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KRITIK, KOMIK UND POLITIK Gratwanderungen der Politik- und Gesellschaftssatire im Film
Оглавление»Was darf die Satire?« fragte Kurt Tucholsky 1919 im Berliner Tageblatt und kam zu dem Ergebnis »Alles!«. Eine pauschale und provokative Antwort, die bis heute gesellschaftlich immer wieder neu verhandelt wird. Zum Beispiel in der gegenwärtigen Debatte um den Begriff der »Cancel Culture«, in der es um Grenzüberschreitungen und deren öffentliche »Abkanzelung« geht. Eine endgültig befriedigende und allgemeingültige Antwort gibt es also auch über 100 Jahre nach Tucholskys Frage nicht und wird es vermutlich auch nie geben, vielmehr erscheint sie der Gattung immanent zu sein. Gebrauch der Satire und Toleranz ihr gegenüber – egal in welchem Medium – sind dabei abhängig von Machtstrukturen und gesellschaftspolitischen Gegebenheiten. Die Grenzen des Erlaubten verschwimmen dabei auch je nach persönlicher Betrachtungsweise und Ideologie.
Das zeigen auch die Beiträge in diesem Buch, die der Fragestellung im Rahmen der Filmgeschichte nachgehen. Ein »Spiel mit Autoritäten« betrieb Heinrich Spoerl. Mit Romanen wie »Die Feuerzangenbowle« (1933) und »Der Maulkorb« (1936) wurde der Autor als Humorist bekannt und befand sich zur Zeit des Nationalsozialismus auf dem Höhepunkt seines schriftstellerischen Schaffens. Gleichzeitig erlangte er mit seinen Drehbuchvorlagen in der Filmwirtschaft ein gewisses Ansehen und seine Werke wurden auch nach 1945 mehrfach auf Zelluloid gebannt. Michael Töteberg spürt anhand von Spoerls Korrespondenz der Entstehung der Verfilmung DER MAULKORB (1937/38) durch Erich Engel nach.
Ebenfalls eine Satire auf den Untertanengeist, allerdings in einem ganz anderen historischen und gesellschaftspolitischen Kontext, hatte Heinrich Mann bereits 1918 veröffentlicht. Der Roman über den Mief des Kleinbürgertums der Wilhelminischen Ära bot 1951 die Vorlage für den DEFA-Film DER UNTERTAN (Wolfgang Staudte). Karl Griep betrachtet die Transformation vom Buch zum Film und vergleicht dabei auch, wie sich die Satire im jeweiligen Medium darstellt.
Theo Lingen zeigt in HIN UND HER (1947) als Künstler Peter Vogel Einfallsreichtum im Kampf gegen die Bürokratie. Heike Klapdor beschreibt in ihrem Aufsatz, wie der wenig bekannte österreichische Nachkriegsfilm mit und von Theo Lingen die Lächerlichkeit der Autoritäten offenlegt, gleichzeitig aber auch das damals aktuelle Problem der »Displaced Persons« thematisiert.
Dem Verhältnis von Politik, Film und Satire in den 1950er Jahren geht Sandra Nuy in ihrem Beitrag »Wer Sorgen hat, hat auch Likör« nach. Im Mittelpunkt ihrer Betrachtungen steht der Film WIR WUNDERKINDER (1958, Kurt Hoffmann), in dem auch der Schauspieler und Kabarettist Wolfgang Neuss mitwirkte. 1960 schrieb Neuss das Drehbuch für WIR KELLERKINDER (Jochen Wiedermann), dessen Titel sich offensichtlich an Hoffmanns Film anlehnt. Dabei zeichnet Neuss ein ganz anderes Bild der Nachkriegszeit in Westdeutschland. Aufsehen erregte der Film auch, weil Neuss ihn vor der Kinoauswertung im Fernsehen ausstrahlen ließ, was den Boykott einiger Kinobetreiber nach sich zog. Mit GENOSSE MÜNCHHAUSEN (1961/62) nimmt Sigrun Lehnert in ihrem Beitrag ein weiteres Werk von Neuss in den Blick und untersucht dabei zugleich, mit welchen Metaphern und Sinnbildern der Kalte Krieg Einzug in satirische Filme und Wochenschauen wie DER AUGENZEUGE nahm.
Dass Satire gerade auch in der kurzen Form »stachelig« sein kann, bewiesen u.a. die STACHELTIER-Kurzfilme, die in der DDR gegen NATO und BRD polemisierten oder durch (sanfte) Kritik an lokalen Missständen der Bevölkerung ein Ventil boten. Frank-Burkhard Habel beschäftigt sich mit dieser Kurzfilm-Serie der DEFA und deren Bemühungen um das Lachen im Kino der 1950er Jahre.
Eine andere Auseinandersetzung mit dem Kalten Krieg entstand Anfang der 1950er Jahre in Großbritannien mit ANIMAL FARM (1951–54, John Halas, Joy Batchelor). Dass in diesem Animationsfilm viel mehr steckt als eine Fabel in Technicolor, ist hinlänglich bekannt. Was auf den ersten Blick als »harmloser« Kinderfilm erscheinen mag, war politisch hoch brisant und sollte als Parabel auf die russische Revolution (und deren Versagen) gesehen werden. Dass auch die CIA tief in die Produktion involviert war, hat Daniel J. Leab in seinem Buch »Orwell Subverted« (2007) aufgezeigt. Julian Petley zeichnet in seinem Aufsatz auf Grundlage von Leabs Recherchen die Vorgänge nach, die im Hintergrund der Entstehung des britischen Vorzeige-Animationsfilms gewaltet haben.
Im Filmgeschäft ist die sprachliche Transformation ein wichtiger Faktor für die internationale Vermarktung. Insbesondere in der Satire ist der Sprachwitz elementarer Bestandteil. Ein Beispiel dafür ist DR. STRANGELOVE OR: HOW I LEARNED TO STOP WORRYING AND LOVE THE BOMB (1964) von Stanley Kubrick. Die Roman-Vorlage »Two Hours to Doom« (1958, Peter George) nähert sich dem Thema noch prosaischer und weniger sarkastisch an. Aber insbesondere auch durch die Dialoge wandelte Kubrick die Adaptation in eine Satire um. Die Herausforderung, dies auch in Synchronfassungen zu erhalten, untersucht Nils Daniel Peiler am Beispiel der akribischen Verfahrensweise bei der deutschen Synchronfassung DR. SELTSAM ODER: WIE ICH LERNTE, DIE BOMBE ZU LIEBEN.
Die Tschechen sind nicht zuletzt wegen des »braven Soldaten Schwejk« stolz auf ihre lange Tradition des satirischen Humors. Anhand von einigen verbotenen Studentenfilmen der FAMU in Prag aus den 1970er und 1980er Jahren zeigt Tereza Cz. Dvořáková, wie Satire in tschechoslowakischen Filmen verwendet wurde und auf welche Widerstände sie im sozialistischen System stießen.
Andere Missstände offenbart die Satire im kapitalistischen System. Judith Ellenbürger erkundet mit Georg Simmel und Diogenes in Filmen wie ZEIT DER KANNIBALEN (2014), THE WOLF OF WALL STREET (2012/13) und AMERICAN PSYCHO (1999/2000) den »Zynismus in der Finanzsatire«.
Einen selbstreflexiven Blick auf das Medium Film werfen Produktionen wie BEING THERE (1979, Hal Ashby) und WAG THE DOG (1997, Barry Levinson), die Werner Barg in seinem Beitrag »Medienkritik als politische Satire« betrachtet und die gerade in Zeiten von »Fake News« und Verschwörungserzählungen interessante und aktuelle Parallelen zur Gegenwart bieten.
Die Grenzen der Satire werden auch immer wieder beim satirischen Umgang mit dem Nationalsozialismus, insbesondere der Figur Adolf Hitlers deutlich. François Danckaert beleuchtet am Beispiel von David Wnendts ER IST WIEDER DA (2015) die Hitler-Komik und inwieweit diese als politischer Weckruf fungieren kann.
Der vorliegende Band versammelt die (überarbeiteten) Vorträge des 32. Internationalen Filmhistorischen Kongresses »Dr. Seltsam oder: Aus den Wolken kommt das Glück. Film zwischen Polit-Komödie und Gesellschafts-Satire«, der vom 21.–23.11.2019 im Gästehaus der Universität Hamburg stattfand, eingebettet in das XVI. Internationale Festival des deutschen Film-Erbes (Hamburg 16.–24.11.2019). Dabei ging es um die Fragen, wie Filme im Kraftfeld zwischen Politik, Kritik und Komik wirken, wie sich die satirische Darstellung über die Jahrzehnte und in unterschiedlichen Regimen äußerte. Es stand nicht die finale Definition eines Genres im Mittelpunkt, sondern die Bestimmung der Grenzen, in denen sich die Trennschärfe auflöst. Die folgenden Beiträge geben somit einen Eindruck von der Vielfalt der Politik- und Gesellschafts-Satire im Film, die sich über ganz unterschiedliche Genres erstreckt. Nicht ein vollständiger Überblick, sondern Schlaglichter auf Stacheltiere, Wunder- und Kellerkinder, die als Denkanstoß für die weitere Beschäftigung mit der Thematik dienen mögen.
Erika Wottrich, Swenja Schiemann | Hamburg, im Herbst 2020 |