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Maike Braun Die Weisheit des Hadschi Halef Omar
ОглавлениеIch riss mich wahrlich nicht darum, den Schott noch einmal zu durchqueren. Aber wenn wir unsere Verabredung einhalten wollten, blieb uns nichts anderes übrig. Der Weg von der kleinen Oasenstadt im Süden des Landes, von woher wir kamen, um den See herum bis nach Tozeur war wesentlich länger als die direkte Durchquerung. Unser Freund Omar begleitete uns auch dieses Mal, doch ich merkte gleich, dass er sich nicht wohl dabei fühlte. Vielleicht lag es an dem weiteren Reisenden, einem Korbhändler, der sich uns mit seinen mit sperrigen Palmwedeln und Körben aller Art bepackten Lastkamelen angeschlossen hatte. Jedenfalls schien unsere Reise unter keinem guten Stern zu stehen.
Kaum hatten wir die Oasenstadt hinter uns gelassen, als eines der Lastkamele des Händlers zu lahmen begann. Wir debattierten, ob wir zurückkehren sollten, doch der Korbhändler hatte es genauso eilig wie wir, und Omar war auf das Geld angewiesen.
Gerade passierten wir eine Felsengruppe, die den Beginn des Sees markierte. Irgendwer spielte auf einer Flöte ein einsames Lied. Es klang, als wehte es vom Jenseits herüber. Mein kleiner Berberhengst warf aufgeregt den Kopf in den Nacken. Selbst Halef, der sonst kaum in seinem Redefluss zu bremsen war, starrte finster vor sich hin.
„Was hast du?“, fragte ich ihn.
„Ich glaube, wir fordern das Schicksal heraus“, antwortete er und sprach aus, was mir schon die gesamte Zeit schwer auf der Seele lag. Er sei die Schluchten des Dschebel Aures hinunter- und wieder hinaufgeklettert, habe den Dschebel Chelia erklommen – was nicht stimmte, da uns der Führer zum höchsten Gipfel des Gebirges kurzfristig abgesprungen war – Allah sei Dank immer wohlbehalten, und noch immer habe er seiner Pflicht als Rechtgläubiger nicht Genüge getan, schlimmer noch, er befinde sich bald weiter denn je von Mekka entfernt.
„Ich verspreche dir, mein lieber Halef, du wirst deine Pilgerreise bald antreten können. Ich werde dich nach Kräften dabei unterstützen.“
„Das würdest du, ein Ungläubiger, für mich tun?“
„Wenn ich es dir doch sage.“
Sofort trat ein munteres Glitzern in die Augen meines Dieners und er schlenkerte mit den kurzen Beinen auf seinem klapprigen Gaul.
Dann ließen wir den letzten sicheren Grund hinter uns und vor uns breitete sich eine weiße Ödnis aus, die sich über den gesamten Horizont erstreckte. Tiefe Risse durchzogen die Salzkruste, als ob sich die Erde selbst schuppte, darüber spannte sich ein ausgebleichter Himmel. Niemand sprach.
Vorsichtig betrat Omar den Schott, gefolgt von dem Korbhändler, der nervös um sich blickte. Ich bildete den Abschluss.
Plötzlich veränderte sich der Untergrund rechts und links unseres schmalen Pfades. Eine in giftigem Rosa gefärbte Salzlake leckte an dem schmalen Streifen begehbaren Untergrunds. Omar erzählte, wie einmal ein Verzweifelter davon Wasser geschöpft hätte und wenige Stunden später an den Krämpfen in seinem Leib verendet sei.
„Allmächtiger Gott, bewahre uns vor solchem Schicksal“, hörte ich Halef vor mir.
Schweigend ritten wir voran. Mein kleiner Diener drehte sich immer wieder um, um sich anhand der schwindenden Felsbrocken am Eingang des Salzsees zu überzeugen, dass wir uns vorwärtsbewegten. Der Horizont gab uns keinerlei Anhaltspunkte. Wir hätten genauso gut auf der Stelle treten können.
Die Farbe der Salzkruste veränderte sich. Auf der Oberfläche hatte sich Wasser angesammelt. Omar hielt an, um den Untergrund zu prüfen.
Der Korbhändler drängte ihn weiterzugehen. „Ich sehe keinen Unterschied zwischen hier“, er deutete auf die Stelle, vor der Omar stehengeblieben war, „und dort“, er deutete auf den Pfad, den wir gekommen waren.
„Du kannst geradeaus weitergehen, wenn es dir beliebt“, sagte Omar. „Ich aber werde einen Bogen um diese Pfütze einschlagen.“
Mürrisch folgte ihm der Händler.
„Der Mann gefällt mir nicht, Sihdi. Ich glaube, ihm folgt ein böser Geist, ein Dschinn.“
„Wir können ihn aber nicht zurücklassen.“
Darauf wusste Halef keine Antwort. Aber es erging mir genauso wie ihm. Entweder der Mann war wirklich in großer Eile, oder er führte etwas im Schilde. Wie dem auch sei, jetzt war es zu spät, darüber nachzudenken. Auf dem Schott galt es zusammenzuhalten, sonst war man verloren.
Ich weiß nicht, wie lange wir so weitergingen. Ich hing meinen Gedanken nach, sah mich im Schatten von Palmen Datteln verzehren, mich in meinem Lieblingskaffeehaus in Tozeur an der köstlichen Flüssigkeit laben, malte mir aus, auf einer Dehabïe den mächtigen Nil entlangzusegeln ...
... und fiel fast vom Pferd. Die Hitze musste mir mehr zugesetzt haben als gedacht, und ich war kurz weggetreten. Mein kleiner Diener stand neben mir und richtete mich wieder auf. Ich lächelte ihm dankbar zu, als mir das grünlich schimmernde Wasser um die Fesseln seines Pferdes auffiel. „Halef!“, rief ich und klopfte seinem Gaul auf den knochigen Hintern, als er nicht sogleich reagierte und weiterritt. Seiner Mähre hatte die Hitze wohl auch zugesetzt, denn sie bäumte sich auf, und Halef, völlig von dieser unerwarteten Kraftanwandlung seines Pferdes überrascht, stürzte zu Boden. Ich sprang sogleich von meinem Berberhengst, um ihm zu Hilfe zu eilen.
Ich weiß nicht, was in diesem Moment in Halefs Kopf vorging, doch er trat einen Schritt zur Seite von mir weg, statt auf mich zu.
Sofort brach er ein. Grünes Salzwasser schnappte nach seinen Knöcheln, seinen Waden – ein Ruck, und nur noch sein Oberkörper ragte heraus. Ich warf mich flach auf die Salzkruste, der Riss vergrößerte sich, öffnete sich wie das Maul eines hungrigen Ungeheuers, Halefs Hand verschwand und dann sah ich nur noch die angstgeweiteten Augen meines Dieners.
Das alles geschah schneller als ein Wimpernschlag.
Allah ïa Sahtir, o du Bewahrer, so hilf mir!, rief Halef und ruderte mit den Armen. Für einen Moment schöpfte er Hoffnung, als sich sein Turban in der Salzkruste über ihm verhakte und sein Fall sich verlangsamte – allah kerim, Gott ist gnädig –, bis das Tuch riss und er mit halb entblößtem Haupt tiefer hinabsank. Der letzte Lichtfleck schrumpfte auf einen Punkt, dann war auch dieser erloschen.
Ich griff nach dem Seil, das mir Omar reichte, und warf es Halef hinterher. „Halt dich fest, Halef!“, rief ich, obwohl ich wusste, dass er mich nicht hören konnte. Es verschwand in dem grün schillernden Loch. Nur die Spitze von Halefs Turban war noch zu sehen. Doch dann – dem Herrn sei Dank! – blieb Halef stecken, hatte vermutlich festen Grund unter den Füßen gefunden, jedenfalls sank er nicht tiefer.
Ich robbte ein paar Zentimeter weiter, um ihn am Arm zu greifen, als das Loch weiter aufbrach und mich ebenfalls in den Abgrund zu ziehen drohte. Ein Stück von Halefs Turban löste sich, ich griff danach, versuchte die Stoffbahn und damit meinen treuen Diener einzuholen wie ein Fischernetz, doch das Tuch riss.
Von Halef keine Spur. Nicht einmal Luftblasen.
Er sank weiter, das Salz brannte auf seinen Lippen und in seinen Augen, sein Herz hämmerte gegen den Brustkorb, verlangte hinaus, drohte die Lunge zu sprengen, als er Boden unter den Füßen spürte. Allah akbar, Gott ist groß, presste er in Gedanken hervor und versuchte sich abzustoßen. Doch es gelang ihm nicht. Stattdessen fiel er auf die Knie und der letzte Rest Luft entwich ihm. Da wusste er, das Ende war gekommen, und er bereitete sich auf das Sterben vor. La illah illa e llahu, es gibt keinen Gott außer Gott.
Hinter dem kalten Schleier des Salzwassers sah er ein grünliches Licht aufleuchten.
O Allah, Allmächtiger, ist das der Eingang zur Hölle, sollte es tatsächlich so weit sein?
Er schmeckte das bittere Salz seiner Tränen, als sich eine Gestalt aus der phosphoreszierenden Finsternis schälte. Es war ein Mann nach Art der Türken gekleidet. Er trug eine Pumphose und einen Spitzbart. Der Schnurrbart war dünn und schmal wie auch sein Träger. Seine Augen funkelten wie Smaragde im Kerzenschein. Er beugte sich zu Halef hinunter und reichte ihm die Hand.
„Ich brauche ein paar Palmwedel, schnell“, sagte ich zu Omar, „wir müssen mein Gewicht auf eine größere Fläche verteilen.“ Im Hintergrund hörte ich den Händler erst Stoßgebete aussenden und dann Omar beschimpfen. Der ließ sich davon nicht von seinem Vorhaben abbringen und löste rasch ein Bündel Palmwedel von einem der Kamele.
„Gott erbarme dich, genauso habe ich es in meinem Traum gesehen“, rief der Händler. „Wir können nichts mehr für ihn tun, lasst uns weitergehen, damit uns nicht dasselbe Schicksal ereilt“, fuhr er fort und zerrte an meinem Arm.
„Mach dich nützlich“, herrschte ich ihn an, „und führe die Tiere ein Stück vor und wieder ein Stück zurück.“ Die Gefahr, dass er sich auf eigene Faust durchkämpfen würde, schätzte ich als gering ein. Mut war nicht seine Stärke. Aber es war wichtig, dass die Tiere nicht zu lange auf der Stelle verharrten, weil sonst die Gefahr bestand, dass ihr Gewicht die tragende Salzschicht durchbrach. Außerdem konnte ich das Gejammer des Mannes nicht länger ertragen.
„Versuch es damit“, sagte Omar, der in der Zwischenzeit ein paar der Palmwedel notdürftig miteinander verflochten hatte.
Ich ging ein Stück um die Einbruchstelle herum und robbte mich Zentimeter für Zentimeter auf der behelfsmäßigen Unterlage dichter an die Stelle heran, an der ich Halef vermutete. Zwar sank ich auch hier einen Daumen breit ein, doch die provisorische Matte trug mein Gewicht. Omar wies ich an, in der Zwischenzeit das Seil an einem der Wedel zu befestigen. Als ich mich so weit auf das Salz hinausgewagt hatte, wie mir möglich schien, stocherte ich mit diesem Wedel in dem grün schillernden Spalt.
Dankbar ergriff Halef die ausgestreckte Hand, und im selben Moment konnte er nicht länger an sich halten und riss den Mund auf. Doch maschallah, Wunder Gottes, statt brackigem Salzwasser strömte herrliche, klare Luft in seine Lunge hinein. Fast meinte er den Duft von Jasmin einzuatmen. Er blähte die Nasenflügel auf und sog das köstliche Nass in sich hinein.
Hamdulillah, Preis sei Allah, rief er und ließ die Hand des Fremden los, um auf die Knie zu sinken und Allah, dem Barmherzigen, dafür zu danken, seine Sünderseele gerettet zu haben. In dem Moment schnürte sich seine Kehle zusammen, ein Hustenanfall rüttelte seinen Leib und er versuchte mit der letzten ihm verbleibenden Kraft, das Wasser, das plötzlich wieder in ihn hineinströmte, hinauszupressen.
Oh, du Hund, Verfluchter, welch übles Spiel spielst du mit mir?, wollte er dem Fremden zurufen, doch er stieß nur Wolken braunen Wassers aus.
Der Fremde griff nach ihm, und im selben Moment vermochte Halef wieder zu atmen. Willig folgte er seinem Retter durch das grüne Dämmerlicht.
Ich spürte eine Hand auf meiner Schulter. Es war Omar. Er sah mich schweigend an. Er hatte seinen Vater an den Schott verloren, und wir hatten ihn überzeugen müssen, ihn dem Salz zu überlassen. Jetzt war es an ihm, mich im Leben zu halten.
Aber ich wollte nicht aufgeben, noch nicht.
„Ich will es nur noch einmal etwas weiter hier drüben versuchen“, sagte ich, erhob mich vorsichtig und ging ein paar Schritte weiter.
„Sihdi, es ist genug“, sagte Omar und fasste mich sanft am Arm. „Wir können nichts mehr für ihn tun.“
Halef konnte nicht sehen, wohin er trat, doch spürte er Steine unter seinen Sandalen, dann wieder weichen Untergrund, als ob unter dem Salzsee ein weiterer verborgen sei. Vielleicht befand er sich doch in der Dschehenna, der Hölle, und sein Führer brachte ihn lediglich zu dem ihm vorherbestimmten Platz. Die Angst legte sich um Halefs Brust wie Lederriemen, und mit jedem Schritt schnitten sie stärker ein. Er wurde langsamer und langsamer.
Der Fremde blieb stehen und musterte ihn.
So schnell gibst du auf?, schien sein Blick zu sagen.
Irgendetwas an seinem Retter erinnerte ihn an den Effendi, vielleicht der spöttische Blick. Halef gedachte all der Abenteuer, die sie zusammen ausgestanden hatten, und ihm wurde warm dabei ums Herz. Ich werde dich nicht enttäuschen, Sihdi, sagte er und spürte, wie sich das Lederkorsett um seine Brust lockerte und sein Atem wieder leichter ging. Mit der Luft strömte Hoffnung ein, und er nahm sich fest vor, den Weg tapfer und aufrecht bis zum Ende zu gehen, ganz gleich, was da noch kommen mochte.
Ich richtete mich auf, als plötzlich der Boden zu schwanken schien. Wie auf einer Eisscholle trieb ich ein Stück nach links. Auch die Tiere bemerkten die Veränderung und begannen unruhig zu werden. Etwas bewegte sich im Untergrund, als ob ein riesiger Lindwurm seine Kreise unter uns zog, bereit, jederzeit zuzuschnappen.
„Allah ïa Sahtir, o du Bewahrer, hilf uns!“, rief der Händler und warf sich auf die Knie. „Es geschieht genau wie in meinem Traum. Nur ein Baum kann uns jetzt noch retten.“
„Ein Baum, bist du verrückt geworden?“ Omar deutete auf das gleißende Weiß um uns. Er hatte Mühe, die Tiere beieinanderzuhalten. Wenn wir nicht bald festeren Untergrund finden würden, wären auch wir verloren.
Sie kamen an eine düstere Burg. In dem schummrigen Licht konnte Halef nur die Umrisse ausmachen. Zwischen zwei Toren stand ein Wächter mit gekreuzten Armen und einem Krummsäbel an der Seite. Er nickte Halefs Retter finster zu.
Der verneigte sich und schickte sich an zu gehen. Halef lief ihm hinterher. Noch einmal würde er nicht die Hand seines Retters loslassen und erneut eisiges und zugleich in der Kehle brennendes Wasser einatmen.
Doch der Wächter hielt ihn am Arm fest. Er deutete auf einen Teppich vor ihm.
Solange du dich darauf befindest, passiert dir nichts, hörte Halef eine tiefe Stimme in seinem Kopf. Und jetzt erkläre mir, warum ich dich nicht zu den anderen schicken soll.
Er stieß mit der Hand eines der Tore auf. Dahinter befand sich eine Höhle, in der eine dreiköpfige Bestie, eine Mischung aus Atlasbär und Schakal, an seinen Ketten rüttelte. Vor ihm lagen die zerrissenen Leiber anderer Opfer des Schott. Manche waren bereits bis auf die Knochen abgenagt, andere schienen erst vor Kurzem diesem Ungetüm zum Fraß vorgeworfen worden zu sein.
Halef wusste keine Antwort auf die Frage des Wächters.
Sollte das die Hölle sein? Aber wo befand sich dann Ssirath, die Brücke, die so schmal war wie die Klinge eines Schwertes, und das Kitab, das Buch der guten und der bösen Taten?
Der Wächter schien seine Gedanken zu hören, denn er sagte: Das hier ist der Seiteneingang, und drückte mit seiner Pranke das zweite Tor einen Spaltbreit auf.
Halef erblickte einen lieblichen Garten. Jasmin rankte sich an einem Holzgatter, in einem Brunnen plätscherte das Wasser, Palmen spendeten Schatten.
Ist das Dschennet, das Paradies?, fragte Halef.
So ist es, aber in deinem Fall ist wohl eher die Dschehennah, die Hölle hier links, angemessen, sagte der Wächter, und sein Lachen schepperte in Halefs Kopf.
Halef fiel auf die Knie. Allah akbar, Gott ist groß, ja, ich habe gesündigt, gewiss habe ich dem einen oder anderen Dummkopf mehr Piaster abgeschwatzt als angemessen, aber das ist doch keine Sünde.
Schweig!, donnerte es in seinem Schädel, und Halef presste die Hände gegen die Ohren.
Als die Stimme des Wächters verhallt war, fragte er kleinlaut: Was also wirfst du mir vor?
Du nennst dich Hadschi Halef Omar, sagte der Hüne. Ist es nicht so?
Halef nickte.
Wie der Vater und der Vater deines Vaters?
Wiederum nickte Halef. Er wusste, was jetzt kam, doch er wagte nicht zu sprechen.
Das ist auch gut so, sagte der Hüne in seinem Kopf, der offensichtlich Halefs Gedanken hören konnte.
Was geschieht mit Lügnern und Heuchlern?, fragte der Wächter und Halef schwieg.
Nicht einmal das weißt du?
Der siebente Höllenkreis ist für die Lügner vorgesehen, flüsterte Halef.
Wie bitte? Sag es laut, ich will es hören, tönte es in Halefs Kopf.
Lügner und Heuchler brennen im siebenten und tiefsten Höllenkreis, sagte Halef.
So ist es. Bist du also bereit, durch das linke Tor in den Vorhof der Hölle zu treten?
Die Frage des Wächters erklang nun so laut in Halefs Kopf, dass er Angst hatte, sein Kopf werde bersten.
Ich bitte dich, o Herr, mir noch so lange Atemluft zu schenken, bis ich dir meine Erklärung unterbreitet habe, sagte Halef. Dann werde ich mich willig durch das linke Tor begeben und mich dieser dreiköpfigen Bestie zum Fraß vorwerfen, und die abscheulichsten Kreaturen, die hier unten hausen, Würmer und Krebse und wer weiß noch welches Teufelsgetier, sollen sich an mir weiden, und ich werde es klaglos hinnehmen. Den schlimmsten Tod will ich willig ertragen und Allah dafür preisen, denn gerecht ist er, wenn du denn so entscheidest, nachdem du meine Rede empfangen hast.
Der Hüne verschränkte die Arme vor der Brust und musterte Halef misstrauisch.
Nun gut, sagte er schließlich, du hast einen Versuch, mich davon zu überzeugen, dich nicht in die Hölle zu schicken. So lautet das Gesetz.
Du Herrlicher, allah, allah maschallah – Gott tut Wunder, ihm sei Dank, ich danke dir für diese Gelegenheit.
Der Hüne winkte ab. Komm zur Sache, ich habe nicht alle Ewigkeit.
Es stimmt, o Herr, du sollst mein Richter sein, sagte Halef und warf sich auf die Knie. Ich habe die Hadsch nicht vollendet …
Du gibst es also zu, eine Lüge. Der Wächter stieß das linke Tor weit auf, ein fauler Geruch nach Gerbstoffen und Gülle drang heraus. Er bedeutete Halef hindurchzutreten. Halef winkte mit beiden Händen ab.
Keine Lüge, Effendi, keine Lüge, wenngleich mir bewusst ist, dass es an der Oberfläche wie eine aussehen könnte.
An der Oberfläche, sagst du? Da bin ich ja gespannt. Aber fasse dich kurz. Meine Ohren sind langes Zuhören nicht mehr gewohnt.
Suchend sah sich Halef nach etwas um, das ihm in dem dämmrigen Grün eine Hilfe sein könnte. Dann hatte er einen Einfall.
Es ist wie der Schott el Dscherid, o Effendi, fuhr er fort. Von Weitem betrachtet sieht er aus wie ein großer, flacher und ausgetrockneter See. Eine Kruste aus Salz glitzert in der Sonne, der Wanderer macht sich dafür bereit, Schrunden an den nackten Füßen zu bekommen, sich vielleicht die Zehen aufzuschürfen …
Du sollst dich kurz fassen, habe ich gesagt. Ich bin nicht von gestern. Er rieb sich die Ohrmuscheln, als schmerzten sie von Halefs Rede.
Halef nickte eifrig.
Unter diesem See, dem Schott, verbirgt sich eine ganze Welt, er beschrieb mit dem Arm einen Bogen, diese, deine Welt. Es ist ganz anders hier unten, als man sich das oben jemals vorstellen könnte. Genauso, mein Herr, verhält es sich mit meiner Pilgerfahrt.
Der Wächter rollte mit den Augen und steckte sich einen Finger in das Ohr. Nachdem er ihn ein paar Mal hin- und hergedreht hatte, forderte er Halef auf, weiterzusprechen.
Du bist doch hier schon eine Ewigkeit, Herr?
Vom Anbeginn der Zeiten bis zu deren Ende.
Es gibt also keine Zukunft und keine Vergangenheit wie für uns Sünder, habe ich Recht?
Da magst du richtig liegen.
Siehst du, so ist es mit meiner Pilgerreise. Es ist nicht so, dass ich sie nicht gemacht hätte.
Sofort verfinsterte sich das Gesicht des Wächters. Willst du mich zum Narren halten? Komm zur Sache!
Nein, o Herr, selbstverständlich nicht. Deine Weisheit ist unermesslich. Aber ich habe die Hadsch gemacht – in der Zukunft. Ich habe die Pilgerreise schon so oft in Gedanken durchgeführt, dass es mir zur Gewissheit wurde. Ich habe die Wahrheit gesagt, aber eine Wahrheit, die in der Zukunft spielt. Wenn du aber, o weiser, gnädiger, geduldiger Wächter dieser Tore, mich jetzt schon dieser Bestie zum Fraß vorwirfst, muss der Eintrag ins Kitab, das Buch der guten und bösen Taten, gestrichen werden. Wenn du mich jetzt meines Lebens beraubst, dann bist du es, der mich zum Lügner macht. Denn erst am Ende meiner Tage, am Ende eines vollen Lebens wird sich zeigen, ob ich gelogen habe. Du bist also derjenige, der das, was schon ins Kitab eingetragen war, mein Lobpreisen zu Ehren Allahs, zunichte macht. Das kannst du doch nicht wollen?
Doch der Wächter hörte gar nicht hin, sondern hielt sich die Ohren zu.
Wäre es nicht gerechter, mich zurückzuschicken, damit ich die Zukunft erfülle, die Gewissheit gewiss werden lasse, statt mich hier unten verrotten zu lassen?, fuhr Halef fort.
Oh, verflucht, unterbrach ihn da der Wächter, schlimm genug, dass ich dir in deinem Kopf zuhören muss. Aber du bist auch in dem meinen. Hör auf damit und mach, dass du davonkommst. Das Höllentor fiel mit einem lauten Krachen zu.
So lässt du mich also in das Paradies eintreten?
Nein, du Dummkopf, ich schicke dich wieder nach oben, damit du deine Zukunft erfüllen kannst.
In dem Moment schloss sich auch das Tor zum Paradies wieder.
Halef warf sich zu Boden. Hamdulillah, Preis sei Allah, rief er wieder und wieder.
Sei endlich still!, rief der Wächter und legte den Arm über den Kopf, um seine Ohren zu schützen.
Für eine Weile hing unser aller Schicksal in der Schwebe. Jeden Moment konnten wir einbrechen. Schritt für Schritt tasteten wir uns vor, bis wir wieder festen Untergrund unter den Füßen spürten. Dennoch fühlte ich keine Erleichterung. Im Gegenteil, ich hatte meinen treuen Diener im Stich gelassen und nun auch meine Reisegefährten mit in den Tod gerissen, denn wir hatten jegliche Orientierung verloren. Es war nur eine Frage der Zeit, bis wir in der glühenden Sonne eines qualvollen Todes starben.
Der Korbhändler drehte sich im Kreis und faselte von seinem Traum, nach dem nur ein Baum uns retten könne. „Mitten auf dem Schott“, rief ich, „denk doch mal nach: Wo soll denn hier ein Baum herkommen?“
Omar schirmte mit der Hand die Augen ab und suchte den Horizont nach Markierungen oder anderen Reisenden ab. Nichts. Nichts außer Salz und Sonne.
Nur noch eine Frage, sagte Halef, der Morgenluft witterte.
Du versprichst: eine und keine mehr?, fragte der Wächter gequält. Halef nickte.
Der Effendi und seine Gefährten haben womöglich den Weg aus den Augen verloren…
Die Frage!
Wie finden wir sicher über den Schott?
Weiter nichts?
Jetzt war es an Halef, den Kopf zu schütteln.
Nicht grundlos heißt der Schott ‚See der Markierungen‘, erklärte der Hüne. Du folgst den Baumstämmen. Vier einzelnen Baumstämmen folgt ein Paar von Baumstümpfen, dann wieder vier einzelne im Abstand von 60 Schritt.
Allah segne dich, o Herr, in deiner Güte und Weisheit … Mach, dass du verschwindest!
Der Hüne packte Halef am Burnus und schleuderte ihn nach oben.
Und in diesem Moment schoss Halefs Kopf durch das krustige Salz nach oben. Grelles Licht blendete seine Augen und für einen Augenblick glaubte er sich im Paradies oder doch zumindest auf dem Weg dorthin, als er eine rettende Hand spürte.
Da entdeckte der Korbhändler einen Baumstumpf und lief ohne darüber nachzudenken darauf zu.
Omar folgte ihm vorsichtig. „Sihdi, eine alte Wegmarkierung“, rief er, als er ihn erreichte.
Keine zwei Armlängen von mir entfernt begann das Salzwasser zu brodeln, und ein Kopf schoss in die Höhe. Halef! Mein lieber kleiner, treuer, mutiger, tapferer Halef! Sogleich lief ich auf ihn zu und streckte beide Hände nach ihm aus.
Ich glaube, in diesem Moment wäre es mir egal gewesen, wenn ich mit ihm versunken wäre. Ich zog ihn heraus, auf den festen Boden direkt neben dem Baumstamm.
Halef prustete und hustete, und als er wieder sprechen konnte, deutete er auf die Markierung und sagte: „Wahrhaft, Effendi, du bist der größte Weise unter der Sonne Allahs, des Allmächtigen. Woher hast du von dieser Markierung gewusst?“
Der Händler kniete fassungslos neben dem Baumstamm und betastete ihn, um sicherzugehen, dass es sich nicht um eine Fata Morgana handelte.
Wir sollten noch einige Abenteuer durchstehen, bevor wir uns auf den Weg nach Mekka machten. Die Reise über den Schott jedoch verlief ohne weitere erwähnenswerte Ereignisse.