, habe er, so der Autor, in einer „geschlossenen Erzählform“ mit Anfang und Ende und säuberlich durchgehaltener Perspektive nicht angemessen ausdrücken können. Er musste nicht nur Angst, Scham, falsche Rücksicht auf Konventionen, notwendige Lügen und eingeschliffene Heucheleien hinter sich lassen. Es war vor allem unverzichtbar und notwendig, die wahrheitshinderlichen formalen Zwänge der Romangattung beiseite zu räumen und, lange nach den entsprechenden Versuchen Prousts und Joyces sowie – mit Blick auf den österreichischen Kontext – Brochs und Musils, den Roman, eine literarische Gattung, die die europäische Identität zutiefst mitgeprägt hat, regelrecht nochmals neu erfinden.

Péter Nádas sucht nicht nach übergeordneten Prinzipen für die textliche Gestaltung der geschichtlichen, räumlichen und psychologischen Komplexität der Welt, die in faszinierenden Partialgeschichten wahrnehmbar wird. Im Hinblick auf die ästhetische Ideologie der Erzählung erweist sich diese Komplexität als undurchschaubar, und das erschwert natürlich auch die „Arbeit“ des Lesers. Die langen, oft orgiastischen Umschreibungen der wahrnehmbaren Erscheinungen verleihen allen Objekten, egal, ob es sich um psychologische Prozesse, Eindrücke, räumliche Gestaltungen oder um die Erzählstruktur des Romans handelt, einen lebendigen, körperlichen Charakter, der sich nie fix begreifen lässt. Das vermeintliche Übergewicht, das diesen lokalen Umschreibungen zuzukommen scheint, relativiert sich im Laufe der Erzählung immer mehr. Die Akteure erfahren, was sie in Aktionen erlebt haben, erst im Nachhinein. Dieses Meisterwerk korporaler Narrativität macht Interpretationen nicht nur notwendig, sondern erschließt sich auch erst durch die Reflexion des Lesers. Der Roman kann sich in dieser Hinsicht als modellhaft erweisen und diese Modellhaftigkeit beinhaltet ein großes Reservoir an Optionen für neue Sichtweisen der europäischen Geschichte. Diese Optionen gilt es durch Interpretationen, die dialogisch an den Text anschließen, herauszuarbeiten. Die Geheimgänge, die die Parallelgeschichten verbinden, durchlaufen alle ein klar erkennbares Zentrum: die totalitäre Erfahrung des 20. Jahrhunderts als ein Kernstück eines kollektiven, unabschließbaren Erinnerungsprozesses im europäischen Kontext. Alle Figuren des Romans stammen aus Familien, die als Opfer oder als Täter in den Nationalsozialismus oder in den Stalinismus verstrickt waren.

Wir danken allen, die uns bei diesem Vorhaben ideell und finanziell unterstützt haben, Dr. Kurt Neumann von der Alten Schmiede, der Abteilung für Finno-Ugristik an der Universität Wien, der Kulturabteilung der Stadt Wien, Herrn Bernhard Heiller für das Lektorat und der Aktion Österreich-Ungarn, die den Druck des Werkes finanziell unterstützt hat.

Wolfgang Müller-Funk

Gábor Schein

Budapest/Wien im November 2020

Péter Nádas' Parallelgeschichten

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