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Kintsugi | Hermann Moser

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Blaue Scherben. Goldener Kitt. Eine Teeschale. Der Chef betastete die einstigen Bruchstellen, die wie schmale Täler durch eine Landschaft verliefen. Die goldene Farbe machte den Defekt zur Zierde.

»Das gefällt mir. Die Schale ist wunderschön, weil sie einmal zerbrochen war. Danke, Nyoko! Im Land deiner Mutter gibt es viele interessante Dinge.«

Eigentlich legte der Chef keinen großen Wert darauf, gefeiert zu werden. Aber der Geburtstag brachte auch mit sich, dass seine Mitarbeiterin Nyoko Binder von der Verbrecherjagd abgelenkt war. Er bekam eine Verschnaufpause vom Arbeitseifer seiner hoch talentierten, aber stressigen Mitarbeiterin, die stets sogar ihren Vorgesetzten vor sich hertrieb und ihm dennoch wie eine Tochter ans Herz gewachsen war.

Nyoko küsste ihn auf beide Wangen. »Alles Gute! Diese Kunst aus Japan heißt Kintsugi und ist ein Ausdruck von Wabi-Sabi, der Wahrnehmung der Schönheit.«

»Hat dich der Wandkalender in meinem Büro zu diesem Geschenk inspiriert?«

Sie freute sich, dass er den Gedanken erkannt hatte. »Ja, die Bilder von den verlassenen Gebäuden sind sehr schön. Ich hole ihn …«

Der Chef wollte sie noch aufhalten. Er befürchtete, dass der Kalender Prozesse in Gang setzen würde, die seine Ruhe an diesem Tag gefährdeten, doch sie war zu schnell.

Als Nyoko zurückkam, betrat Klaus Zimmermann, der Leiter der Spurensicherung, das Büro. »Meine herzlichsten Glückwünsche, alter Mann!« Er bemerkte den Kalender in Nyokos Hand. »Wollt ihr den alten Selbstmordfall wieder aufrollen?« Der Chef versuchte noch, ihn mit einem dezenten Fußtritt zu bremsen, doch es war zu spät. Nyokos Augen blitzten auf. Ein ungelöstes Rätsel. Ihr Blick fokussierte sich und zeigte jene Entschlossenheit, die keine Ruhe geben würde, bis der Fall geklärt war.

»Was hat dieser Kalender mit einem Selbstmord zu tun? Wollt ihr mir eine Geschichte erzählen?«

Der Chef stöhnte. »Nyoko, das war vor langer Zeit.«

»Dennoch gibt es anscheinend etwas, das man wieder aufrollen kann. Ich will den Fall lösen.«

Das war es dann wohl mit dem ruhigen Geburtstag. Der Gefeierte schöpfte noch einmal kurz Hoffnung, als sein Mitarbeiter Johann Sturmaier das Büro betrat. Der war nicht nur Kriminalpolizist, sondern auch Leiter der Polizeiblasmusik und trug an diesem Tag die Kapellmeisteruniform. »Alles Gute, lieber Chef! Ich schenke dir heute etwas, das sonst nur hohe Offiziere und der Minister bekommen. Wir spielen ein Ständchen für dich.«

Nicht einmal die Musikkapelle konnte Nyoko bremsen: »Wann soll der Auftritt stattfinden?«

Johann sah auf seine Uhr.

»In zwei Stunden.«

»Dann haben wir noch etwas Zeit für den Selbstmord. Was war damals los?«

Klaus schaute zum Chef und bekam einen resignierten Blick als Antwort. »Den Selbstmord hat vor etwa acht Jahren ein Mann namens Franz Röhrling begangen. Er hatte einige Jahre davor den Bauernhof seiner Eltern in Pfaffingen im nördlichen Waldviertel geerbt. Den Betrieb hat er aufgegeben, um in einer Fabrik in Wien zu arbeiten. Die ist später auch geschlossen worden. Er ist danach zum Hof gefahren und hat sich im Stall erhängt. Das Landeskriminalamt Niederösterreich hat uns um Assistenz gebeten, da der Tote zuletzt hier in Wien gelebt hatte. Wir haben seine Wohnung durchsucht und Menschen in seinem Umfeld befragt. Dabei haben sich keine Beweise ergeben, die gegen einen Suizid gesprochen hätten. Der Fall ist daher von den Niederösterreichern als solcher abgeschlossen worden.«

»Beweise habt ihr keine gefunden, aber ich höre zwischen den Zeilen, dass doch einige Indizien dagegen gesprochen haben. Ihr glaubt nicht der offiziellen Version?«

»Na ja, es war eine klassische Situation. Röhrling hat sich auf einen Stuhl gestellt, den Hals in die Schlinge gelegt und dann den Stuhl weggestoßen. Ich habe mir die Tatortfotos angeschaut, und so wie der Stuhl dort zu sehen war, ist es physikalisch schwer vorstellbar. Den könnte aber auch jemand am Tatort verrückt haben, was natürlich niemand zugeben würde.«

»Warum haben die Niederösterreicher eure Assistenz angefordert? Wenn es für sie ein eindeutiger Suizid war, hätten sie das vermerkt und den Fall abgeschlossen, ohne groß in der Wohnung und bei Bekannten zu ermitteln.«

»So klar war es nicht. Die Kollegen haben sich wegen der fehlenden Schlüssel in zwei Fraktionen gespalten und sehr emotionale Diskussionen geführt. Inoffiziell sind wir sozusagen als Schiedsrichter zugezogen worden, aber es gab einfach keine Beweise für einen vorgetäuschten Selbstmord.«

»Klaus, ich kenne dein Gespür, mit dem du aus winzigen Spurendetails die Abläufe am Tatort rekonstruierst. Wenn für dich etwas unschlüssig ist, glaube ich es ohne wissenschaftlichen Beweis. Was war mit den Schlüsseln?«

»Er hatte keine bei sich, obwohl er mit seinem Touareg hingefahren ist.«

»Das ist aber ein teures Auto für einen arbeitslosen Fabrikarbeiter. Sind seine Vermögensverhältnisse geprüft worden?«

»Es hat keine Auffälligkeiten gegeben, ist aber nicht sehr intensiv angeschaut worden. Die Anhänger der Selbstmordthese haben sich dann doch durchgesetzt.«

Nyoko blickte zu ihrem Chef. »Das tut mir leid! Ich habe mir fest vorgenommen, dir an deinem Geburtstag keinen Stress zu machen, aber die Geschichte stinkt zum Himmel. Ich habe keine ruhige Minute, bis das geklärt ist. Du kannst dich zurücklehnen, ich kümmere mich darum.« Sie nahm den Kalender in die Hand. »Was hat eigentlich dieses schöne Stück mit dem Fall zu tun?«

»Der Fotokünstler Dominik Frandl veröffentlicht Kalender mit Bildern von verlassenen Gebäuden. Er hat damals wohl aus den Medien von dem Selbstmord im Stall des Bauernhofes erfahren und dabei gesehen, dass es sich um ein lohnendes Motiv handeln könnte. Seither kaufe ich jedes Jahr ein Exemplar.«

»Hast du noch den von damals mit dem Stall?«

Während Johann sich verabschiedete, um zur Musikkapelle zu gehen, holte der Chef den alten Kalender. Nyoko nahm ihn und betrachtete das Bild des Stalles. Durch die trüben Fenster fiel nur mattes Licht. Der Fotograf hatte ohne große Scheinwerfer die schön schaurige Stimmung eingefangen. Der Kalk bröckelte von den Wänden. Die aus dunklen Brettern gezimmerte Tür hing etwas schief in den rostigen Angeln. Nyoko glaubte beinahe, das Quietschen der Gelenke zu hören. Auf dem Boden lag noch lose verteiltes Stroh. Die Decke bestand aus langen Latten, die auf schweren Querbalken lagen. Etwas Licht drang durch die Ritzen zwischen den unregelmäßig geschnittenen Brettern. So ein Spalt musste auch Platz geboten haben, um einen Strick um den Balken zu binden.

Nyoko ging zu ihrem Computer und suchte die elektronische Akte. Sie betrachtete Fotos desselben Raumes. Keine Poesie des Verfalls, sondern ein wissenschaftlich aufbereiteter Suizid. Hell erleuchtet. Einige Stellen waren mit Nummernschildern versehen. Am Deckenbalken hing Franz Röhrling. Das chemisch-giftgrüne Seil war offenbar eine neu gekaufte Kunstfaser. Auf jedem Bild befand sich rechts oben eine Aktennummer.

Nyoko zoomte in das Foto. Röhrling war sportlich gekleidet. Auf dem Poloshirt sah sie das Logo einer Designermarke. Er trug eine teure Uhr. Nyoko erinnerte sich, dass Klaus seinen SUV erwähnt hatte. Sie klickte durch die Akten. Auch die Wohnung in Wien war sehr groß und schön. Er hatte dennoch keine Schulden gehabt. Wie war er zu dem Geld gekommen?

Sie schaute zu ihrem Chef und Klaus auf. »Irgendetwas stimmt hier nicht. Warum hat er seinen Hof nicht verkauft? Einen besonders sentimentalen Zug zur Landwirtschaft kann man ihm nicht nachsagen. Den Betrieb hat er aufgegeben und ist in eine Fabrik arbeiten gegangen. Er hat das Anwesen auch nicht gepflegt, um es zum Beispiel als Wochenendhaus zu nutzen. Dabei hatte er offenbar gar nicht so wenig Geld. Trotzdem ist er zu dem Ort, der ihm nicht sehr viel bedeutet hat, zurückgekehrt, um sich umzubringen. Warum? Ich sehe in den Unterlagen viele Scherben: ein verlassener Hof, Arbeitslosigkeit, Selbstmord. Wir müssen sie wieder zusammenkleben. Kintsugi ist nicht nur die Schönheit des Vergänglichen, es ist das Leben mit all seinen Sprüngen, eine ganze Schale und dennoch viele Scherben. Wenn wir alle Aspekte des Lebens von Franz Röhrling zusammenfügen, wissen wir vielleicht, was damals passiert ist. Chef, ich will dort hinfahren und mir den Bauernhof anschauen.«

Der Chef nahm einen tiefen Zug aus seiner kalten Pfeife. »Wir sind unterbesetzt, seit Christian bei der internationalen Polizeimission in Georgien ist. Die Akten stapeln sich auf den Schreibtischen und du willst einen acht Jahre alten Selbstmord wieder aufrollen, der nicht einmal in unsere Zuständigkeit fällt.«

»Christian kommt in zwei Wochen zurück und ich zähle die Tage, weil ich meinen Ex-Freund so vermisse. Wir können die Stapel auf seinen Schreibtisch stellen. Ich würde sagen, dass es neue Hinweise auf Straftaten von Franz Röhrling gibt. Die inoffiziellen Einkommen sind ungeklärt. Wir prüfen, ob er damals mit Komplizen gearbeitet hat, die heute noch aktiv sind.«

»Nyoko, sei mir nicht böse, aber du verrennst dich. Es gibt keinen Anhaltspunkt für ein konkretes Verbrechen, daher auch nicht für Mittäter. Das war ein niederösterreichischer Fall, dort gibt es auch ein Landeskriminalamt. Wir wollen die Kollegen nicht vor den Kopf stoßen.«

»Dann will ich mir zumindest Bilder anschauen. Der Fotokünstler hat sicher viele Aufnahmen gemacht. Ich werde ihn anrufen.«

Während der Chef Luft holte und gedanklich einen Einwand formulierte, hatte Nyoko bereits den Telefonhörer in der Hand. Sie erreichte den Fotografen sofort unter der Nummer, die hinten auf dem Kalender vermerkt war.

Nach kurzer Diskussion gewährte der Künstler Nyoko Zugriff auf die Bilder seines digitalen Archivs.

Sie schaute sich die Fotos an, wechselte immer wieder zwischen den Aufnahmen, zoomte hinein und wieder hinaus, machte Notizen und Skizzen. Sie legte den Kopf nachdenklich zurück. »Er hätte mit den Fotos dieses Hofes alleine einen ganzen Kalender gestalten können. Du hast recht, Chef. Diese Verwitterung von alten Gebäuden ist wirklich schön. Das Gras rund um das Gebäude ist beinahe meterhoch und der Künstler hat das Licht beeindruckend eingefangen. Er ist auf die Bäume geklettert, um trotz des hohen Grases auch Außenaufnahmen machen zu können. Hier sieht man sogar einen Ast in das Bild ragen, wie bei einer japanischen Tuschmalerei. Hm. Trotz der Verwahrlosung ist die Zufahrt anscheinend regelmäßig benutzt worden.«

»Das Befahren einer Straße im nördlichen Waldviertel ist keine Straftat in Wien.«

»Irgendetwas fehlt. Ich spüre diese Unruhe, wenn etwas nicht vollständig ist. Was ist es nur?« Sie klickte durch die Fotos, blätterte in den Unterlagen. »Moment! Das ist doch ein …« Noch schnelleres Klicken. »Natürlich! Klaus, warst du damals bei der Spurensicherung im alten Wohnhaus dabei?«

»Nein. Auch in Niederösterreich gibt es Forensiker. Die haben keine Veranlassung gesehen, wegen eines Selbstmordes ein verlassenes Haus zu durchsuchen.«

»Es ist benutzt worden. In allen Räumen bedeckt eine dicke Staubschicht die Böden. Nur der Gang hinter der Haustür ist gewischt worden.«

Klaus ging zu Nyokos Schreibtisch und schaute auf den Monitor. »Das haben sie wahrscheinlich für den Fotografen gemacht.«

»Dann hätte der vorher Fotos des unberührten Zustandes geschossen.« Sie wechselte zu einer Außenaufnahme. »Noch spannender ist das hier.«

»Das ist ein Kellerfenster. Was ist daran so aufregend?«

»Die Scheibe ist im Gegensatz zu allen anderen nicht zerbrochen. Außerdem ist die Reflexion des Sonnenlichtes anders als bei den übrigen Fenstern. Wahrscheinlich wurde es als Einziges instand gehalten und besteht daher aus modernerem Glas, auch wenn sie sich bemüht haben, den Rahmen ursprünglich aussehen zu lassen. Wenn ich es vergrößere, ist die Scheibe seltsam schwarz. Könnte es innen von einer dunklen Folie verklebt worden sein?«

»Mit deiner Sturheit findest du immer wieder interessante Dinge. Wie schaut der Raum auf den Innenaufnahmen aus?«

»Jetzt sind wir an dem Punkt angelangt, wo ich etwas vermisst habe. Es gibt keine Fotos vom Keller. Dort hätte es sicher spektakuläre Motive gegeben. Altes Gerümpel kann sehr stimmungsvoll sein, vor allem wenn es von einem talentierten Menschen in Szene gesetzt wird. Ich rufe noch einmal den Künstler an.«

Sie drückte auf die Wahlwiederholungstaste und schaltete den Lautsprecher des Telefons ein.

»Dominik Frandl.«

»Hallo! Hier ist noch einmal Nyoko Binder vom LKA Wien. Ich habe noch eine Frage: Gibt es auch Aufnahmen vom Keller des Bauernhofes?«

»Ich wurde wegen Einsturzgefahr der Räume im Untergrund leider nicht hinuntergelassen.«

»Die Decke des Kellers ist der Fußboden darüber. Dort hatte er keine Angst um Ihre Sicherheit?«

»Das ist allerdings eigenartig. Sherlock Holmes ist anscheinend als Polizistin mit japanischem Vornamen in Wien wiedergeboren worden.«

»Wissen Sie noch, wer der Besitzer des Hofes nach dem Selbstmord von Franz Röhrling war?«

»Das war sein Bruder Jakob. Er hat mich bei den Aufnahmen begleitet.«

»Vielen Dank! Sie haben mir sehr geholfen.«

Nyoko wandte sich nach dem Telefonat an ihren Chef. »Jetzt kannst du mich nicht mehr zurückhalten. Ich muss nach Pfaffingen und mir diesen Keller anschauen. Dort finden wir den Kitt, der die Scherben zusammenhält.«

»Du hast es wieder einmal geschafft, mich neugierig zu machen. Aber erspare mir bitte wenigstens heute einen Konflikt mit dem Nachbar-LKA. Ich rufe die Kollegen an, damit sie die Situation vor Ort besichtigen.«

Nyoko tippte auf ihrer Tastatur. »Ich habe gerade Jakob Röhrling im System geprüft. Er ist voriges Jahr bei einem Verkehrsunfall gestorben. Das Auto war ein Porsche 911 Turbo. Schon wieder ein Mensch, der mehr Geld besessen hat, als er sollte. Aha! Im Wrack ist eine nicht registrierte Pistole gefunden worden. Die Durchsuchung seines Wohnhauses hat aber keinen Hinweis auf kriminelle Aktivitäten ergeben. Den Bauernhof haben sie nicht angeschaut. Sie haben Röhrling als harmlosen Waffennarren eingestuft. Die Kollegen sind mir etwas zu schnell beim Abschließen ihrer Fälle. Ich schaue noch, wem der Hof jetzt gehört … ein Immobilieninvestor … es gibt bereits Genehmigungen für den Abriss des Hauses und den Bau einer Reihenhausanlage. Jetzt haben wir keine Zeit für Kompetenzstreitigkeiten. Klaus, komm! Wir fahren sofort hin! Chef, bitte informiere das LKA Niederösterreich über den Einsatz wegen Gefahr im Verzug. Aber bitte genieß deinen Geburtstag und mache es so langsam, dass wir vor ihnen dort sind. Die haben auch einen weiten Weg von St. Pölten nach Pfaffingen.«

Kurz darauf stiegen Klaus und Nyoko in ihr Auto, einen Mazda 323 GTR, der früher bei Rallyerennen im Einsatz gewesen war. Die farbenfrohe Gestaltung zeugte noch von den Aufklebern der einstigen Sponsoren.

Klaus versuchte, es sich im Rennsitz bequem zu machen. »Diese Sportwagengurte sind sehr unpraktisch. Bitte fahr so, dass dein Auto kein Symbol für Vergänglichkeit wird.«

Mit quietschenden Reifen verließen sie das Polizeigebäude und stießen beinahe mit der Musikkapelle zusammen. Der Kapellmeister schüttelte den Kopf.


Der Immobilieninvestor Markus Kammerlander stand vor dem Bauernhof, der einst den Röhrlings gehört hatte, beim großen Schild, das die hier geplante Reihenhausanlage anpries. Sogar die Bäume auf dem Bild der Werbetafel waren nach einem regelmäßigen Muster angeordnet. Wohnen im Grünen.

Kammerlander sah eine Staubwolke in rasendem Tempo näherkommen. Gekonnt glich die Fahrerin den Drift bei der Vollbremsung aus. Ein Rallyeauto. War das wirklich die Polizei?

Er hatte mit einer Frau namens Nyoko Binder telefoniert. Erst als die asiatisch aussehende Frau ausstieg, war er sicher, dass es sich um den angekündigten Besuch handelte.

Nyoko ging zu ihm und stellte sich vor. »Vielen Dank, dass Sie sich so rasch Zeit nehmen konnten.«

»Ihre Androhung eines vorübergehenden Baustopps bis zur langwierigen Genehmigung der Durchsuchung war sehr motivierend.«

»Entschuldigung! Wir haben Hinweise auf diesen Keller bekommen, denen wir dringend nachgehen müssen. Sie haben das Haus sicher auch schon angeschaut.«

»Nur sehr oberflächlich, da der Abriss von vornherein geplant war. Im Keller befindet sich nur altes Gerümpel, keine Räuberhöhle.«

»Wenn es so ist, sind wir schnell fertig. Gehen wir hinein.«

Hinter einer Tür im Hausflur befand sich der Abgang zum Keller. Nyoko und Klaus schalteten ihre Taschenlampen ein. Sie erreichten eine vollgeräumte Kammer. Kisten, Blumentöpfe, Geschirr, rostige Geräte.

Klaus sondierte den Kram. »Die Sachen wurden alle schon lange nicht mehr angerührt. Vielleicht bist du ausnahmsweise falsch gelegen.«

»Wenn ich an die Fenster denke, ist dieser Raum viel zu klein. Es muss noch einen geben. Hier lässt das Gerümpel einen kleinen Gang frei, der als Einziges staubfrei ist. Du sagst doch immer, dass Spuren verwischen neue Spuren erzeugt. Schauen wir, wo das hinführt.«

Sie kamen zu einem Kasten und öffneten ihn. Er war leer. Nyoko klopfte gegen die Rückwand. Hohl.

Klaus inspizierte das Möbel. »Sieht so aus, als ob du dem Chef als Ausgleich für den Stress an seinem Geburtstag einen Erfolg schenken könntest. Vielleicht ist das eine Geheimtür. Ich suche den Öffnungsmechanismus.«

»Den brauchen wir nicht.« Die Trägerin eines schwarzen Karategürtels beseitigte das letzte Hindernis auf dem Weg zum Geheimnis mit einem Fußtritt – Mikazuki Geri. Die Rückwand des Kastens leistete keinen Widerstand.

Im Schein der Taschenlampen stand eine alte Apparatur. Klaus untersuchte sie. »Das ist eine Destillationsanlage. Haben wir einen Schwarzbrenner überführt?«

»Hier befindet sich noch etwas. Ist es das, was ich befürchte?«

»Du liebe Güte!«

Vor ihnen standen Glaskolben, Laborkühler, verbunden mit Schläuchen, Bunsenbrenner, eine Waage. Auf einem weiteren Tisch stand eine Tablettenpresse.

Klaus begutachtete die Chemikalienflaschen. »Das sind die Ingredienzien zur Herstellung von Amphetamin. Nyoko, du hast eine Speedküche aufgespürt.«

Sie gingen wieder nach oben, wo gerade niederösterreichische Polizisten eintrafen, die über die Einmischung der Wiener Kollegen sehr erbost waren. Das legte sich aber, als Nyoko von ihrem Fund berichtete. Sie ging zu Kammerlander. »Es tut mir leid, aber ich befürchte, das wird doch ein längerer Baustopp. Klaus! Wir feiern jetzt den Geburtstag meines Chefs. Immerhin sind wir hier nicht zuständig.«


Als Nyoko am nächsten Tag in ihr Büro kam, wurde sie von einem Chef empfangen, der viel entspannter als an seinem Festtag war.

»Guten Morgen, Nyoko! Heute habe ich schon ein paar nette Telefonate geführt. Ich darf dir den Dank der niederösterreichischen Kollegen und des Drogendezernats sowie ein besonderes Lob des Polizeipräsidenten ausrichten.«

»Der Präsident? War die Drogenküche so eine große Sache?«

»Du hast ja keine Ahnung, was du da aufgestöbert hast. Eine Tablettenpresse hinterlässt eindeutige Individualspuren, vor allem wenn sie älter ist. Die Kollegen haben inzwischen interessante Zusammenhänge rekonstruiert. Du hast sicher noch die Daten des Röhrling-Falles im Kopf. Was war 2004?«

»Franz Röhrling hat den elterlichen Landwirtschaftsbetrieb aufgelassen und ist nach Wien gezogen.«

»In diesem Jahr hat das Speedangebot in Wien deutlich zugenommen, vor allem Tabletten. Wir wissen jetzt, dass sie in der Drogenküche der Röhrlings produziert worden sind.«

»Der Fabrikjob war also nur Tarnung. In Wirklichkeit ist er als Dealer nach Wien gekommen.«

»Das sehen die Suchtgiftkollegen auch so. Kommen wir nach 2008.«

»Der Selbstmord von Franz Röhrling.«

»Kurz davor sind fünf junge Menschen an verunreinigtem Speed qualvoll gestorben, vermutlich ein Produktionsfehler. Das ist als ›Speed Kills‹-Fall in die Geschichte eingegangen und bis gestern nicht geklärt worden.«

»Wahrscheinlich hatte Franz Röhrling doch noch ein paar menschliche Regungen und Gewissensbisse. Hat er sich selbst umgebracht oder wollte er sich stellen und ist von seinem Bruder gestoppt worden?«

»Nach einigen Monaten hat sich in der Szene anscheinend niemand mehr daran erinnert. Der Verkauf ist nach einer kurzen Unterbrechung wie früher gelaufen. Was war voriges Jahr, also 2015?«

»Der Unfall von Jakob Röhrling, bei dem auch eine Schusswaffe gefunden worden ist.«

»Genau! Auf einem Foto der Hausdurchsuchung danach sieht man genau den Typ Seil, mit dem sich Franz Röhrling erhängt hat. Also hat wahrscheinlich Jakob seinen Bruder ermordet. Kurz nach dem Unfall sind die Speedtabletten endgültig aus dem Wiener Markt verschwunden. Was war gestern?«

»Wir haben die Drogenküche gefunden und damit die Röhrlings als Urheber identifiziert.«

»Noch in derselben Nacht hat die Suchtgiftabteilung mit den nun bekannten Namen die Ermittlungen wieder aufgenommen. Jakob Röhrling hat nach dem Tod seines Bruders ein Netzwerk von Dealern aufgebaut. Die Kollegen konnten schon drei Händler verhaften, die noch immer hochaktiv mit Substanzen anderer Hersteller waren.«

Nyoko rief den Fotografen an und berichtete ihm die Neuigkeiten. Er erzählte ihr von seinem neuesten Projekt. »Ihr Anruf hat mich inspiriert, die Fabrik zu suchen, in der Franz Röhrling gearbeitet hatte. Jetzt stehe ich hier und es ist ein Einkaufszentrum. Es schaut genauso aus wie alle anderen Konsumtempel. Nur ein Stück einer Backsteinmauer der alten Fabrik hat der Architekt als künstlerisches Element stehen gelassen. Sogar ein paar Rohre hängen dran. Die sind aber nicht original, sondern bei der Errichtung des Einkaufszentrums angebracht worden. Man hat die Teile sogar künstlich gealtert. Fotomotiv finde ich hier keines, wenn ich nicht in die Werbebranche einsteigen will.«

»Das ist schade. Ich habe einmal Kintsugi-Schalen aus maschineller Fertigung gesehen. Die Scherben sind bei allen exakt gleich und das Gold ist nicht echt. Dafür sind sie billig.«

KINDERGEFÄNGNIS und andere verlassene Orte

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