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Auch in ihren Gerichtsreportagen schreibt sie oft über Frauen, aus deren Perspektive über Männer und Männlichkeit, Krieg, Gewalt, häusliche wie politische. Umgekehrt über Sehnsucht nach Geborgenheit, Abhängigkeit und Hörigkeit. Was sie 1929 unter dem Titel »Gerechtigkeit« (BT, 13.6.1929) notiert hat: »Aller Mord und Totschlag, die die Frauen begehen, ist Todesstrafe, die sie vollziehen für die Tötung ihres Liebeslebens!« – das wird sie immer wieder an den einschlägigen Gerichtsprozessen beschäftigen, wiewohl freilich diese gegen Ende der Weimarer Republik zunehmend von den Prozessen zu politisierten Gewalttätigkeiten unter Männern überlagert wurden.

Begonnen hatte sie mit Gerichtsberichten schon früh im »Berliner Börsen Courier«, hier allerdings waren ihre Beiträge, obwohl zahlreich, oft noch kleine Notizen, besonders signifikant, als sie Ende 1924 stets am Rand neben den umfänglichen Berichten vom Haarmann-Prozess in Hannover platziert wird. Sie bewegt sich wie selbstverständlich in dieser Domäne von Männern. So wird Gabriele Tergit bald Renommierreporterin von Mosses »Berliner Tageblatt«und damit erfolgreiche Konkurrentin etwa von Sling (d. i. Paul Schlesinger) und dessen Nachfolger Inquit (d. i. Moritz Goldstein), die für Ullsteins »Vossische Zeitung« berichteten. Freilich: 1928 musste sie beim spektakulären Prozess gegen den Gymnasiasten Paul Kranz, der später als Schriftsteller unter dem Namen Ernst Erich Noth Karriere machte, um den Mord an zwei Mitschülern, beim sogenannten Steglitzer Schülermordprozess, ihrem Kollegen Rudolf Olden den Vortritt lassen. 1927 hatte sie über das Kriminalgericht Moabit mit seinen 21 Gerichtssälen geschrieben, es sei »seit einigen Jahren Quelle für die Erkenntnis der Zeit. Nicht mehr um die individuelle Tat des einzelnen, die Sensation einer saturierten Gesellschaft, um zeitlos menschliche Triebe, (…) handelt es sich, sondern das typische Geschehen selber, die Epoche, Res gestae steht vor Gericht. Willkür fast, so scheint es, daß wirkliche Menschen auf der Anklagebank sitzen. Musterbeispiele gleichsam.«13 So fokussiert sie »Erkenntnis der Zeit«, emphatisch pointierter Anspruch der neusachlichen Faktografie, auf die Gerichtsberichterstattung.

Zwar scheinen das zunächst Standardthemen, Betrug und Raub, Mord und Totschlag, Affekte zwischen Eifersucht und Neid, Sexuelles von Prostitution bis Hörigkeit, die berüchtigten Paragrafen 175 und 218, Frühreife oder Gewalttätigkeit der Jugend, Justizspezifisches wie Meineidprozesse und Todesstrafe, zunehmend und schließlich überwiegend die verschärften Auseinandersetzungen politischer Extremisten sowie das wachsende einseitige Verhältnis der Justiz dazu – woraus sich für die Gerichtsreporterin das Bild der Gesellschaft in ihrer Epoche konturierte.

Für Gabriele Tergit standen vor allem zwei Aspekte der ihr gegenwärtigen Gesellschaft im Zentrum: Der zunehmende politische Terror und das Verhältnis der Geschlechter. Hier entfaltet sie über die Jahre ein ganzes Panorama menschlicher Abgründe und flauer Verhältnisse. Die Geschichte einer 35-jährigen Lehrerin etwa, die ein Liebesverhältnis mit einem 14-jährigen Friseurlehrling beginnt, ein Fall, in dem – wie nicht selten – Magnus Hirschfeld gutachtet. Es geht um alle Schattierungen von Prostitution, Zuhälterei, Transvestismus bis Homosexualität, Ausbeutung und Abhängigkeit, Gewalt und Hörigkeit. Darin scheint durch ihren Blick immer wieder ein Amalgam auf aus aussichtsloser Arbeitslosigkeit, sozialer Verwahrlosung und Trostlosigkeit, Doppelmoral, sexueller Unterdrückung und Unaufgeklärtheit.

Hin und wieder zieht sie Quersummen aus ihren Beobachtungen. »Ist man sechs Jahre ein Bewohner von Moabit und hat vieler Menschen Schicksale gesehen, so macht man eine erschütternde Beobachtung. Männer schießen aus Liebe zwischen siebzehn und dreiundzwanzig, Frauen schießen zwischen fünfunddreißig und fünfzig. (…) Zu lieben, vor allem unglücklich zu lieben, gilt nämlich als Schwäche und Lächerlichkeit, und eine alternde Frau, die unglücklich liebt, ist ebenso komisch wie ein männlicher Grünschnabel. Nur an einem Ort ist der unglücklich Liebende merkwürdigerweise der Sympathische, in Moabit nämlich, wo es immer so aussieht, als ob die Tragödie nie durch die Gewalttätigkeit und die Ungerechtigkeit der Liebenden entstünden, sondern durch die Indolenz und Mitleidlosigkeit der Geliebten.«14 Wie sie in diesem Falle auf quasi Anthropologisches abzuheben scheint, so benennt sie in anderen die sozialen Umstände und gesellschaftlichen Normen als Ursache der verhandelten Fälle – und oft genug dann auch des als ungerecht wahrgenommenen Urteils. Nach Möglichkeit überlässt sie den Leserinnen und Lesern das Urteil, indem sie in enumerativen Kurzsätzen das Verhandelte vermeintlich nur wiedergibt.

Was nun die politischen Prozesse angeht, so bemühte sich Tergit immer wieder, um Verständnis für die Lage der Richter zu werben und ihrer Ansicht nach gute Richter entsprechend zu loben. Sie weicht jedoch in einem Punkt regelmäßig von den Wertungen der Gerichte ab: Wo diese kriminelle Energie am Werke sahen, machte sie meist die sozialen Umstände verantwortlich. Die in den letzten Jahren der Republik besonders signifikante Drift der Justiz nach rechts erzeugt auch bei ihr Resignation und zunehmend Verbitterung. Das scheint gerade bei Prozessen durch, die den tristen Alltag spiegeln – politisch motivierte Schlägereien und Schießereien unter jungen Arbeitern und Arbeitslosen. Sie sieht ungerichtete Aggressivität junger, unausgebildeter und perspektivloser Männer, doch auch jene fatale Aufrüstung der Aggressivität durch politische Gruppenbildungen und Indoktrination. Mal apostrophiert sie ironisch »Helden der Straße«, mal lautet die nüchterne Überschrift »Montag und Donnerstag Überfall«.15 Hatte sie 1925 noch die Eitelkeit junger Burschen als Ursache ausgemacht und rhetorisch gefragt: »Was würde aus allem Heldentum, wenn es keine Spiegel gäbe?«,16 so beobachtet sie zunehmend die Vergleichgültigung und Vereinseitigung der Justiz. Einer Justiz, wie sie im Oktober 1932 schreibt, die inzwischen bewusst von zweierlei Recht ausginge, »einem für die Nationalsozialisten als Staatsbejaher, einem anderen für Kommunisten als Staatsverneiner«, und die daher nicht mehr Tat und Täter beurteile, sondern »plump und grob wie in einem schlechten Kriminalroman« mit der Frage: »Wer schoß? Die Justiz wurde degradiert zur Detektei.«17 An dieser Passage – der einzigen in all den Gerichtsberichten übrigens, in dem vom Kriminalroman die Rede ist, während sie selbst ja an einem mitgeschrieben hatte18 – wird zugleich deutlich, worin ihre Berichte die Differenz zu Kriminalromanen sahen, im Anspruch nämlich, dass es im Vollzug des Rechts um Gerechtigkeit gehe, was elementar voraussetzte, je individuell nach Persönlichkeiten, Motiven und Umständen von Taten zu fragen. So, wie sie selbst nach den Auswirkungen auf die Beteiligten und die Öffentlichkeit fragt.

Dazu etwas ausführlicher ihr Fazit zu einem Prozess, in dem die Todesstrafe gefordert wurde gegen fünf Kommunisten, fälschlicherweise des Mordes an einem Nazi angeklagt, der tatsächlich versehentlich von den eigenen ›Kameraden‹ erschossen worden war: »So sprachen die Menschen, die Polizei schützt sie nicht, die Staatsanwaltschaft blieb nicht die objektivste Behörde, die sie zu sein hat. Tief fraßen schon faschistische Gedankengänge sich in die Köpfe. Die letzte Instanz, das Gericht, hat nicht versagt. Das ist kaum mehr als ein Zufall. Es traf zusammen eine groteske Anschuldigung, ein wahrheitssuchender Mensch als Richter, dem der heilige Gedanke des gleichen Rechts für alle nicht eine Phrase ist, und leidenschaftliche Anwälte des Rechts. So ging es gut aus.«19

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