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Berlin ist in Tergits Feuilletons und Reportagen bei aller kritischen Distanz ein lebbarer Wohnort, nicht gerade anheimelnd, aber auch nicht unbewohnbar, ein Ort der Verwerfungen und Kontraste von Krieg und Nachkrieg, alter und neuer Moderne, unter zunehmend polarisierender Politik und erschwerten sozialen Verhältnissen. Mit ihrem feinen Sensorium für Phrasen, Gerede und falschen Schein, erkennt Tergit, wie nicht nur der »Käsebier«-Roman bezeugt,20 den falschen Zungenschlag und die obsoleten Versprechen von Heimat als Kitsch und Marketing. Ein Zitat aus einer nicht näher genannten »Rechtszeitung« nimmt sie in »Die Sache mit der Berolina« (BT, 16.4.1929) zum Anlass einer Abrechnung mit dem historistischen Berliner Architektur- und Dekorationskitsch, wozu für sie die Statue der Berolina steht, die der Neugestaltung des Alexanderplatzes weichen musste. »Hierher gehört die Berolina in ihrer abgründigen Scheusslichkeit, mit ihrem Materialwert, mit ihrer nur auf Quantität berechneten Wirkung.« Aber, setzt sie dann hinzu, »wenn die Statue auf unserem Schulweg gestanden hat, weinen wir doch, wenn sie ganz einfach auf den Müll kommt, wenn sie sich dort nur noch mit dem Ball, der allzulange in der Regenrinne lag, und mit dem Kreisel, der seine Vergoldung verloren hat und mit einem zerrissenen Hemd unterhalten kann«. Wie bei Walter Benjamin und vielen anderen in Berlin aufgewachsenen Autoren wird die Erinnerung an die schwindende oder verschwundene Stadt der Kindheit zur imaginären Heimat.21 Dem steht die Kritik an der betriebsamen Vermarktung von Heimat nicht nur im Roman, sondern auch in den Feuilleton-Texten entgegen. »›Im Schoss beseligender Heimat‹« (BT, 4.9.1928) berichtet vom Besuch von Haus Vaterland, einem Amüsierlokal mit heimatlich-kosmopolitischen Pappmaché-Inszenierungen: Ein Wiener Heurigenlokal, alpenländisches Bayern, spanische Taverne, ungarische Bauernschänke, Rheinromantik, Orient von Tausendundeine Nacht, Venedig mit »Gondel und Makkaroni« und ein Berlin, das durch Revue, »Fleisch und Gymnastik, Trude Hesterberg und großkotzige Gäste« repräsentiert wird. Fluchtartig das Etablissement und seine Musikbeschallung verlassend, betritt sie »den stillen, behaglichen Potsdamer Platz«, eben jenen Ort, der den Zeitgenossen Inbegriff von Unrast und Lärm war. Explizit angesprochen wird schließlich die Frage nach der Heimat im Titel eines Feuilletons von 1930: »Heimat 75 resp. 78« (BT, 19.2.1930). Das beginnt: »Nicht der Brunnen ist meine Heimat, nicht die Linde, nicht der Gang vors Tor, nicht der Weg um den Wall, wie auch heute noch, wenn du in Zerbst lebst oder in Schweinfurt, Heimat ist meine 75. Früher hiess sie S. oder O.« Auch hier wieder speist sich diese aus Erinnerungen an die Vergangenheit. »Als wir junge Mädchen waren« … Folgt eine weitere Durchmusterung des Verkehrsnetzes nach möglicher Heimatlichkeit, wobei sie das Netzwerk der Straßen und Plätze der gesamten Stadt von West nach Ost imaginiert, um dann am Ende zu wiederholen: Nicht Linde, Tor und Brunnen ist hier Heimat, »Heimat ist unser Einser, unsere Fünfundzwanzig, unsere Siebenundvierzig, treppauf und treppab springen, von der Untergrundbahn bis zum Bahnhof Friedrichstrasse, 97 Stufen.« Dies nüchtern-sentimentale Heimatbild Berlins hat ein Nachbild. In »Effingers« findet sich das Vorhergehende abgewandelt im 142. Kapitel, als Lotte Effinger unter Morddrohungen der Nazis halsüberkopf die Stadt und Deutschland verlassen muss. »Sie kehrte nicht um, um ihren Mantel zu holen. In diesen Straßen mit den grauen Häusern war sie geboren worden, und darum hing sie an allem, was mit dieser Stadt zusammenhing. Am Keller mit Heringen und am kleinen Juwelierladen (…), an der kleinen Maßschneiderei und am Thanatos-Beerdigungsinstitut. Wie oft, wie oft war sie an all dem vorübergefahren! Und da kam schon das alte Tier, die elektrische Bahn Nr. 76, die Erinnerung ihrer Jugend (…). Nicht der Brunnen war ihre Heimat, nicht die Linde, nicht der Gang vors Tor (…), Heimat war das Tier, das sie die täglichen Berufswege führte, die 76, gute, edelwerte 76: Ich werde dies alles nie mehr wiedersehen, dachte sie.«22

1 Vgl. etwa Gabriele Tergit: »Der Prophet in der Hotelhalle«, in: »Vossische Zeitung«, 1.12.1922; »Münchener Tagebuchseite«, in: »Berliner Tageblatt«, 1.2.1927, Abendausgabe; »Begegnungen an der Adria. Auf einer Reise nach Griechenland«, in: »Berliner Tageblatt«, 3.9.1927; »Auf den griechischen Inseln. Aeghina oder die Ziegeninsel«, in: »Berliner Tageblatt«, 29.12.1927; »Miss Europa oder der Hermes des Praxiteles«, in: »Berliner Tageblatt«, 28.6.1939, Mittag. — 2 Brief an Benno Reifenberg, 22.4.1926. Zit. nach Joseph Roth: »Briefe 1911–1939«, hg. von Hermann Kesten, Köln, Berlin 1970, S. 87 f. — 3 Vgl. Kurt Pinthus: »Männliche Literatur«, in: »Das Tage-Buch« 10 (1929), Nr. 1, S. 903–911. — 4 Walter Benjamin: »Einbahnstraße«, in: Ders.: »Gesammelte Schriften«, B. IV.1, Frankfurt/M. 1972, S. 103. — 5 Erhard Schütz: »›Kurfürstendamm‹ oder Berlin als geistiger Kriegsschauplatz. Das Textmuster Berlin in der Weimarer Republik«, in: Klaus Siebenhaar (Hg.): »Poetisches Berlin«, Wiesbaden 1992, S. 163–191. — 6 Christian Jäger / Erhard Schütz (Hg.): »Glänzender Asphalt. Berlin im Feuilleton der Weimarer Republik«, Berlin 1994. — 7 Vgl. Prof. Dr. Kirchberger: »›Das Auge sieht den Himmel offen‹. Das Berliner Planetarium«, in: »Berliner Tageblatt«, 9.11.1926. — 8 Gabriele Tergit: »Viertelstunde Ewigkeit«, in: »Berliner Tageblatt«, 4.8.1931. — 9 Gabriele Tergit: »Heutige Leistungen. Und ein notwendiger Rückblick«, in: »Berliner Tageblatt«, 21.1.1932. Morgenausgabe. — 10 Rolf Lindner: »Berlin – absolute Stadt. Eine kleine Anthropologie der großen Stadt«. Berlin 2016, S. 24. — 11 In: »Atem einer anderen Welt. Berliner Reportagen«, hg. von Jens Brüning, Frankfurt/M. 1994, S. 21–24. — 12 Gabriele Tergit: »Bekenntnis zur Margarine«, in: »Das Tage-Buch«, 4 (1923), H. 39, S. 1370–1371. — 13 Gabriele Tergit: »Gestalten aus dem Femeprozeß« (1927), in: Dies.: »Blüten der Zwanziger Jahre. Gerichtsreportagen und Feuilletons 1923–1933«, hg. von Jens Brüning, Berlin 1984, S. 98. — 14 Gabriele Tergit: »Wer schießt aus Liebe?« (1931), ebd., S. 197. — 15 Gabriele Tergit: »Helden der Straße« (1927), ebd., S. 104, und Gabriele Tergit: »Montag und Donnerstag Überfall« (1927), ebd., S. 103. — 16 Gabriele Tergit: »Der Held im Spiegel« (1925), ebd., S. 93. — 17 Gabriele Tergit: »Freigesprochen« (1932), ebd., S. 115. — 18 Vgl. Alfred Döblin / Gabriele Tergit u. a.: »Die verschlossene Tür. Kriminalrat Koppens seltsamster Fall«, hg. von Erhard Schütz, Berlin 2015. — 19 Gabriele Tergit: »Freigesprochen«, in: Tergit: »Blüten«, a. a. O., S. 120 f. — 20 Vgl. dazu Elizabeth Boa: »Urban Modernity and the Politics of Heimat. Gabriele Tergit’s ›Käsebier erobert den Kurfürstendamm‹«, in: »German Life and Letters«, 72 (2019), H. 1, S. 14–27. — 21 Vgl. dazu Erhard Schütz: »Berlin. Jüdische Heimat um Neunzehnhundert?«, in: »Zeitschrift für Germanistik« NF 7 (1997), H. 1, S. 74–90. — 22 Gabriele Tergit: »Effingers«, mit einem Nachwort von Nicole Henneberg, Frankfurt/M. 2019, S. 847.

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