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Tiefes Glück | Svea Ninke

Sie war nicht sicher, ob sie es diesmal rechtzeitig schaffen würde. Die morsche Holztür ging immer schwer auf. Und vor zwei Tagen hatte sie sich auch noch bei dem Versuch die Hand verletzt, den großen Fliedertopf über die Terrasse zu schieben. Seitdem trug sie einen dicken Verband.

Darauf konnte sie jetzt aber keine Rücksicht nehmen, sie war ohnehin spät dran.

Helen stieg vorsichtig über die niedrige Gartenmauer und rannte los. Die Garagen entlang, durch das Gebüsch runter zum Fluss, seinem mäandernden Lauf folgend, einhundert Meter, zweihundert Meter, dreihundert Meter, bis die alte Schule plötzlich hinter der nächsten Biegung auftauchte. Ein verfallenes, schlossähnliches Gebäude mit eingestürzten Giebeln und sich gefährlich in den Abgrund neigenden Balkonen. Seit Jahren war dieses verwunschene Prachtstück für die Öffentlichkeit gesperrt.

Verstohlen warf Helen einen Blick über die Schulter, ob jemand hinter ihr denselben Weg am Fluss entlangspazierte.

Niemand zu sehen.

Sie schlug hinter der nächsten Hecke einen Haken und verschwand im dichten Gestrüpp, das sich bis an das verfallene Gemäuer hinzog. Unbeholfen kletterte sie über den kleinen Steinwall, der das Schulgelände an der Rückfront einsäumte. Noch zweiundfünfzig Schritte, dann stand sie vor der Holztür, die sich beherzt gegen das Vergessen stemmte und gleichzeitig alle ungebetenen Besucher ausschloss.

Nun ja, nicht alle.

Sie angelte den angerosteten Schlüssel aus ihrer Rocktasche, drehte ihn im Schloss zweimal herum und drückte dann mit ihrem ganzen Gewicht gegen die abgeblätterte Tür. Mist, der Arm mit der schmerzenden Hand kam ihr dabei immer in die Quere. Also das Ganze noch mal mit links. Sie drückte die Klinke nach unten, stemmte sich gegen den Widerstand – und war drin.

Er würde sicher schon auf sie warten.


Durch die halb blinden, bogenförmigen Fenster fiel kaum Licht. Langsam setzte sie einen Fuß vor den anderen, jeder Schritt wirbelte Staubwölkchen auf, die spiralförmig nach oben tanzten.

Am Ende des langen Flurs stand an einer niedrigen Tür, zu der zwei Stufen nach unten führten, in hübsch gezwirbelter Schrift »Gemeinschaftsdusche«. In längst vergangenen Zeiten hatte die Schule hier unten den Badebereich beherbergt. Nach dem Gymnastikunterricht schrubbten sich die Schüler hier unter den wachsamen Augen der Aufsicht den Schweiß ab, die Tagesheimschüler – Kinder wohlhabender Eltern – durften sogar baden.

Gedankenversunken strich Helen über den brüchigen Rand der alten Marmorwanne, die immer noch in der Ecke thronte. Aus dem Kippfenster darüber hatte man als Kind sogar einen winzigen Ausschnitt des Flusses sehen können, wenn man es wagte, sich auf dem rutschigen Wannenrand auf die Zehenspitzen zu stellen.

In der dämmrigen Nische mit den Fußwaschbecken polterte plötzlich etwas zu Boden.

Helen zuckte zusammen. »Bist du schon da?«, rief sie halblaut durch den wie ein L verlaufenden Saal. Aber nur das Knarzen der Fensterläden in den Scharnieren antwortete ihr. Offenbar frischte der Wind wieder auf. »Bist du im Silentium?«, rief sie noch mal mit gedämpfter Stimme.

Stille.

Sie ging den langen Flur zurück, vorbei an den schmalen Alkoven, in denen immer noch kleine Amorstatuen als Weggefährten auf ihren Einsatz warteten. »Eigentlich ganz schön deplatziert in einer Schule«, dachte sie befremdet, »noch dazu in dieser strengen Gemeinschaft. Und dann auch noch im Badetrakt …«

Sie gelangte zum Knick am Ende des Saals, bog hinter den Fußwaschbecken nach rechts ab und stand vor dem Rundbogen, der in den Ruheraum überging. Acht Liegen aus Stein waren in gleichmäßigem Abstand in einem Halbkreis angeordnet. Über den Boden ringelten sich weiß blühende Ackerwinden, die allen Zeitstürmen zu trotzen schienen. Zwischen den zerbrochenen Fliesen eroberte sich die Natur immer mehr Terrain zurück, sogar einige Lavendelzweige hielten sich am Sockel der Steinbank ganz rechts am Fenster fest und zeigten sich schon ziemlich üppig.

›Erstaunlich, dass der Moderboden ihnen genug Feuchtigkeit spendet‹, dachte Helen. Ihr Blick verweilte kurz auf dem fast schon verblühten Fliederzweig, der sich durch die zersplitterte Luke des Dachfensters geschoben hatte, dann tat sie einen Schritt zur Seite – und fiel vier Meter tief.


Der Sommer kam, der Herbst, der Winter, dann wieder der Frühling, und das Ganze zehn Mal.


Er war keineswegs sicher, ob es eine gute Idee war, in den kleinen Ort zurückzukehren, der ihm so viel Schmerz zugefügt hatte.

Nach außen hin hatte man ihm die Verzweiflung nicht angemerkt. Er hatte weiterhin seine Arbeit gemacht, war danach nach Hause gegangen, hatte seine Frau für das Mittagessen gelobt, das Geschirr in die Spülmaschine geräumt, mit den Kindern im Garten rumgetobt. Erst spät nachmittags hatte er sich immer eine Weile zurückgezogen – angeblich, um ein Seminar vorzubereiten. Meist schaffte er es dann gerade noch bis hinter die Tür des Arbeitszimmers, bevor der Kummer ihn wie eine Woge überflutete. Er ließ den Tränen freien Lauf, wartete still und reglos ab, bis der Schmerz zu einer dumpfen Leere geworden war, und starrte dann noch eine Weile aus dem Fenster, runter zum Fluss.

Nach acht Monaten hatte Elias es nicht mehr ausgehalten und sich einen Vorwand gesucht, um der Familie einen Umzug in die nächstgelegene Großstadt vorzuschlagen. Zu seiner Überraschung stimmten alle, auch seine Frau, ziemlich bald zu.

Inzwischen hatten sich alle dort gut eingelebt, sogar er selbst. Nun, vielleicht sollte man bei ihm eher sagen, er hatte sich eine Art neues Leben »eingerichtet«, gerade so, wie man sich ein neues Zimmer einrichtet. Im gelungensten Fall ganz passabel anzusehen – aber letztlich ohne jede tiefere Bedeutung.

Weil alle anderen ihr Glück gefunden hatten und nur er seines verloren hatte, ohne dass irgendjemand die leiseste Ahnung davon haben konnte, kamen keine großen Beschwerden von seiner Familie, als Elias ankündigte, am übernächsten Wochenende einen alten Freund im ehemaligen Heimatstädtchen zu besuchen.

Und nun saß er also in der gemütlichen Regionalbahn und hörte den Schaffner den so vertrauten Ort ankündigen. Er hob seine Tasche aus dem Gepäckfach, ging zur Zugtür und stieg schließlich als Fünfter der kleinen Warteschlange aus.

Sofort umfingen ihn die vertrauten Klänge. Der Schulbus vor dem Bahnhofsgebäude hupte mahnend, damit die Nachzügler jetzt mal etwas Tempo zulegten, im Bauhof gegenüber schepperte eine Ladung Steine an ihren Bestimmungsort, auf dem Bauernhof daneben meldete sich ein Hahn zu Wort.

Kurz packte Elias die Panik. Ob er seiner Unternehmung wirklich gewachsen war? Doch wie von selbst lenkten seine Schritte ihn auf den Weg zum Fluss.

Als er vor der alten Schule ankam, begrüßte ihn ein baumhohes Schild. »Hier entsteht das neue Schloss-Sanatorium« war darauf zu lesen, und er befürchtete schon, dass jetzt wohl alle Zugänge endgültig versperrt sein würden. Aber dann entdeckte er einen unauffälligen Papierstreifen, der in der rechten Ecke des Schildes aufgeklebt war und verkündete, dass die Bauarbeiten erst in vier Monaten beginnen würden.

Na dann … Vielleicht hatte er ja Glück.

Wie ein Spaziergänger, den es ganz zufällig hierher verschlagen hatte, schlenderte er um das inzwischen fast restlos verfallene Gebäude herum, bis er an dem niedrigen Steinwall ankam, der die Rückseite begrenzte. Automatisch zuckten seine Finger in der Jackentasche und stießen an den klobigen Schlüssel, den er erst heute Morgen dort verstaut hatte, damit er ihm bloß nicht abhandenkam. Er stützte sich kurz auf, setzte mit einem Sprung über die Mauer und stand eine Minute später vor der Holztür zum ehemaligen Badetrakt.

Ohne lange zu überlegen, zog er den Schlüssel aus der Tasche, sperrte auf und verschwand im Inneren.

Mit einem leisen Ächzen fiel die Tür hinter ihm ins Schloss. Elias ging langsam den langen Flur entlang. Nahezu liebevoll legte er unterwegs dem einen oder anderen kleinen Stein-Amor die Hand auf die Schulter oder strich zart über seine Wange. Vor der niedrigen Tür, die zu den Duschen führte, zögerte er kurz. Noch war Zeit, umzukehren, ehe lange verdrängte Gefühle ihn wieder ganz in ihren Bann schlugen. Wollte er wirklich den Abstand, den er in den letzten Jahren so mühevoll zwischen sich und die Vergangenheit gelegt hatte, Schritt für Schritt zusammenschmelzen lassen?

Sachte gab er der Tür einen kleinen Schubs und zwängte sich durch den Spalt, den sie überraschenden Besuchern nur widerwillig zum Durchschlüpfen anzubieten schien.

Links bei den Fußwaschbecken hatten sich zwei Wasserhähne in ihr Schicksal gefügt und aufgehört, sich an die zersprungene Keramik zu klammern. Halb herausgebrochen hingen sie über dem Abfluss, immer noch dienstbereit, mit hinter all den Kalkkrusten hervorschimmerndem Glanz, als könne nicht mal der Verfall ihnen die Würde ihres Daseins nehmen.

Elias wandte sich nach rechts zum Silentium, ihrem alten Treffpunkt.

Der ganze Raum schien bei jedem Schritt zu erzittern, wobei dieser Eindruck sich nur daraus ergab, dass jede Erschütterung eine Kaskade kleiner Steinbrösel aus dem Sockel der Ruheliegen löste.

Wie oft hatten sie sich hier aneinandergeschmiegt, flüsternd, damit nicht mal die Wände Zeugen ihrer Liebesschwüre wären, dann wieder atemlos vor Glück und unerfüllter Sehnsucht.

Helen war fast immer als Erste an ihrem Treffpunkt – er konnte sich ja nur von zu Hause davonstehlen, wenn alle anderen gerade in ihre jeweilige Beschäftigung vertieft waren.

Auch bei ihrer letzten Verabredung hatte er sich erst eine halbe Stunde später als geplant auf den Weg machen können. Doch als er endlich in der verfallenen Schule eintraf, war sie schon fort. Stunden hatte er auf sie gewartet, durch das Fenster über der Badewanne immer wieder zum Fluss gespäht und gelauscht, ob er ihre eiligen Schritte hörte. Aber da war nichts, nur Stille, und ab und zu das Rauschen des Fliederbaumes. Sein schwerer, melancholischer Duft war ihr immer der liebste gewesen.

Irgendwann war er schweren Herzens nach Hause gegangen. Nicht mal eine Nachricht hatte er zu hinterlassen gewagt. Nicht auszudenken schließlich, wenn sie durch einen dummen Zufall doch in die falschen Hände gelangt wäre…

Auch am nächsten Tag blieb Helen verschwunden, genau wie am übernächsten Tag. Und er konnte nicht mal nach ihr fragen. Bei wem sollte er sich denn erkundigen – bei seinen Kollegen? Verdächtiger hätte er sich kaum machen können, wo er sie doch offiziell gar nicht kannte.

Am dritten Tag war dann plötzlich Aufruhr im Ort, denn nun hatte ihre Familie sie offiziell vermisst gemeldet. Heerscharen von Polizisten und freiwilligen Helfern durchkämmten das Waldstück am Fluss und die Wiesen dahinter. Auch Elias machte mit bei der Suche, er durchforstete sogar heimlich das abgesperrte Gebiet rund um die Schlossruine – aber Helen blieb verschwunden.

Und der Kummer in seinem Herzen wuchs, bis er es nicht mehr ertrug, in der Stadt zu bleiben, die ihm so viel Erfüllung geschenkt und ohne jede Erklärung wieder genommen hatte.

Nun wollte er ihn aber noch einmal spüren, den Nachhall des Glücks, das sie zusammen erlebt hatten.

Er setzte sich auf die Steinbank am Fenster, ließ den Blick durch den Raum schweifen. Wie ein verwunschener Garten wirkte er auf dieser Seite. Der Lavendel erstreckte sich stark und kräftig bis hin zur Wand, dazwischen versuchten sich ein paar wilde Kamillenblüten zu behaupten, und rechts grub sich ein mittlerweile schon recht ansehnlicher Ausläufer des Flieders in das Deckenfresko.

Er beugte sich nach vorne, um den geliebten Duft einzufangen, um vielleicht sogar einen kleinen Zweig abzubrechen, der ihm bis zur Heimfahrt noch ein paar Stunden Trost spenden konnte.

Ganz konnte er ihn nicht erreichen. Noch eine kleine Drehung, ein Schritt nach links …

Kurz blieb sein Griff in der Schwebe, die Zeit schien stillzustehen. Dann brach das gesamte Kopfteil der Steinliege mit einem Ruck weg, riss mit donnerndem Getöse einen tiefen Krater in den aufgebrochenen Boden – und alles Vergängliche mit sich.


Monate später grub sich ein Bagger von außen durch die Gemäuer des Badetrakts.

»Vorsicht, hier ist ein riesiges Loch!«, stoppte ein Bauarbeiter die Fahrt seines Kollegen. Beide Männer stiegen über das aufgetürmte Geröll und sahen hinab.

Hinunter zu zwei Skeletten, die friedvoll einander zugewandt dalagen. Die Hände verwoben, die Knie sanft aneinander gestützt, den erloschenen Blick ineinander versenkt. In tiefem Glück.

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