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1. Standortbestimmungen

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Zweifellos stellt die Lektüre der 2005 auf Ungarisch veröffentlichten Parallelgeschichten aufmerksame Leserinnen vor besondere Herausforderungen, die ihre Übersetzerin Christina Viragh 2012 in einem Interview mit Deutschlandradio Kultur folgendermaßen beschreibt:

[I]n diesem Text ist es hin und wieder schwierig, sich zurechtzufinden. Also, man weiß nicht, wer spricht wo, wann. Dazu hilft das Ungarische, weil das Ungarische das Subjekt nicht nennt. Also, man kann damit spielen, dass man das ein bisschen vertuscht, wer jetzt gerade am Sprechen ist, und Péter tut das absichtlich.1

Diese Einschätzung bestätigt auch ein Blick in die deutsche Fassung des Romans, die 2012 im Hamburger Rowohlt Verlag erschienen ist. Permanent schiebt sich die Frage nach dem Subjekt in den Vordergrund der Lektüre, wie folgende Passage aus dem Kapitel „Der Schöpfer hat es bestimmt so gewollt“ im Ersten Buch der Parallelgeschichten illustriert:

Interessant, dass sich so schwer neurotische Figuren in Psychologie und Philosophie einschreiben. Was ihre Aussichten eher verschlechtert als verbessert. Nach ein paar Jahren wissen sie zwar mehr, aber nicht unbedingt über ihre eigenen Probleme.2

Wer mit wem spricht, bleibt hier unbeantwortet. Orts- und Zeitangaben, die im unübersichtlichen Stimmengewirr des Textes für Orientierung sorgen könnten, fehlen. Auch bleibt unklar, in wessen Namen hier überhaupt gesprochen wird. Fragen nach der Legitimation des Gesprochenen bleiben ebenso unbeantwortet wie jene nach möglichen literarischen Vorbildern.

Tatsächlich erinnern zahlreiche Passagen des Romans in formaler und stilistischer Hinsicht an Gustave Flaubert, dessen Poetik Péter Nádas bereits 1992 in seinem Aufsatz „Ein zu weites Feld“3 diskutiert. Die Lektüre ruft insbesondere Assoziationen zum 1881 erschienenen Romanfragment Bouvard und Pécuchet hervor, das wie die Parallelgeschichten nicht allein einer Erzählung persönlicher Schicksale, sondern auch der Darstellung ihrer jeweiligen gesellschaftlichen und historischen Bedingtheit gewidmet ist.

Auf der Suche nach Selbsterkenntnis gehen die beiden Pariser Kopisten Bouvard und Pécuchet in die Provinz und bei bedeutenden Wissenschaftlern und Künstlern ihrer Zeit in die Lehre, um doch nicht klüger zu werden. Anstatt dem Individuum neue Sicht- und Handlungsweisen zu eröffnen, so die bitterböse Pointe des Romans, verstellen die modernen Wissenschaften letztlich den Zugang zur Lebenswelt und ihrer Interpretation. Zu Recht denkt man an dieser Stelle wohl auch an die kritischen Bemerkungen zum Wert von Philosophie und Psychologie am Beginn der Parallelgeschichten. Akademische Konventionen, wie sie etwa ein Studium der Psychologie vermittelt, geben kaum Aufschluss über die Zumutungen moderner Lebensentwürfe, denen Flaubert wie Nádas mit ihren Erzählprojekten Kontur verleihen wollen.

Die Einsicht in die Grenzen und Möglichkeiten (wissenschaftlicher) Selbsterkenntnis bestimmt aber nicht nur den Inhalt beider Romane, sondern prägt auch seine Inszenierung im literarischen Text. Diese Verwobenheit von Inhalt und Form wird im Folgenden anhand des Begriffs der Geschichte und seiner Bedeutung für die Parallelgeschichten thematisiert. Mit der Vielzahl an Deutungsmustern und Handlungsmöglichkeiten, die mit dem Begriff des Historischen verbunden sind, stehen damit auch die unterschiedlichen Möglichkeiten zur Beschreibung und Interpretation geschichtlicher Ereignisse im wissenschaftlichen und literarischen Kontext zur Disposition. Dies erklärt vielleicht die Skepsis, mit der Péter Nádas den akademischen Geschichtswissenschaften begegnet, wie folgende Bemerkung zu Beginn seines Romans demonstriert:

Ich beeile mich zu versichern, dass die Leserin, der Leser kein geschichtliches Werk, sondern einen Roman in der Hand hält und dass also sämtliche scheinbar der Wirklichkeit entlehnten Namen, Gestalten, Ereignisse und Situationen einzig der schriftstellerischen Phantasie entsprungen sind.4

Trotz dieses Dementi bleibt Nádas’ Text als historischer Roman erkennbar, zumal seine erdachten Motive und Handlungsstränge vor dem Hintergrund konkreter geschichtlicher Ereignisse und ihrer gesellschaftlichen Rezeption entfaltet werden. Dabei formen die einzelnen Episoden der Parallelgeschichten auch retrospektiv kein Ganzes. Vielmehr handelt es sich um Bruchstücke historischer Geschehnisse, die weder von den an ihnen beteiligten Romanfiguren noch ihren Leserinnen vollständig überblickt oder geordnet werden können, wie der Autor selbst retrospektiv über sein Vorhaben notiert:

Wenn wir das Gefühl haben […], warum gerade jetzt, warum nicht einem anderen, warum gerade uns, dann stehen wir vielleicht unter Wirkung eines Geschehens, dessen Akteure und treibende Kräfte wir gar nicht kennen.5

Diese Beobachtung bestätigt auch die titelgebende Rede von Parallelgeschichten anstelle einer einzigen Parallelgeschichte, die als Kritik gegenüber einem bis heute weit verbreiteten historischen Einheitsdenken gelesen werden kann, das der amerikanische Literaturtheoretiker Dominick LaCapra folgendermaßen charakterisiert:

Relativ unbefangen hat man [in den Geschichtswissenschaften, F. H.] mit dem Problem der Erzählstimme oder des Erzählstandpunktes hantiert. Der Erzähler beansprucht Allwissenheit und stützt sich auf die Regel der Einheit, der Einheit der Stimme der Erzählung ebenso wie der von Erzählung und Stimme des Autors. Und es ist bezeichnend, daß die Geschichte stets nach dem chronologischen Schema (Anfang, Mittelteil, Ende) aufgebaut wird.6

Dem bereits im Titel formulierten Misstrauen gegenüber Chronologien als historischem Ordnungsprinzip korrespondiert das Parmenides entliehene Motto des Romans: „Es ist mir das Gleiche, woher ich ausgehe; denn dort werde ich auch ankommen.“7

Wie Bouvard und Pécuchet entpuppen sich die Parallelgeschichten im Fortschreiten der Lektüre als negativer Entwicklungsroman, dessen Geschichten kaum Entwicklung und dessen Figuren kein erreichbares Ziel zu kennen scheinen.

Die erzählerische Absage an eine teleologische Einheit der Geschehnisse prägt dabei auch die Form meiner weiteren Ausführungen, die Romanausschnitte, poetologische Aussagen des Autors und Zitate aus der geschichtstheoretischen Forschungsliteratur ohne eine abschließende Deutung gleichberechtigt nebeneinanderstellen. Die Montage der Textmaterialien, die jeweils anderen Zeiten, Ansprüchen und Disziplinen verpflichtet sind, soll zugleich darauf verweisen, dass sich historisches Denken nicht auf die Geschichtswissenschaften beschränkt. Vielmehr gilt es, in seinem Nachvollzug auch Vorstellungen und Gegenstände zu adressieren, die akademisch verbürgten Denk-, Sprech-, und Schreibweisen bisweilen entgegenstehen. Die Darstellung beansprucht zudem keinerlei Vollständigkeit, sondern möchte geschichtliche Problemhorizonte identifizierbar machen, die zu einer weiterführenden Lektüre der Parallelgeschichten motivieren.

Péter Nádas' Parallelgeschichten

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