Читать книгу TEXT + KRITIK 228 - Gabriele Tergit - Группа авторов - Страница 7

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Ansonsten schrieb sie selten so über soziale Verhältnisse, wie man es von anderen und vorzugsweise in Reportagen lesen konnte. Schon gar nicht über ein plebejisches Zille-Milieu, lieber über das alte Bürgertum und seine zunehmend prekären Verhältnisse, über das neue Parvenü-Milieu und die neuen Angestelltenschichten. In ihren Gerichtsreportagen spielten soziale Verhältnisse oft direkter eine Rolle, ansonsten grundierten sie im Gros ihrer Texte die Personen und Situationen mehr, denn dass sie explizit ausgestellt wurden. Dabei zeigte Tergit ein umso sensibleres Gespür für die sozialen Voraussetzungen und deren Folgen für die einzelnen Individuen. Für sie war die Stadt vor allem ein Ort der Begegnung und Auseinandersetzung mit Menschen sowie mit den neuen kulturellen Erscheinungen und Moden, die das Leben dieser Menschen zunehmend bestimmten. In Berlin früher und mehr denn andernorts.

Auffällig ist dabei zum einen ihr Gespür für Redeweisen, Jargons, Modewörter, sowie für das Erscheinungsbild von Personen, die sie mit knappen Bemerkungen skizziert, meist Habitus, speziell Kleidung und Gesicht. Sie erfüllt damit stellvertretend, was Rolf Lindner dem Großstädter als Aufgabe zuschreibt: »Der Großstädter muss zu einem Leser werden, für den das Gegenüber ein wandelnder Code ist, ein Leser, der nach verräterischen Anzeichen sucht.«10 Insofern ist sie eine Physiognomikerin der Stadt im genauen Sinne. Mit feinem Gehör für falschen Zungenschlag und scharfem Blick auf trügerischen Schein porträtiert sie ihre ›Zielpersonen‹ wie deren abgelauschte Äußerungen. Exemplarisch findet sich das in ihrer lockeren Porträtfolge der »Berliner Existenzen«. Das sind vor allem zwei Gruppen. Zum einen die aus der Vergangenheit Übriggebliebenen, »Die Vorkriegsexistenz« (BT, 14.12.1926) oder gar »Die Dame aus den 80er Jahren« (BT, 31.5.1927), die noch »Gainsborough-Hüte mit wallenden schwarzen Federn trägt« und nun von der Vermietung ihrer Wohnung lebt, aber immer noch die Schokolade im Bett nimmt. Zum anderen die neuen Typen, »Die Leerlaufexistenz oder die Luftperson« (BT, 9.11.1926), auf der Jagd nach »Beziehungen« und verstrickt in »ein völlig sinnloses Gemöchte«, oder »Der Konjunkteur« (BT, 15.2.1927), der propagiert, »man müsse mit der Zeit gehen, worunter er ein risikoloses Einkommen versteht, oder für praktische Ideale sein, was zweimal im Jahre verreisen heißt oder für eine klare Absage an verschwommene Theorien, womit er eine Achtzimmerwohnung bezeichnet«. Überhaupt operiert sie bei ihren Porträts gerne mit solchen typologischen Gegenüberstellungen. Etwa so: »Es gibt in Berlin (…) zwei Sorten von Menschen: die einen rechnen mit dem großen Coup, die nennt man Optimisten, die anderen haben ein Einkommen von 350 Mark an steigend und werden Pessimisten genannt.« (»Die Leerlaufexistenz«) Oder so: »Es gibt zwei Arten von Vorkriegsexistenzen, die einen besitzen nur noch ihren Bekanntenkreis und den Geschmack, mit dessen Hilfe sie sich durchschlagen können. Die anderen haben außerdem ihre Renten behalten.« (»Die Vorkriegsexistenz«)

Getragen werden ihre Personenporträts von Verhaltens- und Redeweisen. So besteht etwa »Die Nachbarin« (BT, 24.4.1928) ebenso wie »1913 oder die Jeunesse dorée« (BT, 19.7.1927) aus der Serie »Berliner Existenzen« ausschließlich aus Dialog. Ebenso signifikant sind anekdotisch daherkommende Dialoge oder auch Monologe, mit dem Anspruch, dem Alltag abgelauscht (oder für ihn ausgedacht?) zu sein. So etwa in »Staubsauger« (BT, 30.5.1928) das monologische Lamento eines Mannes über seine Schwester, die von Staubsaugervertretern übertölpelt wurde. Zwar bedient Tergit auch Routinevertextungen des Jahreszeitlichen, liefert etwa zum allfällig obligat wiederkehrenden Thema Frühling, »Und so verbringst du deine kurzen Tage. Eine Frühlings-Rhapsodie« (BT, 7.5.1931), oder zum »Aschermittwoch« (BT, 6.3.1930), aber vor allem interessiert sie der Alltag in der Stadt. Während die Zugezogenen vorwiegend das räumliche Vergleichsmuster hier – dort bemühen, steht der Autochthonen das zeitliche zu Gebote: heute – früher. So schon im Titel: »Erinnerungen an Cafés oder das Alte Europa« (BT, 15.10.1931) oder »Bälle, Kleider, Masken und eine peinliche Erinnerung« (BT, 24.2.1930). Natürlich bedient sie sich auch anderer zeitgenössisch probater Muster: Enumeration, Querschnitt und Synchronie. In einzelnen Textpassagen oder gleich im Titel, »Querschnitt«.11 Das korrespondiert mit Texten zu Zeitgeist-Insignien: Hektik, Betrieb, Tempo. Pars pro toto das Telefon, das – ähnlich wie bei Tucholsky – immer wieder auftaucht – Instrument der Hektik, Statussymbol der Parvenüs, permanenter Störfaktor, Medium des Unverbindlichen – auch hier gern in Monologen vorgeführt. Zugleich ist es Accessoire in den Interieurs, die sie beobachtet, Wohnungsblicke, Haustürgespräche.

Aspekte des Wohnens spielen eine große Rolle. Die Wohnung als Refugium, fragil – »der Haushalt der Schauspielerin wird versteigert, wenig Leute sind gekommen. Verlassen, leer liegen die Repräsentationsräume, verlassen und leer die vier Ankleideräume, das Schlafzimmer, das Bad, weiss Schleiflack und rosenrot, so wie’s das Kino erträumen lässt.« (»Die Hintergründe«, BT, 9.4.1929) Eine lockere Reihe beschäftigt sich 1928 mit der Wohnungssuche in Berlin, mit Wohnungstausch – »Das Mysterium des weissen Scheins« (BT, 19.6.1928) – oder verbotenen Abstandszahlungen. Der Untertitel zitiert einen der bekanntesten Texte Fritz Reuters: »Kein Hüsung« (BT, 5.6.1928). Daneben stehen ihre Stadtlebensbeobachtungen – Hotel, Varieté, Café zumal. Sie nimmt dabei immer wieder auch Kunst und Kultur, deren Lage und Bedingungen in den Fokus. So etwa »Wie wird Kunst gekauft?« (BT, 12.1.1932) oder »Komiker und Komparsen« (BT, 13.10.1931). Ihr sympathisierender Blick gilt dem Alten, Antiquierten, unmodisch Gewordenen, wie sie der ironisierten Hektik gern Entschleunigung, Innehalten und Beiseitetreten entgegensetzt. Schnittstellen sind Ausstellungen, über die sie schreibt. Kunstausstellungen oder eine über das 19. Jahrhundert, »Von 1830 bis 1890« (BT, 11.10.1930), oder eine »Ernährungsausstellung« (BT, 17.7.1928), in der sie ironisierend Rohkostmode einem nach Deftigem lechzendes Publikum gegenüberstellt.

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