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Péter Nádas’ Parallelgeschichten
ОглавлениеDer historische Hintergrund
Károly Kókai
Die Struktur von Péter Nádas’ Parallelgeschichten scheint klar zu sein. Der Titel gibt diese Struktur ja vor. In den Parallelgeschichten laufen aber nicht nur einzelne Erzähllinien nebeneinander, einmal der einen und das andere Mal der anderen Raum gebend, sondern es läuft eine Erzähllinie sozusagen im Hintergrund ständig mit. Die Geschichte Mitteleuropas im 20. Jahrhundert bildet insofern eine von diesen parallel gestellten Geschichten, weil Nádas mit „der Geschichte“ auf eine spezifische Weise umgeht.1 Die Geschichte bekommt eine besondere Bedeutung. Schlüsselereignisse der Erzählung, bestimmende Entwicklungen der Protagonisten lassen sich nur verstehen, wenn der Leser die geschichtliche Dimension mitberücksichtigt. Zweitens zeichnet sich der spezifische Umgang von Nádas mit der Geschichte dadurch aus, dass er – er schreibt ja kein wissenschaftliches Werk – bestimmte geschichtliche Zusammenhänge überdeutlich macht und andere ausblendet. So erscheint es immer dringlicher, den geschichtlichen Hintergrund von Parallelgeschichten etwas genauer anzuschauen.
Erschwert wird dieser Zugang dadurch, dass der Roman auf langen Strecken im Geschichtlichen stehenzubleiben scheint. Es werden aus dem Fluss der Geschichte gewisse Momente herausgegriffen und zwar auch solche, die in der Ereignisgeschichte – die aus der politischen Geschichte sogenannte zentrale Ereignisse herausgreift und sie als isolierte Schlüsselstellen aneinanderreiht – keinen besonderen Stellenwert haben. So 1961 und 1938. Das dritte Jahr, das im Zeitregime des Romans großen Raum einnimmt, ist 1989, auch Wendezeit genannt. Bezogen auf den Umgang mit Geschichte ist der nächste interessante Punkt, wie diese Geschichtsmomente in der Romanstruktur untergebracht werden. Eröffnet wird die Erzählung mit 1989. Was wir dann lesen, ist gleichsam eine Vorgeschichte der Anfangsszene in einem Berliner Park der Wendezeit. Wichtig ist dabei auch festzuhalten, dass Geschichte zwar die ständig anwesende Parallelgeschichte ist, das Thema, der zentrale Aspekt des Romans aber nicht die Geschichte selbst ist, sondern der Versuch, die Identität des – wieder in mehreren parallelen Lebensläufen multiperspektivisch gebrochenen – geschichtlichen Individuums fassbar zu machen.
Worum geht es in den Parallelgeschichten? Die These dieses Aufsatzes ist: Es geht um den Beweis, dass man unendlich nachdenken, sich mit den Details des Körpers, mit den Geschichten anderer, so insbesondere der eigenen Vorfahren beschäftigen kann, dies alles aber über die Frage, ob man bereit ist, Verantwortung zu übernehmen, nicht hinweghilft. Eine Verantwortung natürlich nicht für Taten, die man nicht selbst begangen hat, aber eine Verantwortung für die Folgen von Geschichten, die die Gegenwart, unsere Identität prägen. Denn wir stehen vor der Wahl, unsere Identität und unsere Gegenwart in der Entropie von Kausalketten aufzulösen oder aber die Worte zu finden, die die Logik des Schreckens verständlich machen.
Péter Nádas’ 2005 publizierter Monumentalroman Parallelgeschichten ist nicht nur in der Hinsicht monumental, dass die ungarische Version 1500 Seiten lang ist, sondern in seinem Anspruch, nicht nur umfassend, sondern auch erschöpfend zu sein. Bestimmte Themen oder Themenkomplexe wie Körperlichkeit oder Raumordnungen werden im Buch so oft wiederholt und derart ausführlich besprochen, dass der Leser den Eindruck gewinnt, dass sie den Autor über die Grenzen hinaus bis zum Exzess interessiert haben müssen. Umfassend und bis zur Besessenheit detailliert ist das Werk auch in der Darstellung von ausgewählten, historisch genau verortbaren Geschehnissen, so etwa von Einzelheiten der Vorbereitungen der Deportation der jüdischen Bevölkerung Ungarns, der Vorbereitungen und der Vollziehung von sogenannten rassenhygienischen Maßnahmen während des Nationalsozialismus in Deutschland oder des Aufstands im Oktober und November 1956 in Budapest betreffend. Nádas reiht dabei Episoden aneinander, in denen sich die Geschichte Zentraleuropas im 20. Jahrhundert verdichtet. Diese Verdichtungen – in flüchtigen Begegnungen wie einem Geschlechtsakt, einer Taxifahrt, einem Telefonanruf – werden dann wieder jeweils in ihre einzelnen Momente zerlegt und diese Momente aus den Perspektiven der einzelnen handelnden oder das Handeln anderer erleidenden Akteure dargestellt. Was auf diese Weise entsteht, sind die parallel gestellten Schicksale, die den Roman ausmachen.
Aus einer bestimmten Perspektive betrachtet, ist der Roman ein rundes, geschlossenes Ganzes. Alle Parallelgeschichten werden zu Ende erzählt, alle Fäden werden verwoben. Indem nämlich die Geschichten sich wiederholen (etwa: als Kind politisch exponierter Eltern in Internate zu kommen) und die Figuren ähnliche Schicksale erleben. So schließt sich die Geschichte, indem wir erfahren, wer der Riese von der Margareteninsel war. Oder, indem wir erfahren, wer der Gefängniswärter unter Horthy, Rákosi und Kádár war, der, wenn es sein musste, zuschlug. Oder, indem wir sehen, wie Carl Maria Döhring und Kristóf Demén die gleiche Laufbahn durchlaufen; indem wir László Bellardi als Kind, als Schiffskapitän und als Taxifahrer erleben; indem wir die kartenspielenden Damen Dr. Irma Szemző, geborene Arnót, Margit (Mádi) Huber, Izabella (Bella) Dobrovan und Mária Szapáry sowie die im Rollstuhl sitzende Elisa Koháry, geschiedene Bellardi, als 20-jährige in Paris und Wien sehen und dann in den späten 30ern, 1944–45 und wieder 1957 und zuletzt 1961, als sie sterben. Das sind ja komplette Leben. Das Buch fängt mit einem Toten im Park an (der wenige Minuten davor noch lebte) und endet mit etwas Erschreckendem in einem Wohnwagen. Wir kommen also von Schrecken zu Schrecken. Wir bewegen uns im Kreis. Wir lesen dieselbe Geschichte immer wieder in Fortsetzungen und Variationen.
Dabei bietet das Buch zahlreiche mögliche Lesarten an. Eine davon besteht darin, den Titel Parallelgeschichten nicht allzu wörtlich zu nehmen. So gesehen, handelt das Buch nicht von mehreren Geschichten, sondern nur von einer. Der Autor führt den Leser in diese Geschichte hinein, indem er eine Vielzahl von Episoden, Situationen, Figuren aufreiht, die, wie der Titel andeutet, parallel gesetzt werden und in wenigen Grundsituationen und in wenigen Figuren verschmelzen: im Kind politisch exponierter Eltern, inmitten von politisch extremen Entwicklungen des 20. Jahrhunderts; in der Vatergestalt – sei es „der Riese“ von der Margareteninsel, sei es Gyula Bartler senior, der seinen Sohn prügelt und einen geistig Behinderten erschlägt; seien es Hermann und Gerhard Döhring in der Ortschaft Pfeilen; sei es Othmar Schuer beim Familienessen mit Gästen oder sei es der im Roman nie auftretende István Lehr. Die dritte Grundfigur ist die Frau bzw. sind die Frauen. Diese sind auffallend undifferenziert dargestellt. Wir erfahren aus der Geschichte Gyöngyvér Mózes’ wesentlich weniger an Bruchstücken als aus der von Ágost Lippay. Irma Szemző, Imola Auenberg oder Erna Demén erscheinen trotz ihrer zig Seiten umfassenden Beschreibung eindimensional. Sie scheinen bloß um die Männer zu kreisen. Imola Auenberg kann beispielsweise zwischen Mihály Horthy, Othmar Schuer, Albert Speer und Arno Breker nicht unterscheiden. Während wir die Männer in der Figur des Vater-Sohnes verstehen, verstehen wir die Frauen trotz seitenlanger und auch aus Frauenperspektive geschilderter Geschlechtsakte nie. Die eine Geschichte, die hier erzählt wird, handelt also von der Determiniertheit von Kindern systemtragender Verbrecher, und wie sich die Geschichte im Generationsrhythmus, ganz schematisch und zugleich von jeweils verschiedenen akzidentiellen Ereignissen mitgeformt, wiederholt. Deshalb ist im Roman jeder homo- oder zumindest bisexuell, jeder könnte mit jedem Sex haben, weil es eben nur zwei Gestalten sind: Vater/Sohn einerseits und Mutter/Schwester/Liebhaberin andererseits. Diese Figuren nehmen im Lauf der Geschichte verschiedene Persönlichkeiten an.
Wenn die im Roman erzählten Geschichten nicht parallel, sondern oft wundersamerweise miteinander vernetzt sind, was für ein Bild der Geschichte entsteht für den Leser? Was erfahren wir über die Dynamik, die Erfahrbarkeit der Geschichte? Was wir erfahren, sind extrem intensiv und extensiv dargestellte Kreuzungsmomente. Dass sich also Menschen an bestimmten zeitlich und örtlich genau angegebenen Punkten begegnen. Diese aneinandergereihten Konstellationen machen den Roman aus.
Ein weiteres romankonstituierendes Verfahren ist das In-den-Mittelpunkt-Stellen des Körpers. Nádas beschäftigt seinen Leser mit Geruch und Ausscheidung und Oberfläche und Pigment und Haar der Romanfiguren. Das erweckt den Anschein, es wäre das Verdrängte jetzt an die Oberfläche geholt worden. In Wirklichkeit war der Körper aber in der westlichen Zivilisation, um die es Nádas geht, nie verschwunden. Man nennt es Kultur, wie man mit ihm, mit seinen verschiedenen Funktionen, Formen und Darstellungen umgeht. Es gibt dazu zahllose Kulturtechniken von der Hygiene über die Psychoanalyse und Bekleidungsindustrie bis zur Medizin. Und auch natürlich die Künste wie die Bildhauerei oder die Literatur.
Der historische Hintergrund von all dem ist das 20. Jahrhundert, das hier auch natürlich nur nach gewissen Prinzipien selektiert erscheinen kann. So ist es eine interessante Frage, auf welche Perioden Nádas sich konzentriert: Was berücksichtigt er? Wo fängt seine Geschichte an und wo endet sie? Eine Kontinuität, die die Geschichte der handelnden Figuren betrifft, ist ab dem Ende des Ersten Weltkriegs gegeben, ab Othmar Schuers Jugend, als dieser sich an einer antikommunistischen Racheaktion beteiligt. Das späteste Ereignis, das insofern hervorgehoben wird, als der Roman mit diesem anfängt, ereignet sich im Jahr 1989, um die Zeit der sogenannten Wende. Nádas konterkariert natürlich diese einfache Interpretation – ein gestalterisches Mittel des Autors ist ja das Spiel mit Lesererwartungen – und fügt Ereignisse ein, die diesen Rahmen sprengen. Etwa die Geschichte des Hauses der Familie Demén in Budapest, die sich irgendwann im späten 19. Jahrhundert abgespielt haben dürfte. Ein zweites Ereignis liegt Jahrhunderte zurück, passt aber logisch in die Geschichte, da es die antisemitische Tradition in Deutschland aufzeigt, nämlich die Geschichte von „Rabbi Ammon aus Cleve“. Die Geschichte fängt also „eigentlich“ im Mittelalter an. Und es gibt auch einen über 1989 hinaus liegenden weiteren Zeitpunkt, der als „eigentliches“ Ende angegeben werden kann, nämlich den Zeitpunkt des Abschlusses der Arbeit, den Zeitpunkt der Veröffentlichung, weil der Autor ja gar nicht anders kann, als zu berücksichtigen, was während des Schreibens um ihn stattfindet. Welche Perioden der Text auch immer behandelt, untilgbar bleibt die Perspektive der Periode, in der der Autor ihn verfasst, also die zwanzig Jahre von 1985 bis 2005.
Zumindest ebenso interessant wie das, was aus der Geschichte des 20. Jahrhunderts im Roman sichtbar gemacht wird, ist das, was unsichtbar bleibt. Wenn Karakas im Lukács-Bad mit András Rott den Einsatz von Ágost Lippay bespricht, dann muss Karakas ein Staatssicherheitsdienst-Offizier sein, da niemand außer Mitarbeitern des Staatssicherheitsdienstes die Identität anderer Offiziere kennt. Doch Karakas, Rott und Lippay gehörten wohl nicht nur dem Staatssicherheitsdienst an, sondern waren auch Parteimitglieder. So stellt sich die Frage: Warum fällt im Buch kein Wort über die kommunistische Partei Ungarns?
Auf den historischen Hintergrund bezogen lautet die Frage daher: Was von diesem Hintergrund erscheint im Roman? Alles beginnt mit dem Ende des Ersten Weltkriegs. Othmar Schuer und István Lehr kommen von dort. Der eine ist Rassenbiologe, der andere offener und dann geheimer Nationalist. Ihre Kinder wachsen in den späten 1930ern, während der 40er- und beginnenden 50er-Jahre auf, also während des Nationalsozialismus und des Stalinismus von 1933 bis 1953. Das verbindende Zentrum wäre so gesehen die Person Erna Demén, die mit István Lehr verheiratet ist und deren Bruder Miklós Demén stalinistischer Politiker war. Sie müsste also am direktesten mit beiden politischen Systemen in Verbindung stehen, wäre sie nicht als Frau den Männern bloß beigestellt. Eine zweite verbindende Figur wäre János Kovach/Wolkenstein, Sohn einer nationalsozialistischen Wissenschaftlerin und eines ungarischen Kommunisten, doch auch er ist keine Hauptfigur. Die Hauptfigur ist Kristóf Demén, zu dessen vielen Gesichtern etwa Carl Maria Döhring gehört, bzw. jene Gesichter, die wir durch Schilderung von Figuren wie Carl Maria Döhring verstehen lernen.
Was bedeutet es nun, dass das Geschehen um Othmar Schuer im Jahr 1919 das früheste Ereignis in diesem historischen Panorama und jenes um Carl Maria Döhring im Jahr 1989 das späteste ist und beide in Deutschland stattfinden? Offenbar orientiert sich Nádas an der Periode des sogenannten Kurzen 20. Jahrhunderts.2 Und es sagt aus, dass die dargestellten ungarischen Geschichten und Ereignisse nicht nur in vielfachen Gesichtspunkten mit den deutschen in Verbindungen stehen, sondern dass jene von diesen umrahmt werden. Das suggeriert, dass das, was in Ungarn passierte, eine Reaktion auf bzw. eine Reflexion der deutschen Geschichte sei. Das wäre aber angesichts des geschichtlichen Hintergrundes – wenn unter diesem die große, durch die Wissenschaft erforschte Geschichte verstanden wird – eine deutliche Vereinfachung. Ungarn konnte im 20. Jahrhundert innerhalb gewisser, natürlich wiederholt sehr eng gesteckter Rahmen immer seine eigenständige Politik machen. Und vor allem: Jede geschichtlich, also etwa politisch, aber auch kulturgeschichtlich agierende Figur konnte und kann sich entscheiden. Als Erwachsener ist jeder verantwortlich dafür, was er damit anfängt, was ihm als Kind widerfahren ist. Das gilt für jede im Roman auftretende Figur gleichermaßen. So muss man nicht in politisch exponierten Kreisen verkehren. Und wenn jemand die Entscheidung trifft, zur Zeit einer Gewaltherrschaft sich an der Gewalt zu beteiligen oder sich den Gewalttätigen anzubiedern, dann ist das eben seine Entscheidung. Nádas’ Roman Parallelgeschichten legt mit einer faszinierenden Intensität dar, wie Verbrechen und das Umfeld von Verbrechen funktionieren. Ob sich ein Wissenschaftler, Gefängniswärter, Künstler, Übersetzer etc. arrangiert, ob er mitläuft oder selbst lenkt, ob er aus Gründen der Gewinnsucht oder damit er zur Elite gehört, egal, wofür diese Elite steht, dabei sein will: Jeder wird Teil des Systems, das er mitgestaltet.
Seinem Roman stellt Péter Nádas ein Parmenides-Zitat über den Kreislauf der Geschichte voran. Es scheint also auch im Roman selbst darum zu gehen, dass dieser Kreislauf nicht durchbrochen werden kann: Carl Maria Döhring verübt aufs Neue das Familienverbrechen, und Ágost Lippay wiederholt die Involvierung seines Vaters in die Strukturen der Staatsgewalt. Das gilt insbesondere auch für die Frauenfiguren, denen zwar ein mehr oder weniger schillerndes Leben, wie das einer Balletttänzerin oder der Ehepartnerin von berühmten Wissenschaftlern, aber keine eigenständige Entwicklung zugebilligt wird. Es scheint aber im Roman auch eine andere Möglichkeit auf. So beim Kommissar Kienast, der an hereditärer Epilepsie leidend im Kindesalter in eine NS-Anstalt gesperrt wurde, aber als Polizist am Ende des Romans gerade unterwegs ist, das Verbrechen Carl Maria Döhrings, mit dem das Buch begonnen hat, aufzuklären. Kienast ist ein Beispiel dafür, dass man aus dem Kreislauf ausbrechen kann. Ein anderer Ausweg ist die Emigration, wie jene des Architekten Alajos Madzar. Wobei Emigration nicht als Scheitern, sondern eben als Chance angesehen werden muss – eine Interpretation, die in diktatorischen Regimen gern in Verruf gebracht wird.
Die Frage, um welche Geschichte es bei Nádas geht, lässt sich auch einschränken, indem man danach fragt, wie die Gesellschaftsschicht heißt, deren Geschichte hier entfaltet wird. Welcher Gesellschaftsschicht gehören die Figuren des Romans an? Es ist ohne Zweifel das Bürgertum, und zwar in der Vielschichtigkeit dieser Kategorie. Es sind Staatsbeamte, die gewillt sind, die Vorgaben der jeweils etablierten Politik zu exekutieren, es sind Staatsbürger, also Citoyens, die die politischen Weichenstellungen nicht nur passiv über sich ergehen lassen, sondern vielfach aktiv mitgestalten, motiviert durch die Hoffnung auf persönliche Karrieremöglichkeiten, und es sind auch Kulturbürger, die als Wissenschaftler „etwas voranbringen“ und ihre moralischen Wertvorstellungen verwirklicht sehen wollen. Sie verstehen sich als die Mehrheit, die daher ein demokratisches Recht habe, ihre Mehrheitsposition als politisch Bestimmendes durchzusetzen. Sie fühlen sich als diejenigen, deren Zeit nun gekommen ist. Daher werden die relevanten Kämpfe innerhalb der Gruppe selbst geführt. Sie sind genauso Täter wie Opfer, wobei durchaus auch der Fall vorstellbar ist, dass die Tat durch erlittenes Leid gerechtfertigt wird. Nádas’ Figuren repräsentieren das ungarische Bürgertum. Es sind ein Architekt, eine Psychoanalytikerin, ein Politiker, ein Wissenschaftler, ein Holzhändler, ein Schiffskapitän, ein Übersetzer und ihre jeweiligen Familienangehörigen. Das Bürgertum der Zwischenkriegszeit war nach 1945 zunächst Objekt stalinistischer Säuberungen und ab Ende der 1950er-Jahre Mitträger des Systems. Die kommunistischen Funktionäre stammten aus ihm oder wuchsen in es hinein. Das prägte die Schicht, und diese Schicht ist es, die in Nádas’ Buch seziert wird. Die Träger der Geschichte sind bei Nádas die Bürger. Und zwar, indem das Bürgertum eine spezifische – ungarische, mitteleuropäische – Bedeutung bekommt. Und diese Schicht kann auch bei Nádas nicht scheitern, weil sie sich im Kreislauf perpetuiert.
Falls wir den Vorschlag, uns auf die Geschichte des Kurzen 20. Jahrhunderts zu konzentrieren, lediglich als romangestalterisches Prinzip ansehen, das die Interpretation des Romans anregen und nicht einschränken soll, lässt sich die Frage stellen: Was sagen Nádas’ Parallelgeschichten über ihre Entstehungszeit 1985–2005 aus? Was waren also die letzten fünf Jahre des ungarischen Staatssozialismus und die ersten fünfzehn der Nachwendezeit bis zum Eintritt Ungarns in die Europäische Union? Es war eine Neuorientierung, oder zumindest ein Versuch der Neuorientierung. Merkwürdigerweise arbeitet sich die Nádas’sche Neuorientierung am Verhältnis Ungarn-Deutschland ab. Alles andere – insbesondere die Sowjetunion – kommt lediglich am Rande vor. Interessant ist auch, dass 1989 zwar als Ausgangspunkt gesetzt wird, es aber doch um die Periode der 1930er- bis 1960er-Jahre geht, wenn Momente aus dieser Periode extensiv entfaltet werden. Alles andere ist Vorgriff und Nachhall. Dieser Vorgriff und dieser Nachhall erklären oder erhellen aber nichts. Sie blitzen irgendwo auf, wohl auch im Gedankenlabyrinth der handelnden Figuren, gehen aber in der Flut der Körperwahrnehmungen und Umweltbeschreibungen gleich wieder unter. Sie stehen als Chiffre für die zeitliche Anfangslosigkeit und Unabgeschlossenheit. Dafür also, dass die Geschichte nicht nur parallel, sondern auch offen ist.
Nádas erlebte 1985–2005 eine Umbruchzeit. Er hatte die Chance, das literarisch zu fassen, wofür er in der Periode des Staatssozialismus – seine Schriftstellerlaufbahn fing nämlich 1965 an – keine Möglichkeiten sah. Er hatte somit die Chance, seine unmittelbare Gegenwart literarisch zu beschreiben: die Wende von 1989 und was ihr vorausging. Doch anstatt dieser 30 Jahre ab 1960, wählte er die 30 Jahre zwischen 1930 und 1960. Dabei würden die ca. dreißig Jahre vor der Wende das erklären, was diese war, wohingegen die Periode 1930–1960 nicht „1989“, sondern die Zeit 1960–1990 erklärt. Offenbar geht es Nádas um die Generationen, und Generationen werden üblicherweise mit dreißig Jahren gemessen. All das sagt aber: Nádas gibt auf die Frage des Romans keine direkte, sondern eine indirekte Antwort.
Zentrale gestalterische Momente von Nádas sind erstens das zeitliche Zurückgreifen und zweitens die Konzentration auf Ungarn-Deutschland. Beides fordert den Leser heraus, lenkt von direkten Zusammenhängen ab und hebt die Problematik ins Allgemeine. Das ist die eine Seite. Andererseits aber: Einmal wird die direkte Vergangenheit ausgeblendet und eine indirekte und vergangene eingeblendet, noch dazu, indem diese in einer Überfülle von körperlichen oder topographischen Details aufgelöst wird. Das andere Mal wird mit der Betonung Deutschlands das Eigene abgeschwächt. Die Frage von 1989 muss sich aber jedes Land und jedes Individuum selbst stellen. So lautete eine der Fragen im Jahr 2005: Was heißt es, dass Ungarn der EU beitritt? Welche Geschichte endet damit? Wann erfolgte die Trennung des Kontinents, die mit der EU-Osterweiterung beendet werden sollte? Wie wir wissen, war dieser Beitritt begleitet von einer Nichtbereitschaft, für das Eigene einzustehen, mit einer Beschwörung des Ahistorischen in der Maske des Historischen.
Das Problem der ungarischen Literatur zwischen 1947 und 1989 und auch seither, falls man nämlich diese Periode aufarbeitet, ist ihr Umgang mit der Geschichte des 20. Jahrhunderts. Musste es so sein, wie es war? Viel zu viele waren im Trüben fischende Trittbettfahrer des Staatssozialismus, sie dünkten sich kritisch, waren aber mit ihm verwachsen. War das nun Determination? Wenn man die kleinen Dinge, die einzelnen Determinationsreihen betrachtet: unbedingt. Wenn man sich aber nicht den Geschichten, sondern der Geschichte stellt, dann: nein. Die Grundprinzipien des Systems waren jedem bekannt, dafür hat dieses ohne Mühen und Mittel zu scheuen gesorgt. Je stärker man im System als Schriftsteller im Kulturbetrieb integriert war, desto genauer wusste man, was vor sich geht. Die entscheidende Frage ist aber natürlich, wie man damit als Literat umgehen soll. Ausweichen kann man ihr nicht, ist sie doch die zentrale Frage. Beantworten kann man sie auch nicht, weil man dann auch vor 1989 die Antwort hätte geben können.
Péter Nádas kommt das große Verdienst zu, diese Problematik, die eine der zentralen unserer Region und unserer Gegenwart ist, angenommen und daraus einen großen Roman gemacht zu haben.