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Gisbert Haefs: Duftmarken

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Aristide Montgomery »Mungo« Carteret saß auf der Terrasse, trank Kaffee mit Calvados, blickte aufs Meer, über dem jenseits von Alderney die Sonne sank, und dachte nach über die Unmeßbarkeit des Unwägbaren. Genauer: ob er sich mehr langweilte oder mehr sorgte.

Für beides gab es Gründe. Sein letzter Fall oder Auftrag hatte ihm ausreichend Geld eingebracht, so daß er keine öden Aufträge annehmen mußte, und interessante gab es zur Zeit nicht. Mit flüchtigem Grinsen dachte er an den Ausdruck von Entsagung, gemischt mit Erleichterung, auf dem Gesicht des Lustknaben einer Millionärin, der nicht entführt worden war, sondern sich in einem unzugänglichen Winkel der Mongolei versteckt hatte, um sich von der Dame und ihren Ansprüchen zu erholen.

Soviel zur Langeweile. Die Sorge betraf seine Kusine Pamela du Plessis. Sie hatte ihn vor einiger Zeit – dreißig Tage her – aus der Hauptstadt des Commonwealth angerufen und ihm erzählt, sie werde Atenoa vorübergehend verlassen, um auf einer Randwelt, fast schon im galaktischen Niemandsland, ein gerade erst entdecktes Archiv zu sichten: »Da hat’s ein Erdbeben gegeben, samt Erdrutsch, Mungito, und seit ein paar Jahrhunderten wußte niemand mehr, was da vorher gewesen war. Stell dir vor: eine Art Kloster der Frühen! Mit verschüttetem Archiv! Da muß ich doch hin, oder?«

Sie hatte versprochen, sich bald zu melden, spätestens in zehn Tagen, und ihm von Funden und aufregenden neuen alten Texten, Aphorismen, Lebenszeugnissen zu berichten.

Seitdem – nichts. Pamela, Dozentin für die Frühe Noastoa1 am Peripatio der Akademie Atenoa, war eigentlich zuverlässig. Unter normalen Umständen wäre längeres Schweigen ebenfalls normal gewesen; wenn es nichts zu berichten, keine neuen Witze oder alten Aphorismen zu übermitteln gab, konnten auch Monate zwischen den Anrufen liegen. Aber die Umstände waren nicht normal, Pamela befand sich auf einer entlegenen Welt und hatte versprochen, sich zu melden.

Er leerte seinen Becher, schnaubte und faßte einen Entschluß. Leise durch die Zähne pfeifend ging er ins Wohnzimmer. »Moloch«, sagte er.

»Edler Meister?« Die Stimme kam aus dem kleinen Lautsprecher zwischen den Zähnen des Totenschädels, der den kompakt barg.

»Neues von Pamela?«

»Würde ich dir denn Mitteilungen von hochdero inzestuöser Kusine vorenthalten?« Das Gerät klang beinahe vorwurfsvoll.

»Na schön.« Carteret überlegte einen Moment, in welcher Reihenfolge die nötigen Dinge, Anrufe, Anfragen, Buchungen vorzunehmen wären; dann gab er dem Universalrechner ein paar Anweisungen.

Auf dem langen Flug, bei dem er mehrmals umsteigen mußte, las Carteret ein paar neue Romane auf richtigem Papier, unterhielt sich mit seinem kompakt und überflog immer wieder die von diesem gespeicherten Informationen über den Planeten, in der Hoffnung, etwas zu finden, was Pamelas Verstummen erklären könnte.

Tahonka, las er, hätte eigentlich gar nicht besiedelt werden dürfen, weil es dort eine vermutlich halbintelligente indigene Spezies gab. Einer der frühen Siedler, Auswanderer von einer frankophonen Welt, hatte gesagt, die Kreaturen erinnerten ihn an einen nahezu schrankförmigen Verwandten, weshalb er sie Tontons nannte, »Onkel«. Man hatte sie zunächst für einfache Tiere oder ambulante Pflanzen gehalten; bis Xenologen aus dem Commonwealth ihnen eine mit Fragezeichen versehene Kollektivintelligenz zusprachen, waren die ersten Siedlungen bereits seit Jahrzehnten etabliert, und da es keine Konflikte gab, verzichteten die Behörden auf eine Zwangsräumung des Planeten. Es ergingen lediglich Anweisungen, die Tontons auf keinen Fall zu behelligen, zu vertreiben, physisch zu bedrängen oder zu beeinflussen.

Carteret betrachtete die Bilder, die den Artikeln allerdings nicht zu pittoreskem Reiz verhalfen. Die Geschöpfe waren grob kastenförmig, im Durchschnitt etwa 100 cm groß, 50 cm breit, 50 cm tief. Sie hatten zwei kleine Arme mit je zwei Fingern und bewegten sich notfalls rasend schnell auf drei Beinen (zwei seitliche »Stand-« oder »Balance-Beine« und ein zentrales »Sprungbein«). An der Oberkante des Kastens gab es eine Wölbung mit einer Mundöffnung, Augen auf beweglichen Stielen und borstige Fühler, die man für »Antennen« zur Aufnahme akustischer Signale hielt. Später stellte sich heraus, daß die Tontons nicht durch Schall-, sondern durch Druckwellen kommunizierten, und daß Gerüche eine wichtige Rolle spielten. All dies blieb aber weitestgehend Mutmaßung, weil es bis zu diesem Tag nicht gelungen war, irgendeine Form der Kommunikation mit ihnen zu finden. Man wußte nichts über ihre Fortpflanzung und konnte nur feststellen oder behaupten, sie seien ein reines Kollektiv.

Einem Verweis zufolge hatte eine Galadriel Pfung Der Termitenstaat der Tontons von Tahonka veröffentlicht, ein Werk, das wohl größtenteils aus Vermutungen und Fragen bestand. »Veröffentlicht« schien auch nicht das richtige Wort zu sein; es mußte sich um einen Privatdruck alter Art handeln, der hin und wieder erwähnt wurde, aber nirgendwo vorhanden war. In der knappen Zusammenfassung war zu lesen, die Autorin habe nach Konflikten mit den »örtlichen Fundamentalisten« Tahonka unter Zurücklassung aller Unterlagen verlassen müssen und sich bei der Abfassung der Studie allein auf ihr Gedächtnis stützen können. Ihre Feststellung, mit einem frühen Emotiotaster2 habe sie bei einer Gruppe Tontons deren Reaktionen auf bestimmte Wellen und Gerüche ermittelt, seien folglich substanzlos.

Die menschlichen Bewohner des Planeten nannten sich Tonks, wurden aber von anderen Bewohnern dieser Randregion Honks genannt – »angeblich ein altes Schimpfwort unklarer Herkunft und Bedeutung«. Mungo überging die Darlegung ihrer »neocalvinistischen Epignosis« ebenso wie die Erörterung diverser Schismen; er nahm lediglich zur Kenntnis, da das Leben ernste Arbeit mit den eigenen Händen sei, habe man weitgehende Ächtung jeglicher Kunst (die als frivole Spielerei galt) durchgesetzt und lasse eher abstrakte Dinge wie Verwaltung, Außenhandel etc. von Maschinen erledigen. Es bleibe abzuwarten, wie sich die »unbehagliche Koexistenz« jüngerer weltoffener Gruppen mit der orthodoxen Mehrheit entwickle.

Neun Tage nach dem Aufbruch verließ er das Shuttle, das ihn von der Orbitalstation zur Oberfläche von Tahonka gebracht hatte. Beim Anflug betrachtete er auf den Panoramaschirmen die hundert Grüntöne des Planeten – Felder, Wälder, Savannen, grüne Wasserflächen –, hier und da aufgelockert durch lila, rosa oder orangefarbene Flächen. Die drei anderen Passagiere, Tonks in dunkler Kleidung, hatten sich als nicht besonders gesprächig oder gar auskunftsfreudig erwiesen; er wußte lediglich, daß sie geschäftlich unterwegs gewesen waren und in der Hauptstadt mit dem einfallsreichen Namen Centro wohnten. Es gab nur diesen einen Raumhafen, eher eine staubige Landefläche mit einer Baracke, die als Tower diente, und ein paar Hangars oder Lagerhäuser. Eine Robotrikscha beförderte die Passagiere und ihr Gepäck zur Abfertigung, die ebenso menschenleer und automatisiert war wie die Orbitalstation. Ein Gerät las die Ausweischips, dann leuchtete ein grünes Licht auf. Carteret nahm den Ausweis wieder an sich, streifte den Getränkeautomaten, der in einer selten gereinigten Ecke der Halle stand, mit einem Blick und ging ins Freie, wo die anderen in eine von zwei Pferden gezogene Kutsche stiegen. Auch der Kutscher trug Schwarz und blickte ernst.

Ein kleiner korpulenter Mann mit Halbglatze, Sandalen und vergilbter Latzhose lehnte an einem antiken Vehikel. »Dom Carteret?«

Mungo betrachtete das Gesicht, das auf dem Visifonschirm weniger feist gewirkt hatte. »Dom Dulac, nehme ich an«, sagte er.

Der Dicke nickte; seine fleischigen Wangen verdoppelten die Bewegungen. »Kommen Sie.« Er klopfte auf das Dach des Vehikels.

»Was ist das? Bewegt es sich, wenn man sich etwas wünscht?«

»Na ja, ein paar Hebel und Knöpfe muß man schon berühren. Alt und zuverlässig.« Der Mann schnalzte. »Wasserstoff. Hier fahren auch noch ein paar Wagen mit Verbrennungsmotor. Das wär’s.«

Carteret verstaute sein Gepäck und kletterte auf den Beifahrersitz. Dulac zog an einem Hebel, schob einen anderen in die passende Vertiefung und löste eine Bremse.

»Sie vertreten also hier das Commonwealth?«

Dulac hob die Schultern. »Wenn Sie so wollen. Wir haben oben die Robotstation, hier die Robotabfertigung, einen robotgesteuerten Meiler, einen meistens defekten antiken Rechner als Stadtverwaltung, keine offizielle Filiale von SIC3 oder sonst was. Und an die zweihundertfünfzigtausend Menschen, fast alle Bauern und Jäger, die sich den Planeten mit den Tontons teilen. Was haben Sie denn erwartet?«

Der Wagen hatte Hartgummireifen, aber offenbar eine gute Federung; sie schluckte fast alle Löcher und Unebenheiten des Wegs – »Straße« wäre übertrieben. Carteret sah weiter entfernt ein paar einzelne Häuser und nahm an, daß es sich um Bauernhöfe handelte, da sie von den lila- und orangefarbenen Getreidefeldern der hiesigen Parahirse- und Schlemmweizenarten umgeben waren. Weiter weg ahnte er seltsam geformte Gewächse, vermutlich Bäume, und während sich der Wagen dem Stadtrand näherte, fragte er sich, was wohl Anlaß der Besiedlung vor Jahrhunderten gewesen sein mochte – und vor allem, was die Leute immer noch hier hielt.

»Sie fragen sich wahrscheinlich dies und das«, sagte Dulac.

»Vor allem das.«

»Haben Sie was über die hier gelesen?«

»Ja, aber es gibt nicht viel Material. Irgendein Fundamentalistenkult, angeblich eine Theophagensekte, was immer das sein soll; die Leute wollten einfach für sich leben und Subsistenzlandwirtschaft betreiben. Kaum Bodenschätze, soweit bekannt, ein paar nahrhafte Pflanzensorten, für die es inzwischen sogar Abnehmer in anderen Systemen gibt. Und aufmüpfige Jüngere. Sonst noch was?« Da Dulac nicht sofort antwortete, setzte Mungo hinzu: »Und wieso sagen Sie ›die hier‹? Sind Sie von woanders?«

»Mhm. Kleine Welt im Pleiaden-Sektor. Strafversetzt.«

»Ah. Was haben Sie da angestellt?«

Dulac spitzte den Mund. »Das wollen Sie nicht wissen. Falls Sie auf meine Mitarbeit zählen …«

Carteret schwieg, auch weil ein plötzlicher heftiger Regenschauer so laut auf das Wagendach prasselte, daß ein Gespräch nicht möglich gewesen wäre. Als der Regen nachließ, sagte Dulac, dies sei die übliche »Benetzung«, die zwei- bis dreimal pro Tag diese Region von Tahonka beglücke.

Ein paar Minuten später erreichten sie das Zentrum der Hauptstadt des Planeten: ein runder Platz mit einem Kranz aus flachen Gebäuden. Eines schien eine Art Hotel oder Gasthaus zu sein, die übrigen waren Werkstätten, Läden und Wohnhäuser. Dulac parkte den Wagen vor dem Hotel.

»Kommen Sie. Erst mal Unterkunft, dann, uh, Büro und Besprechung.«

Mungo folgte ihm ins Hotel. Dulac grunzte leise, begab sich hinter einen Tisch, der offenbar Rezeption spielte, nahm aus einer Schublade einen schweren Eisenschlüssel und legte ihn auf die Tischplatte.

»Bitte sehr. Zimmer eins mit Blick auf den Platz.« Er deutete auf eine Tür nicht weit rechts vom Tisch.

Carteret nahm sein karges Gepäck und den Schlüssel. Die Zimmertür war nicht abgeschlossen. Es gab ein breites Bett, ein paar Lampen, Tisch und Stühle, eine kleine Hygienekabine und vor dem Fenster einen weiteren Platz mit ausladenden Bäumen.

»Sie können abschließen«, sagte Dulac. Er hockte mit halbem Gesäß auf der Tischkante, als Mungo wieder zum »Empfang« kam. »Müssen Sie aber nicht.«

»Aha. Gibt’s in Ihrem Büro Kaffee?«

»Aber nicht viel mehr. Kommen Sie.« Dulac rutschte von der Tischkante, durchquerte die Halle und öffnete eine Tür, hinter der Carteret eine Gaststube vermutet hatte. In dem großen Raum gab es ein paar Funktionsmöbel – Stühle, Sessel, Schreibtisch, Regale und eine Art Sofa – und Geräte, darunter eine größere Hyperfunkkonsole und diverse Rechnerterminals.

Dulac deutete auf einen der Sessel und ging zur Kaffeemaschine. In diesem Moment wurden draußen, auf dem Platz, Stimmen laut; sie klangen mürrisch, aber eher resigniert als erbost, wenngleich Carteret kaum einzelne Wörter unterscheiden konnte.

Er ging zum halbgeöffneten Fenster und blickte hinaus. Ein paar Leute standen dort, redeten und blickten auf einen Punkt irgendwo über der Platzmitte; andere Bewohner der Metropole verließen eben ihre Häuser und kamen zu den Versammelten.

»Da sehen Sie die derzeitige Hauptattraktion«, sagte Dulac; auch er klang eher resigniert als erregt oder gar begeistert.

Mungo kniff die Augen zusammen und versuchte, die über dem Platz schwebenden Objekte zu identifizieren. Es handelte sich um Dinge, für die er zunächst keine Begriffe fand, wenn sie ihn auch an Bekanntes erinnerten.

Dann wurde ihm klar, daß es sich nicht um Gegenstände, sondern um wabernde Bilder handelte. Ein kleiner schwebender Kobold oder Gnom war dabei, der entfernt Ähnlichkeit mit einem Buddha hatte. Um ihn her huschten verzerrte Formen – eine Schattengazelle? Schlangenlinien, die sich zu einer unruhigen Spitzhacke vermählten? Ovale Koffer oder Kommoden?

Einige Schritte entfernt von den meist dunkelgekleideten mürrischen Betrachtern bildete sich eine kleine Gruppe jüngerer Leute in heller Kleidung. Sie blickten fröhlich drein; mehrere von ihnen applaudierten.

»Was bei allen Göttern der Galaxis …?«

»Yöröq«, sagte Dulac.

»Häh?«

»So heißt er. Yöröq. Hat sicher auch einen Vornamen, aber den kenne ich nicht.«

Die Schwebebilder fransten aus, zerfaserten, lösten sich auf und verschwanden. Die Leute draußen standen noch einen Moment herum, ehe sie sich wieder in ihre Häuser begaben.

Dulac kam mit zwei Kaffeebechern, Milch und Zucker zu dem kleinen Tisch und den Sesseln. »Da. Wohl bekomm’s.«

Carteret setzte sich, nippte an seinem Becher, goß Milch hinein, nahm zwei Löffel Zucker und rührte lautstark um. »Mögen Sie mich aufklären?«

»Langsam.« Dulac kaute auf der Unterlippe. »Wo soll ich anfangen?«

»Erstens – was sind Sie hier? Zweitens – was war das da eben? Drittens – was wissen Sie von Pamela du Plessis?« Dann gluckste er. »Die Punkte vier bis neunzehn verhandeln wir später.«

Dulac spreizte den Daumen der Rechten ab. »Raumhafenleiter, Verwaltung, Müllabfuhr, Bürgermeister, Polizei, Postamt, Hotelier«, sagte er. Der Zeigefinger gesellte sich zum Daumen. »Yöröq ist Musiker, Komponist, außerdem hat er eine obskure Psi-Fähigkeit – wenn er furchtbar konzentriert arbeitet, an seiner Phantomorgel, projiziert er das, was er bei seiner Musik empfindet, als Hologramme. Könnte man sagen.«

»Was muß man empfinden, um huschende Gazellen und Buddhafiguren zu projizieren? Ich meine, im Zusammenhang mit Musik?«

Dulac zuckte mit den Schultern. »Keine Ahnung. Ist aber für seine Verhältnisse ziemlich hektisch; sonst kriegen wir eher Schlummerbäume4, Savannengräser oder melancholische Seelandschaften zu sehen. Drittens« – der Mittelfinger – »dam du Plessis ist bei ihm, oder in seinem Keller, in den Ruinen. Und sie kann da nicht weg.«

»Ich fürchte, Sie müssen mit mir reichlich Geduld haben, wenn Sie … Also, können Sie ein bißchen weiter ausholen?«

Yöröq, sagte Dulac, sei vor Jahren, lange vor ihm, hergekommen, um in »glorreicher Abgeschiedenheit« seine Kunst zu betreiben, ungestört von der profanen Umgebung seiner Heimatwelt. Und ohne diese seinerseits durch seine Musik und Projektionen zu stören. Anders als früher gebe es bei den Tonks inzwischen eine gewisse Toleranz für unaufdringliche Kunstformen. Die Bewohner von Centro hätten es aber nicht lange ertragen, daß zu allen möglichen und unmöglichen Zeiten die von ihm projizierten Bilder durch ihre Häuser geisterten. Man habe ihn gezwungen, sich außerhalb des Orts niederzulassen – die Projektionen verlören sich normalerweise nach sechs oder sieben Kilometern, weiter reiche die Psi-Kraft nicht. Außer in Ausnahmefällen, und von denen gebe es in letzter Zeit einige; wahrscheinlich sei der Komponist extrem konzentriert oder erregt oder was auch immer. Er habe mit Hilfe einiger Leute (Junge, die ihm helfen, und Alte, die ihn loswerden wollten) etwa zehn Kilometer vom Ort auf einer kleinen Anhöhe ein Haus gebaut. Es habe dort Reste älterer Gebäude gegeben, die er als Fundament nutzen konnte. Vor ein paar Monate hätten heftige Unwetter mit Regengüssen sowie ein kleines Erdbeben einen Teil der überbauten Ruinen freigelegt.

Yöröq kam oft mit Pferd und Wagen in die Stadt, um Nahrung und alles Nötige zu beschaffen; dabei hatte er von den freigespülten Ruinen erzählt. Zu diesem Zeitpunkt machte gerade ein Kartographenschiff der Flotte Station auf Tahonka – »Landurlaub« zur Unterbrechung ihrer Mission, Erst- oder Neuerfassung entlegener Systeme an der Grenze zum galaktischen Niemandsland. Die zahlreichen verschiedenen Wissenschaftler der Besatzung hörten von den Ruinen und sahen sie sich an, gruben ein wenig und stellten fest, daß dort vor Jahrhunderten eine Exil-Kommune früher Noastoa-Denker gehaust, gegrübelt, geschwelgt und geschrieben hatte. Man fand Aufzeichnungen und Hinweise auf weitere verschüttete Räume. Die Akademie von Atenoa bereitete eine Forschungs- und Grabungsexpedition vor, aber Pamela du Plessis, Spezialistin für die Frühe Noastoa, wollte sich schon vorher umschauen, kam nach Tahonka und quartierte sich bei Yöröq ein. Zwei Tage nach ihrer Ankunft zerstörte ein weiteres kleines Erdbeben die Wasserleitung zum Haus. Danach war Yöröq noch zweimal in Centro gewesen, um Nahrung und Wasser zu holen. Als der Komponist sich dann nicht mehr blicken ließ, wollte Dulac zu ihm fahren, kam aber nicht näher als etwa hundert Meter an die Behausung heran, die von einer dichtgepackten Horde Tontons umlagert war. Man habe mit einer Reparatur der Leitung begonnen, komme aber auch damit nicht näher an Haus und Hügel.

»Die sitzen also ohne Wasser da, belagert von Tontons?« Carteret schüttelte den Kopf. »Warum?«

»Weiß keiner«, sagte Dulac. Er starrte in seinen leeren Kaffeebecher. »Und solange sie nicht in Lebensgefahr sind, kann ich nichts tun.«

»Was sagen sie denn selbst? Man kann doch bestimmt mit ihnen sprechen, oder?«

»Nein.«

»Wieso nicht?«

»Hier gibt’s keinen Funk, keine Verstärker, nichts. Die Orthodoxen und die Technik, wissen Sie. Ein paar von den Jungen haben angefangen, wie in grauer Vorzeit Leitungen zu legen und das Telefon neu zu erfinden, aber …«

»Das erklärt, wieso Pamela sich nicht mehr bei mir gemeldet hat.«

»Dazu hätte sie zu mir kommen müssen.« Dulac deutete auf die Geräte an der Längswand des Raums. »Oder zum Raumhafen.«

»Sind Sie denn sicher, daß sie nicht längst verdurstet sind?«

»Die haben Eimer aufgestellt, für die Regenschauer. Und …« Dulac hob ein eigroßes Gerät, richtete es auf eine der zahlreichen Konsolen an den Wänden und drückte winzige Bedienelemente. Ein Bildschirm erhellte sich und zeigte Aufnahmen, die ein Flugobjekt gemacht hatte: ein dichter Wall aus graugrünen Kästen, Tontons, ein Hügel mit einem Holzhaus zwischen eingesunkenen Steinmauern, die fast freigelegte Ostseite des Hügels mit weiteren, besser erhaltenen Mauern und einer Treppe, die in die Tiefe führte. Aus der Tiefe tauchte Pamela du Plessis auf, winkte mit einem Papierbündel und lächelte in die Kamera; sie wirkte keineswegs niedergeschlagen, allerdings ein wenig verwahrlost und …

»So schmutzig kenne ich sie gar nicht«, sagte Carteret.

»Na ja, ich schicke mit dem kleinen Schweber Nahrung und Trinkwasser hin, aber für Waschwasser und andere schwere Lasten ist das Gerät zu klein. Für Personen sowieso.«

Die Kamera schwenkte und erfaßte einen Mann, den Komponisten, der eben aus der Tür seines schiefen Holzhauses trat und sich bereitmachte, die karge Fracht des Schwebers entgegenzunehmen. Er hielt ein Blatt in der Hand und wäre beinahe über einen der zahlreichen Bottiche gestolpert.

»Wünsche für die nächste Lieferung«, sagte Dulac. »Mehr Wasser und vielleicht doch ein bißchen Seife. Aber wie gesagt, für große Wassermengen ist der Schweber zu klein.«

»Wollen die nicht vielleicht doch … befreit werden?«

Dulac seufzte. »Wollen Sie. Aber wie soll das gehen? Die Gesetze sind eindeutig. Ich darf die Tontons nicht anfassen, wegschubsen, plattbügeln. Von Waffeneinsatz nicht zu reden. Und wie macht man Wesen, mit denen man nicht kommunizieren kann, klar, daß sie aus dem Weg gehen sollen?«

»Man müßte die doch irgendwie verscheuchen können. Auf Gebärden reagieren die doch wohl. Ich habe was von ›halbintelligent‹ gelesen.«

»Ungefähr so intelligent wie die Libaster von Harap. Oder, da Sie von der Erde kommen, etwas intelligenter als irdische Pinguine.«

»Die müßten aber doch mal weggehen, zum Essen, Trinken, Schlafen.«

»Die schlafen im Stehen«, sagte Dulac. »Zum Trinken reichen die netten Schauer, die Benetzung, und essen? Die leben von Pollen, oder sogar von nahrhaften Gerüchen, und schnappen Fluginsekten oder Echsenvögel aus der Luft.«

»Gibt es denn keine Gleiter, mit denen man die beiden abholen könnte?«

»Nichts. Wenn jetzt irgendwer hier landet, ein Frachter, der ein Beiboot hat, dann könnte man. Aber da liegt nichts an, erst in zwei Wochen. Und solange keine unmittelbare Lebensgefahr besteht, muß ich als Vertreter des Commonwealth die Gesetze hüten. Und mich an sie halten.«

»Was sagen die Leute hier? Könnte man nicht, was weiß ich, so was wie eine Miliz aufstellen, die nachts, wenn Sie gerade nicht hinschauen, die beiden da rausholt?«

»Die Leute hier?« Dulac schnaufte. »Die Orthodoxen wollen nur, daß Yöröq weit genug weg ist und sie nicht mit seinen Projektionen nervt. Die Jüngeren genießen die Projektionen. Für sie ist er so was wie ein Botschafter des Fortschritts. Und eine Miliz aufstellen? Ha. Eher kriegen Sie ein paar Sträucher dazu, einen Aufstand gegen nachwachsendes Gras zu machen.«

»Ich habe gelesen, daß die hier nichts von einem Staat oder derlei halten.« Carteret kniff ein Auge zu. »Wie ist das denn für Sie persönlich, da Sie doch das Commonwealth vertreten, wenn man das so sagen kann?«

»Ich vertrete es nicht – ich bin es, soweit es die Tonks betrifft. Die Honks … Persönlich? Na ja, als Person werde ich mit irgendwas zwischen Gleichmut und Gleichgültigkeit behandelt. Als Amtsträger bin ich gewissermaßen nichtexistent. Ein paar von den Jungen wollen, daß ich ihnen bei einer … nennen wir es Revolution helfe; aber das darf ich nicht. Von Amts wegen – keine Einmischung, klar?«

»Sie sorgen also nur dafür, daß die Robotabfertigung läuft, die Robotfabriken, all das, und wenn es irgendwo hakt, dürfen Sie die verklemmte Maschine ölen?«

Dulac lachte; es klang aber nicht heiter. »So ähnlich. Die haben irgendwann mal die Maschinen auf Pump gekauft und langlaufende Verträge mit Abnehmern geschlossen. Raten und Steuern – von denen die natürlich nichts wissen wollen – werden automatisch abgezogen, einbehalten; der Rest wird verteilt. Die Anlagen sind längst abbezahlt. Wollen Sie wissen, wie die Tonks den Kosmos sehen?«

Mungo hob beide Hände. »Verschonen Sie mich. Ich habe was von neocalvinistischer Theophagensekte gelesen; das reicht mir. An allgemeinen oder speziellen Formen von Aberglauben bin ich nicht interessiert. Jedenfalls nicht, solange ich mich nicht dagegen wehren muß.«

»Kluge Einstellung.« Dulac schloß einen Moment die Augen. Als er weiterredete, klang er beinahe versonnen. »Anfangs habe ich versucht, mich mit ihnen vertraut zu machen, wenn man das so nennen will.« Er öffnete die Augen wieder und bleckte die Zähne. »Ungefähr so sinnvoll wie der Versuch, mit den Tontons zu kommunizieren. Womit wir wieder bei Ihrem Problem wären. Wie wollen Sie Ihre Kusine da rausholen?«

»Gibt es denn überhaupt nichts an Fluggeräten außer dem kleinen Schweber?«

Dulac schüttelte den Kopf. »Nur das Orbitshuttle; das kann aber da nicht landen.«

»Und die von Ihnen gehüteten Gesetze verbieten es, die Tontons anzufassen oder wegzuschieben?«

»So ist es. Sogar bei unmittelbarer Lebensgefahr wäre es nicht einfach. Die liegt aber nicht vor.«

Mungo runzelte die Stirn. »Gibt es denn hier keinen, der sich mit den Tontons auskennt? Oder sich wenigstens für sie interessiert?«

»Hm. Also. Na ja, auskennen kann man das nicht nennen, aber es gibt einen alten Fabrikarbeiter …«

»Arbeiter? Ich denke, die Fabriken sind komplett automatisch.«

»Im Prinzip ja, aber ein paar Leute sind doch immer nötig, um hin und wieder einen Knopf zu drücken oder ein neues Rezept auszuhecken. Die Früchte, wissen Sie; die werden natürlich in Tunken oder Säften oder Saucen konserviert und exportiert. Der Mann, den ich erwähnt habe, hat sich damit beschäftigt. Und ein bißchen getüftelt.«

»So was wie ein Lebensmittelchemiker?«

»Hilfe! Das setzt eine Ausbildung voraus. Nein, der hat einfach so rumgespielt. Heißt Fritz Benguëla. Der hat sich auch mal für die Druckwellen und Duftmarken der Tontons interessiert.«

»Wo finde ich den?«

»Der kommt eigentlich jeden Abend her, um ein paar Bier zu trinken.«

In seinem Zimmer machte Carteret sich ein wenig frisch und zog ein neues Hemd an. Danach wandte er sich an den kompakt, den er auf den Tisch des Raums gestellt hatte.

»Du bist vermutlich ebenso nutzlos wie ich, Moloch; oder hast du etwas beizutragen?«

»Nichts, was helfen könnte.«

»Geben die ganzen Daten, die du gespeichert hast, noch was zu den Düften und Wellen der Tontons her?«

»Nichts, was über das hinausginge, was du mir eben erzählt hast.«

Carteret seufzte. »Und Pamelas Noastoa-Aphorismen sind unerreichbar.«

Wie in alten Zeiten Leute in ihren jeweiligen heiligen Schriften den Spruch zum Tag oder einen Zufallstrost gesucht hatten, war Carteret oft durch zufällige und weitestgehend abstruse Zitate von Pamelas Noastoa-Denkern zu Lösungen schwieriger Fälle gelangt.

Der Schädel räusperte sich. »Irgendwer hat mal gesagt, der Sklave kenne den Herrn besser als der Herr den Sklaven.«

»Was soll das jetzt?«

»Als wir noch auf der Erde waren, habe ich doch in deinem Auftrag mehrmals mit den Geräten der inzestuösen Kusine gesprochen. Um zu hören, ob sie sich gemeldet hätte.«

»Und?«

»Pamelas Haushirn hat natürlich Zugriff auf die Sprüchesammlung. Und da ich mir ausrechnen konnte, daß du irgendwann Rat und Hilfe brauchen würdest, habe ich ihren Rechner drei Sätze zum Thema ›Finden‹ suchen lassen.«

Mungo klatschte in die Hände. »Ich glaub’s nicht! Dann laß mal hören.«

»Ist das etwa eine Art Lob? Dein Unglaube?«

»Eitle Blechdose! Doch, ja, ich bin beeindruckt und dankbar. Stolz auf dich. Reicht das?«

»Es mag gelten.«

»Dann erbaue und stärke mich durch abgestandene Weisheiten, Moloch.«

»Brauchst du genaue Quellen? Namen von Denkern?«

»O bitte nein, nur die Sentenzen.«

»Wohlan denn. ›Auf dem Weg zum Wissen sind manchmal die ohne Füße schneller als die mit Stiefeln.‹«

»Aha. Und zweitens?«

»›Wenn du den Ursprung eines Duftes suchst, könntest du den After einer rosenfressenden Hyäne finden.‹«

»Aua.«

»Ich habe fast angenommen, daß du so etwas sagen würdest. Dritter und vorletzter Spruch: ›Der Kosmos ist so eingerichtet, daß immer ein reicher Glatzkopf den goldenen Kamm findet.‹«

»Schmerzhafte Wahrheit. Aber wieso vorletzter Spruch? Wenn du drei hast suchen lassen, wo kommt dann der vierte her?«

»Eine Art Zugabe, zu der sich Pamelas Rechner nicht äußern wollte. ›In einer Nußschale magst du dich als Herrscher der Unendlichkeit fühlen, solange du keinen Purzelbaum versuchst.‹«

»Na ja. Wissen suchen ohne Füße, rosenfressende Hyänen, ein goldener Kamm und Purzelbäume in einer Nußschale … Ob mich das weiterbringt? Ich wage zu zweifeln.«

»Das ist kein Wagnis.«

Gegen Sonnenuntergang füllte sich die Gaststube des Hotels. Dulac zapfte Bier, goß Wein und Säfte ein; eine Frau mittleren Alters, mit der ihn den ausgetauschten Blicken nach mehr als nur der gemeinsame Kneipendienst zu verbinden schien, servierte die von der Robotküche verfertigten Speisen. Die Gäste im linken Teil des Raums mieden Carterets Nähe; fast alle trugen dunkle Kleidung und strenge Mienen, die wie zu diesem Zweck hervorgesucht wirkten. Und sie tranken keinerlei Alkohol.

Einige jüngere Leute mit bunter Kleidung hielten sich rechts in der Gaststube auf, wie durch eine unsichtbare Wand von den anderen getrennt. Sie musterten Carteret mit offener Neugier, luden ihn dann ein, mit ihnen zu trinken, und überschütteten ihn mit Fragen nach den Zuständen auf anderen Welten. Da der von Dulac angekündigte Fritz Benguëla noch nicht aufgetaucht war, ließ Mungo sich von den jungen Leuten ausquetschen. Dabei erfuhr er, daß die »Alten« oder Ultras die »Jungen« wegen ihrer Aufmüpfigkeit »Müpfer« nannten, was diese als Ehrenbezeichnung übernommen hatten. Zwischendurch baten sie ihn in einen anderen Raum des weitläufigen Gebäudes, in dem sie eine Art Galerie eingerichtet hatten. Dort standen Bilder, Skulpturen und Musikinstrumente herum.

»Alles, was bei euch eigentlich verboten ist, wie?«

Eine junge Frau lachte leise. »Als ob wir Müpfer uns das noch verbieten ließen … Das ist vorbei. Aber es ist schwierig, an Dinge von außerhalb zu kommen. Dulac hat uns den Raum hier überlassen; er hilft uns, so gut er kann. Und Yöröq auch. Wie gefällt Ihnen das da?« Sie deutete auf ein Bild, das an der Kopfwand des Raums hing. Es zeigte eine Szene auf einem Wüstenplaneten: Kamelreiter mit Raumanzügen unter einem Himmel mit mehreren Monden oder anderen Planeten; im Vordergrund hockte ein seltsamer Gnom oder Kobold auf einer Sanddüne.

Mungo trat näher heran, um die Signatur R. Enari und den Titel zu lesen: Die Träume der Tontons. »Meinen Sie, die träumen von so was?«

»Sollten sie. Uns von ihrem grünen Planeten wegträumen, damit sie ungestört leben können.«

Jemand berührte Carterets Schulter. Es war Dulac. »Er ist jetzt da. Der Mann mit den Wellen und Gerüchen.«

Mungo bat die junge Frau, ihn bei den anderen zu entschuldigen, und folgte Dulac in die Gaststube. Der Mann mit grauer Kleidung, grauen Haaren, grauer Haut und grauen Augen, den Dulac ihm als Fritz Benguëla vorstellte, war zunächst ebenso verschlossen wie die meisten anderen Tonks, wurde dann aber beinahe überschwenglich, als Mungo sich nach den Druckwellen und Gerüchen der Tontons erkundigte.

»Ah, da gibt es Köstlichkeiten und unsäglichen Ekel.« Er schmatzte. »Ich rede von den Düften, natürlich. Die Wellen, tja, das ist etwas anderes. Kaum zu beschreiben. Wir können sie hin und wieder mit der Haut registrieren, aber was sie bedeuten, habe ich nie wirklich rauskriegen können.«

»Aber bei den Düften oder dem Gestank, je nachdem, sind Sie … soll ich ›bewandert‹ sagen?«

Benguëla gluckste und leerte sein Bierglas. »Wie genau wollen Sie es wissen?«

»So genau wie möglich.«

»Sofort?«

»Warum nicht? Bier auf meine Kosten trinken können wir später auch noch.«

Benguëla stand auf. »Na, dann kommen Sie. Ich hätte nicht gedacht, daß sich tatsächlich mal jemand dafür interessiert.«

Sein Haus lag an einer Straße, die vom Platz eher wegzustreunen denn wegzuführen schien. Er führte Carteret in einen luftdichten – »riechfesten« – Kellerraum, in dem auf Tischen und Kommoden allerlei Flaschen, Krüge, Phiolen, Glasröhren, Tiegel und Töpfe standen.

»Setzen Sie sich.« Er schob ihm einen Block und einen Stift hin. »Am besten notieren Sie, was Ihnen bei den einzelnen Gerüchen durch den Kopf geht. Damit Sie so was wie einen Überblick, uh, Überruch behalten.«

»Was mir durch den Kopf geht? Nicht was ich rieche?«

»Ah ah ah. Die Nase erschließt das Gedächtnis, wissen Sie, und Erinnerungen oder Bildassoziationen können wir uns besser merken. ›Großmutters alte Socken‹ zu notieren ist außerdem leichter, als wenn Sie versuchen wollten, die Duftmischungen mit nasalen Adjektiven zu versehen.«

Carteret dachte noch über nasale Adjektive nach, als Benguëla ihm ein Objekt reichte, das eine Kombination aus Trichter und Gasmaske zu sein schien.

»Setzen Sie sich das auf die Nase«, sagte er. »Die Wirkung ist dann für Sie intensiver, ohne den ganzen Keller zu verseuchen.«

»Und wenn ich’s nicht mehr aushalte?«

»Dann nehmen Sie die Duftmaske einfach ab.«

»Erzählen Sie mir doch erst noch, woher Ihre Kenntnisse stammen. Und was all das hier bedeutet.«

Benguëla schien zu zögern. »Knapp oder ausführlich?«

»Nur so, daß ich besser mit meinen Zweifeln umgehen kann.«

»Hm. Also. Dulac hat Ihnen wohl erzählt, was ich gemacht habe, oder?«

»Fabrik, Lebensmittel, Konserven, Tunken?«

»Ja. Lassen wir das beiseite. Ich bin keiner von den Ultras, wissen Sie; als damals dieser Komponist hier aufgetaucht ist und die anderen ihn aus der Stadt jagen wollten, habe ich ihm ein bißchen geholfen. Wasserleitung legen, Haus bauen, Sie verstehen? Zusammen mit ein paar von den Jungen. Beim Bau von Yöröqs Haus mußten einige Ruinen beseitigt werden, unter denen sich weitere, ältere Ruinenteile fanden. Nämlich die, die jetzt freigespült worden sind und in denen Ihre Kusine wühlt. Die haben wir aber nicht angetastet, nur die oberen. Ich habe auch beim Buddeln mitgemacht, aus reiner Langeweile.«

»Oft ein vorzüglicher Beginn für etwas Aufregendes, so eine gepflegte Langeweile.«

»Ha ja ja. Dabei ist so einiges aufgetaucht. Wir haben Maschinenreste gefunden, alles kaputt, unbrauchbare Datenträger – und eine Metallkiste voller Papiere. Kann man gut verbrennen, sagen die Ultras, aber nicht mit einem Knopfdruck löschen.«

»Und dabei …«

»Genau. Die Kiste war mit Initialen versehen, G. P. Irgendwo in den Papieren stand dann auch der Name Galadriel Pfung. Die hat wohl mit etwas, was sie Emotiotaster oder an einer anderen Stelle Stimmungsanalytiker nennt, eine Gruppe Tontons untersucht. Oder mehrere. Und dabei einen langen Katalog von Gerüchen und Reaktionen erstellt. Samt Hinweisen, mit welchen Substanzen die Düfte hergestellt werden können. Hat sie wohl alles zurücklassen müssen, als sie dann von den Ultras verjagt wurde.«

»Und dann haben Sie …«

»Nicht allein; Yöröq hat mir sehr geholfen. Er macht ja nicht nur melancholische Musik; er hat auch Ahnung von allen möglichen Wissensgebieten, von denen wir hier am Rand des Universums nur träumen können. Er hat einen Katalog mit achtzig Basisdüften erarbeitet; wenn man Nuancen und Abwandlungen dazunimmt, sind es mehrere hundert.«

»Na schön; das reicht mir zuerst mal. Fangen Sie an.«

Benguëla begann, mit Löffelchen und Pipetten zu hantieren. Aus den zahlreichen Behältern nahm er jeweils ein paar Tropfen oder Stäubchen, trug sie auf kleine Wattebälle auf und steckte diese mit Hilfe einer Pinzette in die dafür vorgesehene Öffnung der Duftmaske.

»Nummer drei«, sagte er. »Eins und zwei lasse ich mal weg, die sind zu scheußlich.«

»Uh«, sagte Carteret schwach. Der Geruch, falls man es so nennen konnte, erinnerte ihn an einen frischen Misthaufen, dessen Dampf sich mit saurem Wein mischte.

»Was bedeutet der Gestank?«

Benguëla schnalzte leise. »Wenn Sie das schon als Gestank werten, bin ich gespannt, was Sie zu den Düften elf bis siebzehn sagen. Das hier, Nummer drei, ist bei den Tontons so etwas wie die Aufforderung, sich zu einer kleinen Gruppe zu gesellen.«

»Hah.«

»Nummer fünf: Einladung zu einem Ritualtanz.«

Carteret würgte leise und notierte »verwesende Nachgeburt eines Schafs«. Nummer sechs (gemeinsame Nahrungsaufnahme): »Windel eines kranken Säuglings.« Nummer sieben ließ ihn an Wind denken, der über Apfelblüten streicht – »Gefahr«; Nummer acht, Wolke aus dem Auspuff eines antiken Benzinwagens, war »Willkommensgruß für eine entfernte Sippengruppe«. Erinnerungen: ein Orangenhain in Andalusien; Tigerkot zwischen verrotteten Blättern in einem Dschungel in Assam; der Geifer eines baktrischen Kamels, das sich gegen den Packsattel sträubt; der Schoß einer Frau nach hitzigem Sex; das Zerschneiden einer erlegten Robbe vor einem Iglu; die eigene Achselhöhle nach langem Holzhacken; eine frische Bienenwabe, über der ausgestreckten Zunge der Gespielin ausgewrungen; zwei auf dem Fußboden zerbrochene Flakons in einer Parfümerie in Grasse; der große Maischbottich in einer irischen Brauerei; die von Pumas und einem Kondor zerfetzten Eingeweide eines Guanakos; wie ein Würgegriff an der Kehle der Hauch einer Bittersaline; Teeblätter auf einem Komposthaufen im Herbst; Windstille und Hitze zwischen zwei Dünen in Nordafrika; drei schwarze Rosen neben halbvollen Weingläsern; Tang und Salz in der Abendbrise am Strand von Nuzuarán; der Mund einer Frau nach dem Genuß eines Apfels; Schnee auf Zedern; schwarzer Kaffee und Rauchkringel aus einer karibischen Zigarre; Morgenverkehr im Zentrum von Atenoa mit einer E-Rikscha, in der sich ein Passagier erbrochen hat; Cidre, vergossen auf einem frischgewaschenen Tischtuch unter einem Pflaumenbaum; Kienäpfel und Fichtenzweige in einem Feuer; die Riechspuren eines Mähnenwolfs im Gehege; mürbe Füße und Schuhe dreier Wanderer auf einer Terrasse; Schichten von tierischer Angst und Gestank in einem Schlachthof; Sesam und Lilien; das Grauen der Ausdünstung eines namenlosen Ungeheuers in einer Höhle; eine Gerberei auf einem der Deneb-Planeten; gebratene Lammschulter und Rum; Metall, Plastik und altes Gemüse im Hangar eines Frachtsatelliten; Morgentau, Geißblatt und Flieder nach einer Liebesnacht; der Atem eines sterbenden Greises; ein Hauch von Nerz auf nackter Haut; Gerüche, die Lust oder Schmerz oder Einsamkeit bedeuteten, ohne wirklich Bilder zu liefern; und irgendwann nahm Mungo die Maske ab und stöhnte.

»Ich kann nicht mehr. Sind das ausnahmslos Mitteilungen? Syntax und Grammatik der Gerüche bei den Tontons?«

»Es gibt noch mehr.« Benguëla legte Pipetten, Pinzetten und Watte beiseite und verschloß die letzten offenen Phiolen. »Aber immerhin haben Sie jetzt einen Eindruck bekommen. Schön, nicht wahr?«

»Ich weiß nicht, ob ›schön‹ das richtige Wort ist. Also, die können all diese Geruchsinformationen aufnehmen und verarbeiten?«

»Und darauf reagieren, ja.«

»Bis in welche Entfernung riechen die Tontons denn?«

Benguëla rümpfte die Nase. »Weiß keiner genau, aber je nach Windrichtung und Windstärke mindestens zwanzig bis fünfundzwanzig Kilometer. Warum?«

Carteret schloß die Augen und rieb sich die Schläfen. »Mir ist da eben ein Gedanke gekommen …« Er öffnete die Augen wieder. »Ziemlich unmöglich, aber man wird sehen. Wie ich gelesen habe, brauchen die Tontons nicht viel Nahrung, oder? Sporen, Pollen, Flatterechsen, was so herumfliegt, dazu die … eure Benetzung, und damit können sie wochenlang auskommen – stimmt das?«

»Nach allem, was wir wissen, ja.«

»Die könnten also noch monatelang da stehen und diesen Belagerungsring bilden? Hm.« Mungo griff zu dem Papier, auf dem er Duftnummern und Impressionen notiert hatte. »Also«, sagte er halblaut, »Nummer dreiundzwanzig bedeutet ›unbedingt hierbleiben und auf einen wunderbaren Vorgang warten‹, ja?«

»So ungefähr.« Benguëla wackelte mit dem Kopf. »Da gibt es unerforschte Nuancen, aber im Prinzip kommt das hin.«

»Und die Nummer hundertsieben …«

»›Große Gefahr, fliehen‹? Was ist damit?«

»O der After einer rosenfressenden Hyäne«, sagte Carteret. »Haben Sie von dem Zeug genug, um größere Mengen Watte zu tränken?«

Bei einer letzten Besprechung, an der auch einige der Müpfer teilnahmen, sagte einer von ihnen, vielleicht sollte man zusätzlich auch Schwingungen oder Druckwellen bedenken.

»Wie meinen Sie das?«, sagte Carteret.

»Könnte doch sein, daß die von Yöröq mit seiner Phantomorgel erzeugten Schallwellen von den Tontons als angenehmer Druck empfunden werden und sie zusätzlich dort festhalten.«

Mit einer letzten Wasserlieferung übermittelten sie dem Komponisten die schriftliche Bitte, vorübergehend keine Musik zu machen. Als das kleine Fluggerät wieder vor dem Hotel gelandet war, beluden sie es mit Benguëlas Erzeugnissen.

Dulac übernahm die Fernsteuerung des Schwebers, dessen Kamera alle Vorgänge erfaßte. Sie starrten auf den großen Bildschirm im Büro. Als der Schweber gekippt wurde und die Hälfte der Ladung abwarf, hatte Carteret das Bedürfnis, sich die Nase zuzuhalten, ebenso beim Abwurf der Restladung jenseits des Hügels. Die kleinen Behälter aus dünnem Glas fielen auf den Wall aus Tontons und barsten. Mungo hoffte, daß dabei keines der seltsamen Wesen verletzt würde. Ein paar Echsenvögel flatterten von den Tontons auf, ebenso ein Schwarm von Insekten. Es dauerte nur ein paar Minuten, bis im Wall Unruhe entstand und wellenförmig nach außen lief. Zehn Minuten nach dem Abwurf der ersten Ladung hatte sich an der der Stadt zugewandten Seite des Hügels eine Schneise gebildet, die sich schnell verbreiterte. Tontons zogen in Scharen ab, weg vom Hügel, hinaus in die Steppe, schienen zwischen Gesträuch und Baumgruppen zu versickern,

»Jetzt können wir sie abholen«, sagte Dulac.

»Manche Dinge sind dringend«, sagte Pamela, »andere mindestens ebenso.« Sie hatte gründlich geduscht und dabei wahrscheinlich den kompletten Wasservorrat des Hotels verbraucht. Dann war sie, halb abgetrocknet, zu ihm zwischen die Laken geschlüpft, um andere Dringlichkeiten zu erledigen. Mungo fühlte sich angenehm erschöpft und verschwitzt und genoß den Duft der beiden Körper.

Dann kicherte er. »Du wirst gleich wieder duschen müssen«, sagte er.

»Noch nicht.« Ihre Hand kroch über seinen Bauch.

»Hilfe; laß mich ein paar Momente verschnaufen.«

»Aber nur ein paar Momente. Stiefzwilling – wie bist du bloß darauf gekommen?«

»Ich habe bei einem bestimmten Duft, den Benguëla hergestellt hat, mit Wonne daran gedacht, wie du nach gründlichem Beilager riechst und schmeckst. Für die Tontons eine unwiderstehliche Verheißung von Nahrung im Überfluß und anderen wunderbaren Dingen. Du hattest da sehr viele napoleonische Verehrer, Marie-Louise.«

»Warum nennst du mich jetzt so? Und was hat das mit Napoleon zu tun?«

»Der war neben anderen Dingen auch ein spezieller Geschmäckler. Hat angeblich mal an die Kaiserin geschrieben, er werde bald eintreffen, sie solle sich nicht mehr waschen – ne vous lavez pas, j’arrive

»Ah.« Sie lachte leise und ließ die Hand abwärts wandern. »Das hat angefangen, als die Wasserleitung kaputt war und wir uns nicht mehr waschen konnten. Zwei Tage danach sind die Tontons aufgetaucht.«

»Stinken die eigentlich?«

»Die Tontons? Also, stinken wäre übertrieben, aber da war irgendwas ganz Dumpfes in der Luft.«

»Wahrscheinlich die Aufforderung an euch, weiter zu miefen. Wie hat denn der Komponist gerochen?«

»Yöröq? Der ist ziemlich geruchlos, hat sich bei der Wasserknappheit notfalls mit Wein gewaschen.«

»Wie originell. Und – hat sich deine Noastoa-Expedition gelohnt?«

»Muß ich erst noch auswerten, aber … nein, eigentlich nicht. Ziemlich dünnes Denkzeug, was die hier abgesondert haben. Dunk, gewissermaßen. Erinnert mich ein bißchen daran, daß frühe Kritiker die halblateinische Noastoa, nova stoa griechisch aufgefaßt haben – noa, dumm. Aber jetzt bist du hier, Mungito, insofern hat sich alles gelohnt. Also, danke für das scheußliche Streugut. Und jetzt laß uns …«

»Was?«

»Das.«

»Hussa.«

Für Jörg zum 21.12.2020

Die alte Rechtschreibung und die Zeichensetzung

begründen sich im ausdrücklichen Wunsch des Autors.

IN 80 JAHREN UM DIE WELT

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