Читать книгу Kellerkinder und Stacheltiere - Группа авторов - Страница 11
Gemeinsamkeiten und Unterschiede
ОглавлениеHeinrich Mann beginnt seinen Roman mit einer Charakterisierung Diederich Heßlings, von der Staudte den ersten Satz und eine Reihe weiterer Zitate wörtlich übernimmt:4 »Diederich Heßling war ein weiches Kind, das am liebsten träumte, sich vor allem fürchtete und viel an den Ohren litt. Ungern verließ er im Winter die warme Stube, im Sommer den engen Garten, der nach den Lumpen der Papierfabrik roch und über dessen Goldregen- und Fliederbäumen das hölzerne Fachwerk der alten Häuser stand. Wenn Diederich vom Märchenbuch, dem geliebten Märchenbuch, aufsah, erschrak er manchmal sehr. Neben ihm auf der Bank hatte ganz deutlich eine Kröte gesessen, halb so groß wie er selbst! Oder an der Mauer dort drüben stak bis zum Bauch in der Erde ein Gnom und schielte her! Fürchterlicher als Gnom und Kröte war der Vater, und obendrein sollte man ihn lieben. Diederich liebte ihn. Wenn er genascht oder gelogen hatte, drückte er sich so lange schmatzend und scheu wedelnd am Schreibpult umher, bis Herr Heßling etwas merkte und den Stock von der Wand nahm. Jede nicht herausgekommene Untat mischte in Diederichs Ergebenheit und Vertrauen einen Zweifel. Als der Vater einmal mit seinem invaliden Bein die Treppe herunterfiel, klatschte der Sohn wie toll in die Hände – worauf er weglief. Kam er nach einer Abstrafung mit gedunsenem Gesicht und unter Geheul an der Werkstätte vorbei, dann lachten die Arbeiter. Sofort aber streckte Diederich nach ihnen die Zunge aus und stampfte. Er war sich bewußt: ›Ich habe Prügel bekommen, aber von meinem Papa. Ihr wäret froh, wenn ihr auch Prügel von ihm bekommen könntet. Aber dafür seid ihr viel zu wenig.‹«5
Der Untertan (1951, Wolfgang Staudte): Werner Peters
Und über Diederichs Verhältnis zu seiner Mutter: »Ihre zärtlichen Stunden nutzte er aus; aber er fühlte keine Achtung vor seiner Mutter. Ihre Ähnlichkeit mit ihm selbst verbot es ihm. Denn er achtete sich selbst nicht, dafür ging er mit einem zu schlechten Gewissen durch sein Leben, das vor den Augen des Herrn nicht hätte bestehen können. […] Nach so vielen furchtbaren Gewalten, denen man unterworfen war, nach den Märchenkröten, dem Vater, dem lieben Gott, dem Burggespenst und der Polizei, nach dem Schornsteinfeger, der einen durch den ganzen Schlot schleifen konnte, bis man auch ein schwarzer Mann war, und dem Doktor, der einen im Hals pinseln durfte und schütteln, wenn man schrie – nach all diesen Gewalten geriet nun Diederich unter eine noch furchtbarere, den Menschen auf einmal ganz verschlingende: die Schule. Diederich betrat sie heulend, […] Denn Diederich war so beschaffen, daß die Zugehörigkeit zu einem unpersönlichen Ganzen, zu diesem unerbittlichen, menschenverachtenden, maschinellen Organismus, der das Gymnasium war, ihn beglückte, daß die Macht, die kalte Macht, an der er selbst, wenn auch nur leidend, teilhatte, sein Stolz war. Am Geburtstag des Ordinarius bekränzte man Katheder und Tafel. Diederich umwand sogar den Rohrstock.«6
Manche der Änderungen im Film gegenüber dem Roman scheinen ohne größere dramaturgische Bedeutung, so wohnt Diederich in Berlin bei Mann in der Tieckstraße, bei den Staudtes in der Schlegelstraße. Man darf einen kleinen Gag unter Theaterleuten oder Germanisten in Bezug auf die berühmten Schlegel-Tieck-Übersetzungen von Shakespeares Werken vermuten.
Einige Elemente des Romans wurden, wenngleich nicht mit der gleichen Ausführlichkeit, so doch mit derselben Aussage in den Film übernommen. So sind die Absprachen und Intrigen Diederichs mit dem Werkmeister Napoleon Fischer im Roman noch ausführlicher dargestellt. Dagegen wird die Beeinflussung der Presse im Film ebenso wenig gezeigt wie die Verheiratung seiner Schwester Magda aus geschäftlichen Gründen.
Einer der wichtigsten Kritikpunkte Manns richtet sich gegen den wilhelminischen Chauvinismus gegenüber Frauen. Eine bedeutende Nebenfigur ist Kätchen Zillich, die im Film nicht aufgenommen wird. Ihr Weg von einer Pastorentochter zur Edel-Prostituierten berührt die Biografie Diederich Heßlings über eine Reihe von Jahren mehrfach. Das Thema der Unterdrückung der Frau konzentriert sich im Film auf Agnes Göpel sowie die Mutter und die Schwestern Diederich Heßlings. Im Roman wird Diederich zitiert: »Weibern glaube ich überhaupt nichts, und mit Mama ist es nun mal nicht richtig.«7 Die Fragen des gemeinsamen Erbes Diederichs, seiner Mutter und seiner Schwestern Magda und Emmi, werden gar nicht besprochen. Es steht von vornherein fest, dass Diederich alles entscheidet und alleine regelt.8
In seiner Beziehung zu Agnes Göpel ist Diederich zunächst verliebt, verlässt sie aber nach sexuellem Kontakt zu ihr, mit dem Hinweis gegenüber Agnes’ Vater: »mein moralisches Empfinden verbietet mir, ein Mädchen zu heiraten, das mir ihre Reinheit nicht mit in die Ehe bringt.«9 Genauso ergeht es ihm selbst, als er den Liebhaber seiner Schwester Emmi zur Rede stellt; er erhält die Antwort: »Der Ehrenkodex meines Regimentes verbietet mir, ein Mädchen zu heiraten, das mir ihre Reinheit nicht mit in die Ehe …«10 Aber all dies, die Schmach und der Schmerz der Frauen, ist für Diederich, stellvertretend für die wilhelminische Männerwelt, weniger wichtig als die männliche Ehre, er stellt fest: »den preußischen Leutnant, den macht uns keiner nach«.11 Auch zum Thema Frauenfeindlichkeit verdichtet der Film die Aussagen des Romans.
Sowohl Mann als auch Staudte waren die Erzählstränge der Neuteutonen-Zugehörigkeit und des Militärdienstes ausgesprochen wichtig. Hier wird das, was Tucholsky als »Kollektivität« bezeichnet, ausführlich ausgearbeitet. Im Film heißt es, fast wörtlich von Mann übernommen: »Voll Dankbarkeit erhebt er gegen jeden, der ihn dazu anregte, sein Glas. Das Trinken, das Sprechen, das Singen, das Stehen und Sitzen, alles wird kommandiert. Und wenn man es befolgt, lebt man mit sich und der Welt in Frieden.«12 Verkürzt zwar, aber doch mit vielen wörtlichen Zitaten Manns, erzählt der Film diese Schulung Diederichs sehr ausführlich, unterstützt von decouvrierenden Kameraeinstellungen.
Auch die Darstellung von Diederichs Militärdienst und der Loslösung davon durch einen Medizinalrat, einem Alten Herrn der Neuteutonia, wird in den Film mit gleicher Technik übertragen. Wieder gibt es wörtliche Übernahmen der Formulierungen des Romans, so z.B.: »Welche Katastrophe! Er hatte in seiner Ahnungslosigkeit vorwitzig das Wort an eine Macht gerichtet, von der man stumm und auf den Knien des Geistes nur Befehle entgegenzunehmen hatte!«13 Die Technik der Adaptation dieser Sequenzen für den Film entspricht im Wesentlichen der ersten Sequenz, der Charakterisierung Diederichs während der Kindheit.
Für die Aussage des Films ist neben dem Drehbuch auch die Arbeit des Kameramanns Robert Baberske entscheidend. Schon in den ersten Einstellungen, bei der Darstellung von Diederichs Kindheit, arbeitet er mit extremen Aufnahmen von oben oder unten, um die jeweilige Position Diederichs zu zeigen. Verstärkt wird diese Technik während der Darstellung der Militärzeit. Ganz besonders deutlich wird dies in der Sequenz, in der Diederich Heßling dem Kaiser in Rom begegnet. Hier wird Diederich zum Untertan par excellence.14
Auch auf andere Weise werden die Bilder zum Mittel der Satire: Eine Theaterszene mit dem jungen Herrn Buck, dem schauspielernden Rechtsanwalt, endet mit einem heruntergeklappten Visier. Der Demokrat Buck schließt sein Visier, beziehungsweise seine Augen, vor der neuen, der kaiserergebenen Zeit. Unmittelbar vorher haben Diederich Heßling und Regierungspräsident von Wulckow eine Besprechung vor einer Ritterrüstung und spielen ihr ganz besonderes Theater. Die Ritterrüstung wird zur ikonografischen Brücke der Szenen.15
In der filmischen Adaptation taucht ein wichtiger Aspekt des Romans allerdings nicht auf, der im Buch immer wieder angesprochen wird: der Antisemitismus der wilhelminischen Gesellschaft. Im Film ist dieses Thema nur durch die Aussage des Fabrikbesitzers Lauer, die deutschen Fürstenhäuser seien »verjudet«, indirekt angesprochen, verbunden mit der Reaktion Heßlings, der dies als Majestätsbeleidigung wertet.
Der Untertan (1951, Wolfgang Staudte): Werner Peters, Paul Esser
Im Roman dagegen wird der Antisemitismus schon auf den ersten Seiten eingeführt: »Um von den großen Mächten, die er so sehr verehrte, nicht ganz erdrückt zu werden, mußte Diederich leise und listig zu Werk gehen. Einmal nur, in Untertertia, geschah es, daß Diederich jede Rücksicht vergaß, sich blindlings betätigte und zum siegestrunkenen Unterdrücker ward. Er hatte, wie es üblich und geboten war, den einzigen Juden seiner Klasse gehänselt, nun aber schritt er zu einer ungewöhnlichen Kundgebung. Aus Klötzen, die zum Zeichnen dienten, erbaute er auf dem Katheder ein Kreuz und drückte den Juden davor in die Knie. Er hielt ihn fest, trotz allem Widerstand; er war stark! Was Diederich stark machte, war der Beifall ringsum, die Menge, aus der heraus Arme ihm halfen, die überwältigende Mehrheit drinnen und draußen. Denn durch ihn handelte die Christenheit von Netzig. Wie wohl man sich fühlte bei geteilter Verantwortlichkeit und einem Schuldbewußtsein, das kollektiv war! Nach dem Verrauchen des Rausches stellte wohl leichtes Bangen sich ein, aber das erste Lehrergesicht, dem Diederich begegnete, gab ihm allen Mut zurück; es war voll verlegenen Wohlwollens. Andere bewiesen ihm offen ihre Zustimmung. Diederich lächelte mit demütigem Einverständnis zu ihnen auf. Er bekam es leichter seitdem. Die Klasse konnte die Ehrung dem nicht versagen, der die Gunst des neuen Ordinarius besaß.«16
Die Figur des Staatsanwalts-Assessors lernt Diederich im Roman bei seinem Antrittsbesuch bei Bürgermeister Doktor Scheffelweis unter dem Namen Jadassohn kennen: »Der andere Herr legte Diederich zunächst große Zurückhaltung auf, denn er sah stark jüdisch aus. Aber der Bürgermeister stellte vor: ›Herr Assessor Jadassohn, von der Staatsanwaltschaft‹ – was dann allerdings eine vollwertige Begrüßung notwendig machte. […] Der jüdische Herr von der Staatsanwaltschaft hatte vorläufig nur für das Stubenmädchen Augen. Während sie neben ihm am Tisch zu tun hatte, war seine Hand verschwunden.«17 Mann wiederholt die Formulierung »der jüdische Herr von der Staatsanwaltschaft« noch einmal, während er ihn als stramm national, also kaisertreu, charakterisiert. Ein laufender Gag im Buch sind die Ohren Jadassohns. »Jadassohns Ohren wurden dabei noch größer. Dann krähte er: ›Auch in Netzig gibt es kaisertreue Deutsche!‹«18 Im Film dagegen wird der Staatsanwalts-Assessor durch Pastor Zillich mit Diederich bekannt gemacht und trägt nicht den Namen Jadassohn, sondern heißt Mennicke.
Die Begebenheiten bei Diederichs Musterung boten Mann ebenfalls Gelegenheit, den Antisemitismus zu benennen: »Ein anderer, der noch dazu Levysohn hieß, bekam die Lehre: ›Wenn Sie mich wieder mal hier belästigen, dann waschen Sie sich wenigstens!‹«19 Oder bei einem Besuch des jungen Herrn Buck, einem ehemaligen Schulkameraden Diederichs, unter Bezug auf dessen jüdische Mutter: »So ein Judenbengel, der sich aufspielt! Einfach ekelhaft!«20
Ein anderes Beispiel plazierte Heinrich Mann in der von Tucholsky sehr geschätzten Sequenz der Lohengrin-Aufführung: »Leider war die deutsche Treue, selbst wo sie ein so glänzendes Bild darbot, bedroht von den jüdischen Machenschaften der dunkelhaarigen Rasse.« Und weiter: »Elsas ausgesprochen germanischer Typ, ihr wallendes blondes Haar, ihr gutrassiges Benehmen boten von vornherein gewisse Garantien.« Und im Gespräch mit Guste über die Schauspielerin bekommt Diederich entgegengehalten: »›Einen feinen Geschmack hast du, ich kann mich geschmeichelt fühlen. Die ausgemergelte Jüdin!‹ – ›Jüdin?‹ – ›Die Merée, selbstredend, sie heißt doch Meseritz, und vierzig Jahre ist sie alt.‹« Und die Kontroverse in Wagners Stück zwischen Ortrud und Elsa, wer zuerst das Münster betreten dürfe, qualifiziert Diederich als »Jüdische Frechheit«.21
Der Beantwortung der Frage, warum der Antisemitismus 1951 in Staudtes Film nicht thematisiert wird, kann man sich an dieser Stelle nur versuchsweise und spekulativ nähern. Vermutlich erschien den Autoren dieses Thema zu gewaltig und auch zu unüberschaubar, angesichts der Ungeheuerlichkeit der Verbrechen und der Ermordung von sechs Millionen Juden durch Deutsche in der Zeit des Nationalsozialismus.22
Bei Mann waren die Ausprägungen des Antisemitismus, die er anprangerte, lediglich dumm, überheblich und beleidigend, außerdem bei einem großen Teil der wilhelminischen Gesellschaft mit der Ablehnung demokratischer Entwicklungen verbunden. Es wäre denkbar, dass man sich 1951 fürchtete, das Thema Antisemitismus zu berühren. Die Filme zu diesem Thema, von NUIT ET BROUILLARD (1955/56, Alain Resnais, NACHT UND NEBEL) bis zu SHOAH (1978–85, Claude Lanzmann), waren noch nicht produziert. Das Schicksal von MORITURI (1947/48, Eugen York) war keinesfalls ermutigend. Der Film war wirtschaftlich ein Flop und wurde von großen Teilen des Publikums und der Kritik, vermutlich aufgrund von fortbestehendem Antisemitismus, deutlich abgelehnt. In den späten 1940er und in den 1950er Jahren kam Antisemitismus in Form von Anfeindungen gegenüber Displaced Persons und Schändungen jüdischer Friedhöfe in beiden Teilen Deutschlands regelmäßig vor. Darüber hinaus zeigen beispielsweise die tragischen Schicksale von Julius Meyer und Paul Merker, dass es Anfang der 1950er Jahre in der DDR gefährlich sein konnte, sich projüdisch zu positionieren.23 Zwar wurden ihre Schicksale erst nach der Produktion von DER UNTERTAN offenkundig, sie belegen aber den deutlichen Antisemitismus im stalinistischen Machtbereich.24
Der Untertan (1951, Wolfgang Staudte): Renate Fischer, Werner Peters
Auch andere Themen, die Mann in seinem Roman verarbeitete, führte Staudte, trotz historisch belegtem Bezug, nicht in die Geschichte des Films ein. Die Arbeitslosen-Unruhen des Februars 1892 waren Heinrich Mann eine lange Episode wert, vermutlich auch, weil der Kaiser, vier Jahre nach seiner Thronbesteigung, während solcher Unruhen spektakulär auf die Straße geritten kam. Diederich: »Das ist doch großartig!« Darauf ein junger Mensch mit Künstlerhut: »Theater, und nicht mal gut.«25
Ein weiteres Beispiel war die Bewilligung eines besonders großen Wehretats, dies war einige Jahre später ein Point d’Honneur des Kaisers. Am 29.6.1913 wurde dieser Etat schließlich in dritter Lesung vom Reichstag verabschiedet, die Erhöhung der Friedensstärke des Militärs um mehr als 20 Prozent war sehr umstritten gewesen. Manns Diederich hatte stark dafür gestritten – verbal.