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Daheim | Miklos Muhi

Er hätte sich nie träumen lassen, wieder hier zu stehen, vor diesem alten Bauernhaus, gebaut vor vielen, vielen Jahren aus Lehm und Stroh. Heutzutage gäbe es keine Baugenehmigung für so etwas, aber für diese Gegend wird es in absehbarer Zukunft gar keine Baugenehmigungen geben.

Hier sollte er eigentlich nicht sein, er sollte im mattgrau lackierten Bus sitzen und zurück nach Augsburg fahren, um die übliche Prozedur nach solchen Ausflügen über sich ergehen zu lassen, aber er hat sich die inoffizielle Erlaubnis regelrecht erstritten. Das Risiko war ihm durchaus bewusst, aber er konnte nicht anders. Er war hier aufgewachsen und wusste, dass er kaum eine andere Gelegenheit bekommen würde, den Ort seiner Kindheit wiederzusehen. Letztendlich gab man nach, aber sprechen dürfe er nicht darüber, sonst würden sie alle Ärger bekommen, hieß es.

Der Holzzaun vor dem Haus war zerfallen. Die ehemals lackierten Latten lagen um die in den Beton eingelassenen Eisenrohre, die als Pfeiler gedient hatten. Der Lack blätterte ab und die Farbe war nur schwer zu erkennen. Das Schiebetor, von seinem Vater eigenhändig gebaut, war zwar noch da, aber ohne die Holzlatten, und der Schiebekanal war mit Ästen, Blättern und Müll verstopft. Die Eingangstür war offen. Es gab zwar einiges zu klauen, wenn auch nicht mehr viel, aber fast niemand war so bescheuert, nur daran zu denken, von hier etwas mitzunehmen.

Er ging durch die geöffnete Tür und sah die Skelette der Tiere, wahrscheinlich von Hunden und Katzen. Dabei dachte er an Dufu, den zutraulichen Kater seiner Familie, der an dem Tag, als das Ganze passierte, verschwand und nie wieder auftauchte. Prinz, der Hund der Familie, die große Promenadenmischung, war zwar nicht abgehauen, aber sie hatten ihn damals auch nicht mitnehmen dürfen. Es war ein schmerzhafter Abschied gewesen.

Hinter dem Haus, in dem ehemals großen und blühenden Garten der Familie, wo Karotten, Kürbisse, Bohnen, Popcornmais und Industriehanf gewachsen waren (der Hanf hatte einen ordentlichen Beitrag zum Einkommen der Familie geleistet), machte sich nun ein jung aussehender Wald breit. Zwischen den Bäumen streckten sich einige verkümmerte Hanfpflanzen der Sonne entgegen. Sie müssen jedes Jahr neu anfangen. Die Bäume haben mehr Glück und erstickten langsam, aber sicher die ärmlichen Reste der Kulturpflanzen.

Hinter dem Haus war die Wand der Werkstatt eingestürzt und man konnte die unsägliche Unordnung und den Verfall eines ehemals sehr sauber und ordentlich gehaltenen Arbeitsplatzes sehen. Wenn sein Vater das sehen würde, wäre er bestimmt zumindest wütend, aber das wird nie passieren. Er starb einige Monate nach dem Verlust seines Heimes. Wahrscheinlich war das, was passiert war, doch nicht so unmittelbar passiert.

Neben dem Eingang zur Werkstatt protzte wie ein riesiger, zahnloser Mund der Eingang zum sogenannten Feuerschuppen. Im Feuerschuppen war die Heizungsanlage. Die Gasleitung, die an der Wand entlang zum Feuerschuppen führte, war schon an einigen Stellen durchgerostet. Gas gab es keines mehr.

Er musste ganz nah an den Eingang gehen, um in seinem Schutzanzug überhaupt etwas sehen zu können. Drinnen war es düster, aber er sah, dass alles noch da war. Auch im Feuerschuppen herrschte ein heilloses Durcheinander, und die Heizungsanlage, damals sehr modern, teuer und mit der Hilfe der lokalen Energiefonds gekauft, rostete kläglich vor sich hin.

Die Eingangstür des Hauses stand weit offen. Im Haus hatten es sich damals einige Tiere bequem gemacht, denn man musste alle Fenster und Türe offen lassen. Das Haus konnte die ungebetenen Gäste kaum vor Wind und Wetter schützen. Es war voll Knochen in allen Formen und Größen und jeder Knochen erzählte von zerplatzten Hoffnungen – wenn Tiere überhaupt zu so etwas wie Hoffnung imstande waren.

Überall machte sich Schimmel auf den Wänden breit, genug, um das Haus zu einem Fall für eine unmögliche Komplettsanierung zu machen. Im Vorzimmer verblichen einige Jacken auf den Kleiderhaken und aus den Schuhen wuchsen verkümmerte, gelbliche Pflanzen.

Er dachte dabei an seine eigene Pflanze, die er in seinem Zimmer in einem beleuchteten und belüfteten Spezialschrank züchtete. Er hatte nie mehr als eine einzige Pflanze und aus einer Ernte konnte man monatelang Himmelskekse backen. Nie hätte er die Ernte verkauft oder mehrere Pflanzen zum Verkauf gezüchtet. Nach dem neuen BtMG wäre das nicht einmal als Ordnungswidrigkeit geahndet worden.

Die Küche war voll Kot, Laub und Müll. Auf dem Herd stand eine durchgerostete Pfanne, in dem Sonntagsbraten zubereitet werden sollte. Im Topf daneben war etwas Durchsichtiges eingetrocknet, die letzte Hühnersuppe. Alle Einrichtungsgegenstände waren schmutzig, bedeckt mit einem Schleier aus herrenlosen Spinnennetzen, Staub und etwas Schimmel.

Überall blätterte der Putz von den Wänden. Die Möbel sammelten all den herumfliegenden Schmutz, ließen aber auch genug übrig, damit der Filter seiner Gasmaske auch etwas zu tun hatte.

In seinem ehemaligen Zimmer im Obergeschoss waren fast alle Möbel vermodert, denn, wie es aussah, gab es auch mit dem Dach einige Probleme und der Regen fand seinen Weg zu jedem Möbelstück hier oben. Der einzige noch halbwegs erkennbare Gegenstand war sein beleuchteter und gelüfteter Schrank aus dickem Plastik. Die Rohre der Lüftung waren gerostet und wahrscheinlich war die ganze Elektronik auch dahin. Im Schrank fand er noch den Blumentopf mit den vermoderten Pflanzenresten.

Er dachte an die vielen Himmelskekse, wurde aber vom Funkgerät aus seinen Erinnerungen herausgerissen.

»Hier ist Krause. Melden Sie sich, Hufnagl!«

»Hufnagl hier. Sprechen Sie.«

»Hufnagl, es reicht jetzt. Zurückkommen, aber sofort, sonst gibt es Dresche wegen Gehorsamsverweigerung.«

»Verstanden, bin unterwegs. Hufnagl aus.«

Der Bus wartete auf ihn auf dem Hauptplatz des Dorfes. In seiner Abwesenheit haben seine Kameraden eine Geschichte zurechtgezimmert, die in Augsburg auf der Kommandantur als Erklärung für sein Zuspätkommen dienen sollte.

Jedes Jahr schickte der Bund eine Patrouille in diese Gegend, seit der Forschungsreaktor München II vor etwa zehn Jahren in die Luft gegangen war. Angeblich alles nur Verkettung unglücklicher Umstände, man könne ja nichts dafür und so weiter.

Im Jahr vor der Katastrophe waren die Krebsneuerkrankungen in Garching und Umgebung (in einer sehr weiten Umgebung) sprunghaft angestiegen. Dann kam jene Julinacht … Kurz vor dem Knall, und noch bevor der Atompilz über Garching erschienen war, hatten mehrere Zeugen berichtet, dass die Isar in der Nacht bläulich leuchtete.

Nach dem Knall leuchtete eine Zeit lang alles bläulich. Die Explosion fegte Ismaning weg und befreite das Wasser aus dem Speichersee, was wiederum die Teile von München wegfegte, die die Explosion nicht erreichen konnte.

Eichenau war stehen geblieben. Weder die Explosion, noch das Wasser konnten Eichenau etwas anhaben, der Fallout aber schon. Seitdem wohnten nur einige Flüchtlinge hier, die abgeschoben werden sollten. Sie kamen lieber nach München und Umgebung, um sich vor der Abschiebung zu verstecken. Sie nisteten sich in den leeren Häusern ein und starben kurz darauf einen qualvollen Tot.

Die Patrouille hat heute keinen einzigen Flüchtling gefunden. Scheinbar haben selbst sie diesen Ort, genannt das Mahnmal der Nuklearen Sicherheit, verlassen.

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