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Leerstand | Johanna Wurzinger

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Das erste Geschäft verkaufte Bücher.

Das zweite Geschäft verkaufte Haus- und Arbeitsbekleidung. Odettes Blick fiel auf einen gestreiften Morgenmantel aus leichtem Polyester, daneben Nachthemden, in unregelmäßigen Abständen auf einer Stange aufgereiht. Rosa neben Pink neben Gelb neben Weiß, geblümt neben ungemustert, Langarm neben schulterfrei. Daneben Kittelschürzen, ein geblümter blauer Streifen zwischen jeweils einem schmaleren weißen Streifen. Im Hintergrund, nur schwach erkennbar im Halbdunkel des Ladens, Gummistiefel. Hier stimmte etwas nicht.

Das dritte Geschäft verkaufte gar nichts mehr. Durch das staubige Schaufenster erkannte Odette zwei Reihen leerer Regale, ein drittes Regal, ebenfalls leer, rechtwinkelig dazu, eine Theke, eine verwaiste Kasse. Hier stimmte etwas ganz und gar nicht.

Odette schloss ihren Reißverschluss bis ganz oben, auch wenn er unangenehm am Kinn kratzte, und beschleunigte ihren Schritt. Zwei Querstraßen weiter war sie am Ziel. Sie beobachtete das Haus eine Weile, ging davor auf und ab, wich dann dem schreienden Grün aus, stieg über das morsche Gartentürchen, drückte die Haustür mit der Schulter auf und betrat den ersten Raum. Zwielicht. Sie atmete ein und aus, eins, zwei, drei, dann zog sie die Kamera aus ihrer Tasche und begann zu fotografieren.

Minnie legte ihr Handy auf den Tisch und kam auf Odette zu. Sie redete. Dass Odette es ihr hätte sagen müssen, dass sie, Minnie, ja noch gar nicht mit dem Bürgermeister gesprochen habe und auch den Namen von der alten Frau noch gar nicht wisse, dass Odette Glück gehabt habe und die Gendarmen sehr entgegenkommend gewesen seien, angesichts der Hysterie der Nachbarin. Odette lächelte und hob eine Schulter. »Dann lass mal sehen«, meinte Minnie, plötzlich entspannt. Sie griff nach der Kamera und klickte durch die Aufnahmen, die Odette gemacht hatte. Es war gespenstisch.

Dass die Zwillinge eigentlich Klara und Sybille hießen, war kaum jemandem mehr gegenwärtig, am allerwenigsten ihnen selbst. Viel zu früh geboren, nachdem ihre Mutter beim Blumengießen über den Gartenschlauch gestolpert und hart gelandet war, glaubte kaum einer der Spezialisten für Neonatologie an ihr Überleben: zu schwach, zu unterentwickelt, Sybille litt zudem an heftiger Gelbsucht, beide an atemdepressiven Zuständen. Als man sie jedoch auf Wunsch der Mutter, der es, von Schuldgefühlen gepeinigt, das Herz zerriss bei der Vorstellung, dass diese winzigen und unfertigen Wesen nun mutterseelenallein und getrennt voneinander sterben sollten, in einen gemeinsamen Brutkasten verlegte, trat das ein, worauf keiner mehr zu hoffen den Anlass gesehen hatte. Ihr Zustand besserte sich. Die Krankenschwestern beobachteten staunend, die Eltern unendlich dankbar, die Ärzte vorsichtig optimistisch, wie die beiden, schleppend, Gramm für Gramm, zunahmen. Die Ärmchen, anfangs so dick wie der kleine Finger der Mutter, ähnelten bald ihrem Daumen, schließlich dem des Vaters. Die blaurote Haut glättete sich, die Schläuche und Nadeln, die in ihre Nasen, in ihre Kopfhaut führten, wurden nach und nach entfernt, ihr Atem stabilisierte sich. Klara zeigte deutliche Reaktionen, wenn die Mutter, penibel desinfiziert, durch das Loch im Brutkasten mit ihr sprach und sie streichelte. Die Eltern bestanden darauf, die Mädchen gemeinsam nach Hause zu holen, obwohl Sybille gute zehn Tage vor ihrer Schwester hätte entlassen werden können.

Je größer ihre Mädchen wurden, desto deutlicher wurde der Mutter, dass sie sich von den heiteren Zwillingsszenarien, die sie sich ausgemalt hatte, verabschieden musste. Beide Mädchen waren still und eigenbrötlerisch.

Klara blätterte, noch bevor sie lesen konnte, wie die lesefaule Mutter stolz bemerkte, in Märchenbüchern und spielte ihre Lieblingsszenen unermüdlich mit Kuscheltieren nach. Sie baute ihnen Nester, fütterte sie mit selbstgekochten Fantasiespeisen und fertigte Wandschmuck für ihre Kartonhäuschen an. Bis weit nach ihrem fünften Geburtstag lutschte sie am Daumen und brach beim geringsten Anlass in Tränen aus.

Sybille war anders, sie sammelte Knöpfe, Murmeln und kleine Figürchen, die sie stundenlang zu großflächigen, komplizierten Mustern auf dem Kinderzimmerboden anordnete. Das Sprechen lernte sie spät. Die Hauskatze Murli hatte einen Narren an ihr gefressen, und oft sah man die beiden Freundinnen Seite an Seite vor dem Holzstapel in der Sonne sitzen oder konzentriert die laufende Waschmaschine beobachten. Ihre Augen waren klar und scharf, und häufig überraschte sie den Großvater damit, dass sie die Unterschiede bei den Fehlersuchbildern seiner Tageszeitung schneller fand als er. Das Mädchen gerate nach ihm, befand er stolz, das werde einmal eine ausgezeichnete Jägerin, eine ausdauernde und gute Beobachterin und hatte nicht ständig die Pappalatur offen.

Klara dachte an die armen Tierkinder und verweigerte kreischend wochenlang Fleisch, wenn der Vater oder der Nachbar wieder einmal einen Hasen oder ein Wildschwein nach Hause gebracht hatten, bis man ihr schließlich, entnervt, eine »fleischlose Extrawurst« kochte, wie der Vater süffisant bemerkte.

Krank wurden beide selten und nur gleichzeitig. Während Klara, weinerlich und wehleidig, nach Tee und Mama verlangte und nachts zu Sybille ins Bett kroch, lag Sybille lobenswert still und äußerte nur selten Widerspruch zum Geschehen im Krankenzimmer. Als Klara eines Tages, fiebrig und zutiefst unglücklich, die Mutter nach dem Gutenachtkuss nicht aus dem Kinderzimmer lassen wollte, sah diese, wie Sybille ihre Lippen bewegte. »Was hast du gesagt?«, wollte sie wissen. »Minnie«, wiederholte das Kind. Richtig, Klara trug ihren Mickey-Mouse-Pyjama, auf dem sich neben dem Mäusepaar einige andere Figuren aus Disneys Universum tummelten, darunter die Kuh Klara, die die Mutter insgeheim schon immer ekelhaft gefunden hatte. Als die Mutter am nächsten Tag ihre Töchter wecken kam, bestätigte Sybille, sie und »ihre Minnie« hätten brav geschlafen.

Der Name fand rasch Verbreitung, wurde von den anderen Kindergartenkindern aufgegriffen und schließlich sogar von der Kindergartentante, einer frömmlerischen Dame namens Martha, zugezogen aus der benachbarten Gemeinde, verwendet. »Ihre Minnie ist ein reizendes Mäderl«, pflegte sie der Mutter beim Abholen oder bei zufälligen Begegnungen süßlich lächelnd mitzuteilen. »So ein herziges Pupperl.« Ganz anders die andere, bei der rede man gegen eine Wand. In der Tat war Minnie wie gemacht für ihren neuen Namen: zierlich, schwächlich, blässlich, mit großen Augen und trotz ihrer Sturheit weich und verletzlich. Sybille dagegen war robuster, gleichgültiger, kaum zugänglich und oft in seltsame Beharrlichkeiten verbissen, beispielsweise ihre häufigen Weigerungen, an einer bestimmten Stelle die Straße zu überqueren. Ein rechter Trampel halt, wie manche Verwandten für sich befanden, und das Grüßen konnte sie auch nicht.

Alles in allem aber, da waren sich alle einig, war es schon ein großer Segen, wenn man bedachte, wie alles angefangen hatte, und diese Capricen, wie die Taufpatin der beiden gespreizt bemerkte, werden sich schon auswachsen. Normalerweise gab man nicht allzu viel auf ihre Meinung, denn sie redete mit der gleichen Bestimmtheit auch von Ahnenkulten und Kommunismus, doch im vorliegenden Fall schien sie recht zu behalten.

Die Probleme begannen, als der Großvater starb. Während er wie üblich bei seinem aus Milchkaffee, Marmeladekipferl und Betablockern bestehenden Frühstück saß, griff er sich kurz ans Herz und wurde einige Stunden später von seinem Sohn, der ihm ein paar Scharniere vorbeibringen wollte, unverändert vorgefunden. Die Hand an der Brust, die Kronenzeitung aufgeschlagen, das Kipferl von Fliegen umsummt. Es sei ganz schnell gegangen, meinte der Arzt, er habe so gut wie nichts gespürt. Ein schönes Alter habe er erreicht, fanden auch die Eltern und trösteten sich damit, dass er bis zum Schluss ganz selbstständig und bis auf die Herzgeschichte kerngesund gewesen sei. Minnie, um die man sich Sorgen gemacht hatte – lange überlegte man, wie man ihr die Nachricht so schonend wie möglich beibringen konnte – ließ sich rasch beruhigen durch die Vorstellung, der Opa sei nun im Himmel bei der Oma daheim und schaue jeden Tag auf sie herunter. Sybilles Reaktion hatte keiner erwartet.

Sie war fast jeden Tag eine Stunde nach dem Mittagessen zum Großvater hinüberspaziert und hatte so lange an seine Tür geklopft, bis er aus dem Mittagsschlaf erwachte. Daraufhin hatten sie jeder zwei Kekse gegessen, zum Munterwerden (Sybille mochte am liebsten die mit der Marmelade in der Mitte, der Großvater Schichtgebäck, das er Wafferl nannte) und die Zeitung noch einmal durchgeblättert, um zu kontrollieren, ob auch alle Rätsel richtig gelöst waren. Dann waren sie zu ihrem Rundgang aufgebrochen, zuerst zu den Tomaten, die in Kübeln entlang der Hausmauer wuchsen, weiter zu den Himbeeren und den Ribiselstauden und von dort in einem langen Bogen zurück zum Haus. Im Winter gab es freilich keine Tomaten oder Himbeeren, dafür ein Vogelhäuschen und Vogerlsalat im Mistbeet, von dem man laut Sybille, die wiederum den alten Mann wörtlich zitierte, groß und stark wurde.

Die unerschütterliche Sybille wurde nach dem Tod des Großvaters ernstlich krank, und das zum ersten Mal alleine: Sie fieberte hoch, schlug um sich, um gleich darauf wieder völlig apathisch vor sich hin zu wimmern. Der Hausarzt gab ihr eine Spritze, die sie den ganzen Tag lang, für den man die Beerdigung angesetzt hatte, in einen betäubungsähnlichen Schlaf fallen ließ. Minnie, verstört und mit rot geweinten Augen, wich ihr nicht von der Seite, ebenso die alte Nachbarin, die auf die Mädchen aufpasste und sich vergebens bemühte, Minnie mit Kakao und dem Fernsehkasperl vom Bett ihrer Schwester wegzulocken.

Als Sybille wieder aufwachte, wirkte sie so desorientiert, dass die Eltern erneut den Arzt riefen. »Na, wen haben wir denn da?«, fragte dieser onkelhaft beim Eintreten. Odette, antwortete Sybille, und dabei blieb es. Niemand verstand, wo sie diesen Namen herhatte.

Sie begann in den Wochen darauf, sich selbst zu schlagen, kurze, trockene Schläge auf den Kopf, die die Mutter, ohnehin schwer strapaziert, zusammenzucken ließen. Das Kind machte ins Bett und lehnte neue Kleidungsstücke ab. Die Einschulung wurde eine Katastrophe. Odette gebärdete sich wie ein wildes Tier, Minnie weinte verzweifelt und weigerte sich, die Hand ihrer Schwester und die ihrer Mutter, die sie umklammert hielt wie eine abstürzende Bergsteigerin, loszulassen. Mit der Zeit bemerkte die Mutter jedoch eine Beruhigung der Situation, die mit einer winzigen Verschiebung in der Beziehung der Zwillinge zueinander begann: War Minnie, die »Kleine«, früher blind an Odette gehangen, weil sie selbst Trost und Geborgenheit suchte, so schien sie nun auf Odette achtgeben zu wollen. Odette wurde ruhiger. Die Lehrerin schrieb dies dem Gewöhnungseffekt und ihrer Unterrichtsdisziplin zu, der Vater dem Alter.

Das Haus des Großvaters verfiel unterdessen. Sein Gewand wurde zur Altkleidersammlung gegeben, das Geschirr zum Großteil auf den Pfarrflohmarkt, die Möbel nach und nach verkauft, andere verheizt. Anfangs ging die Mutter, wenn sie etwas Zeit erübrigen konnte, zum Haus, um die Blumenbeete zu wässern, Unkraut zu jäten und die Vogeltränke nachzufüllen. Auch die letzte Tomatenernte fiel gut aus. Im Herbst wurden ihre Besuche seltener, und irgendwann stellte sie sie ganz ein. Von keiner Heckenschere, von keinem Rasenmäher gezügelt, verfielen die Pflanzen in euphorisches Wachstum: Wiesennelken reckten ihre Köpfe den Sonnenblumen entgegen, die wild neben dem Vogelhäuschen aufgegangen waren, Löwenzahn und Disteln liebäugelten mit den Ritzen zwischen den Terrassensteinen, die der Winter für sie Jahr um Jahr verbreiterte. Der Zwetschgenbaum, alt, bemoost und in diesem Jahr beladen mit winzigen, ungenießbaren Früchten, ließ einen Ast zu Boden fallen. Die grüne Farbe an den hölzernen Fensterrahmen und der Tür, daran gewöhnt, Jahr um Jahr von gewissenhaften Pinselstrichen erneuert zu werden, blätterte ab, erst zaghaft, dann forsch und beherzt. Als der Wind ein Fenster eindrückte, nagelte der Vater von außen Bretter davor. Das Dach ließ die Schultern hängen. Ein Amselpärchen nistete im Windfang, zwei Elstern im Schornstein. Von keiner Heizung, keinem sommerlichen Stoßlüften jemals aufgetrocknet, kroch die Feuchtigkeit durch die Holzböden und langsam, gemächlich, die Wände hinauf.

Im Inneren des Hauses bedeckte der Staub alle Oberflächen und ließ die Kinder rätseln, woher er wohl komme. Der Mutter hatten sie versprechen müssen, das Haus wegen der vielen Gefahren, die diese dort lauern sah, nicht zu betreten; den Schlüssel vermisste sie jedoch nie. Man musste nur sorgsam aufpassen, das Gras vor der Haustür nicht zu zertrampeln, den hohen Schierling, der im Schuhrost wurzelte, nicht zu knicken, keine neuen Spuren zu hinterlassen, wo die Natur dabei war, alte zu tilgen. Die Mädchen kamen fast täglich. In einem Erdverlies unter dem Küchenboden fanden sie Rexgläser, die dem Blick der entrümpelnden Verwandtschaft entgangen waren: Fisolen, Kirschen, Salzgurken. Sie aßen mit den Fingern und stellten die Gläser anschließend säuberlich an ihren verborgenen Platz zurück. Sie gingen von Zimmer zu Zimmer, tupften vorsichtig auf blätternden Verputz und bewunderten die Bauern bei der Ernte an der Wand im Schlafzimmer, wo vor Kurzem noch das große Bett gestanden hatte. Sie drehten die tauben Wasserhähne auf und zu und brachten die Waschschüssel aus Emaille mit Steinchen zum Klingen. Sie bemalten die Wände mit Bröckchen von Ziegelsteinen. Minnie versuchte, sich wie das Mädchen aus einem ihrer Bücher an die Küchenlampe zu hängen, doch sie riss ab und zerbrach.

»Aus euch kriegt man ja gar nichts mehr heraus«, beklagte sich die Mutter, wenn sie auf ihre Frage, was die beiden denn den ganzen Tag getrieben hätten, ein knappes »Nichts« zur Antwort bekam.

In ihrem Abschlussjahr beschäftigte sich Minnie intensiv mit dem Thema Tod. Sie maturierte mit Bestnoten in den Fächern Geschichte, Religion, Psychologie und Philosophie, ließ ansonsten aber zu wünschen übrig. Odette war noch schwächer, rettete sich gegen Jahresende lediglich durch ihre schnelle Merkfähigkeit und wurde dennoch zweimal aus reiner Gefälligkeit versetzt. Faul, urteilten die Lehrer. Unkonzentriert, bleiben weit hinter ihrem Potenzial zurück. Odette bekam eine Betragensnote, nachdem sie einem Klassenkameraden, der ihr auf die Toilette nachgeschlichen war, die Nase gebrochen hatte, indem sie ihn an den Haaren packte und sein Gesicht gegen den Spiegel geschmettert hatte. Die Schulleitung bat die Eltern zu einem Gespräch, diese einigten sich, auf Anzeigen zu verzichten – der Vater des Burschen auf eine wegen Körperverletzung, Odettes Vater wegen sexueller Belästigung.

Nach der Matura teilten sie sich eine Garçonnière.


»Ich denke, diese Woche noch, höchstens zwei, dann können wir den Bezirk abschließen«, meinte Minnie später, als sie ihre Mails gecheckt und nochmals, endlos, wie es Odette schien, telefoniert hatte. »Das von gestern würde ich mir aber gern noch mal gesondert ansehen. Das fällt aus dem Rahmen, irgendwie. Oder was meinst du?«

Odette nickte gedankenverloren. »Auf jeden Fall«, antwortete sie dann.

Auf die immer seltener werdenden Nachfragen der Verwandtschaft, was sie denn nun eigentlich täten (Capricen!), antworteten die Zwillinge, sie würden stundenweise als Sekretärinnen arbeiten. Von ihrem privaten Projekt, das den größten Teil ihrer Zeit in Anspruch nahm, erzählten sie nichts. Minnie recherchierte, telefonierte, wertete aus, fasste zusammen und vervollständigte wöchentlich die Karte. Odette fotografierte: verlassene Häuser, leer stehende Häuser, verwaiste Häuser. Einsturzgefährdete Bauernhöfe, aufgelassene Wohnblocks, zwangsgeräumte Nebengebäude, in Vergessenheit geratene Jagdhütten, ausgebrannte Kaufhäuser, in Konkurs gegangene Hotels, seit Jahrzehnten nicht mehr benützte Wochenendhäuschen. Errichtet im vorigen Jahrhundert, im vorvorigen oder erst neulich. Sie gingen methodisch vor, durchforsteten die letzten verwilderten Parzellen in frisch verdichteten ehemaligen Vororten, sie tasteten sich durch Gewerbeparks und hangelten sich durch gottverlassene Dörfer mit seltsamen Namen wie Einöd am Weg oder St. Pankraz in der Gegend. An manchen Stellen ihrer Karte entstanden seltsame Ballungsräume, an anderen war Leere.

»Das Leben ist eben lebensgefährlich«, hatten die Tanten der zehnjährigen Minnie ins Gesicht gelacht, und »der Tod gehört zum Leben«, hatten die Onkel beschieden. Dass Letzteres den Tatsachen entsprach, bewiesen die Heerscharen alter Frauen, zum Friedhof pilgernd, die zentnerweise gepflanzten pflegeleichten, farbenfrohen Blumen zu ihren Füßen, violett, gelb, weiß.

Aber die Häuser. »Jedes Haus stirbt anders«, hatte Minnie einmal erklärt. »Manche tun es würdevoll und richtig mit Stil, bleiben stattlich, auch wenn sie nur mehr ein Haufen alter Steine sind, eben weil sie mehr als nur ein Haufen alter Steine sind. Andere wiederum verweigern, die scheinen trotzig zu sagen, egal, ich brauch euch Menschen sowieso nicht, ich denk ja gar nicht dran. Wieder andere entfalten eine Beschaulichkeit, richtig romantisch, die sie früher sicher nicht hatten. Oder eben nicht in diesem Ausmaß. Wie Frauen, die jung gar nicht einmal besonders hübsch sind, im Alter aber mit tausend Falten und weißen Haaren dieses Strahlen bekommen. Ich meine die Häuser, die nur von blühendem Unkraut bewachsen und nur von ganz putzigen Vogerln besiedelt werden und in die garantiert noch nie ein Sandler oder ein Junkie gepisst hat. Verstehst du, was ich meine?«

Odette hatte genickt.

»Manche sind traurig, weinen mit jedem Stein den Tagen nach, in denen sie bewohnt waren. Und dann gibt es noch die, die das Alter und die Einsamkeit bösartig macht. Die die ganze Atmosphäre rundherum vergiften mit ihrer bloßen Anwesenheit.«

Odette hatte zugestimmt; gefühlvolle lange Ansprachen waren nicht ihre Stärke, aber dass sie genauso dachte, zeigten ihre perfekten Fotos: Sie zeigten die Persönlichkeit der ihres einzigen Daseinszweckes beraubten Gebäude, diejenigen überdauernd, denen ihre Existenz gewidmet war, ihre beredte, vollgepferchte Leere. Sie waren geplant worden, gebaut, bezogen. In ihnen waren Mahlzeiten gekocht und gegessen worden, in manchen von ihnen unter Gelächter und Gerede, in manchen bei freudlosem Schweigen; Geschirr war gespült worden, Wasser verschüttet und wieder aufgewischt. Menschen waren gut miteinander ausgekommen oder sich hasserfüllt aus dem Weg gegangen, hatten krank im Bett gelegen, waren geboren worden oder gestorben. Sachen waren zum ersten Mal passiert: der erste Schritt eines Kindes, die erste Post im Briefkasten, der erste Anstrich an der Wand, das erste Feuer im Ofen. Und Sachen waren zum letzten Mal passiert: ein letztes Mal hatte jemand die Toilettenspülung gedrückt, ein letztes Mal hatte sich jemand innerhalb dieser Mauern geliebt, ein letztes Mal das Licht abgedreht, ein letztes Mal jemandem einen guten Morgen gewünscht. Da war der Hof, einst, laut Grundbuch, inmitten Weines und Feldern gelegen, heute direkt an der ekelhaft kurvigen Bundesstraße. Unterhalb des Straßenniveaus, man hätte die Tür nach außen nicht mehr öffnen können, wirkte er klein, verloren, an den Fenstern noch Vorhänge, von einer tüchtigen Hausfrau genäht und aufgehängt. Die Frühstückspension, jedes Zimmer noch ausgestattet mit Radio am Kopfende der Betten, einst der letzte Schrei des Komforts. Sie wirkten überrumpelt, wie jemand, der sich fassungslos fragt, wie das denn hatte passieren können. Da war das Ferienhäuschen, voll lieblicher Details, die saftigen Moospolster, die vom Giebel herableuchteten, die entzückenden Eichhörnchen, die über die Terrasse flitzten. Drinnen eine museumshafte Idylle, ein Wanderstecken an der Wand, ein gestickter Lampenschirm, handbemalte Schnapsgläschen, die nur darauf warteten, aus ihrem Dornröschenschlaf von den Lippen zünftiger Wanderer wachgeküsst zu werden.

Da waren die vielen bescheidenen Altenteile, gebaut ohne große Erwartungen und ohne große Ansprüche, aber solide. Da waren die leer stehenden Villen, geplant, gebaut, verziert und ausgestattet comme-il-faut, und die nun, verlassen, verwittert, verfärbt, noch immer die Atmosphäre von lautem Gelächter, Pianomusik und der Vorfreude reicher Boudoirs in sich trugen. Da waren die riesigen Fabriken, die ihre Schlote stur in die Luft reckten und statt einer Vielzahl an Arbeitern nun einer Vielzahl an Ratten eine Lebensgrundlage boten. Da waren die vielen unscheinbaren Häuschen, die sich immer ohne die geringsten Variationen wiederholende Geschichte – verstorben – vererbt – verschmäht – erzählten, und denen Minnie aus schierem Mitleid am liebsten jedes Mal mit Putzlappen, Dispersionsfarbe und Besen zu Leibe gerückt wäre. Da war die Reihenhaussiedlung, die in Kürze einer Umgehungsstraße weichen würde: Seite an Seite, die Eternitfassade angegraut, starrten die Häuser angepisst in die Luft. Ihr Innenleben war restlos leer, die ehemaligen Bewohner hatten bei ihrer Übersiedlung alle Habseligkeiten mitgenommen, lediglich an manchen Küchenfenstern leuchteten die Aufkleber mit Fliegengift. »Arschlöcher«, schienen sie zu murmeln, »verdammte Arschlöcher«. Da war die ausgebrannte Fleischerei mit Wohnräumen im Obergeschoss, eines ihrer ersten Häuser. Ob aus versicherungstechnischen Gründen oder aus schlichter Lähmung hatte man einen Gutteil des verkohlten Interieurs so belassen, wie es war, und nur den gröbsten Unrat beseitigt. Die weißen Fliesen waren von einer fettigen schwarzen Schmier überzogen, Möbel und Gebrauchsgegenstände zu einem grausamen Abklatsch ihrer selbst zusammengeschrumpft. In den Betten der Kinder waren noch Reste der Decken, eines von ihnen war bei dem Brand erstickt. Euch krieg ich, giftete das Zimmer.

Da waren die vielen Hinterlassenschaften: Der Gartenzwerg, der, seine Laterne provokant erhoben, überdauerte, wo einst ein Beet gewesen sein musste. Da war das Gartentor, das, fest eingemauert, ein guter Hinweis darauf war, dass hier einmal ein Zaun gestanden haben musste. Die zwanzig Korbflaschen, die verrieten, dass hier einmal jemand gern ein Glaserl Wein getrunken und wohl immer eine rechte Gaudi gehabt hatte; der Teddy, steif und muffig; die Legion an Öfen: Kachelöfen, Kochherde, Heizkörper, Heizspiralen, Gaskonvektoren.

Und da war das Haus von gestern. Nummer 978 auf ihrer Liste, weiß, Doppelglasfenster, Mistbeet im Garten, Briefkasten außen am Zaun, erbaut 1948 von einem Franz und einer Helga Reitlbauer, hundertzwei Quadratmeter. Helga, damals bereits achtunddreißig und seit 1939 verwitwet, hatte im Vorjahr den fünfunddreißigjährigen Kriegsheimkehrer Franz geheiratet. Als gelernte Fleischereigehilfin fand sie in den kargen Nachkriegstagen nicht sofort eine Anstellung, wohingegen Franz, HTL-Absolvent und gelernter Zeichner, laut Mikrofilmen, die Minnie in der Bibliothek aufstöberte, beim Wiederaufbau tatkräftig mithalf und wohl die eine oder andere Ladung Baumaterial für sich abzweigen konnte. Die Ehe blieb bis 1950 kinderlos, dann, plötzlich, kamen nacheinander Josefine (1951), Franziska (1952) und Florian (1954) zur Welt. Franz, der über seine Kriegsvergangenheit nicht reden mochte, trank immer mehr, die Jahre 1955 bis 1961 zeigten häufiger werdende Aufenthalte in der Ausnüchterungszelle. Im Frühjahr 1961 verließ er, bereits deutlich angetrunken, das Wirtshaus, in dem er zu Mittag gegessen hatte, und geriet frontal vor einen Pkw, der zwar geistesgegenwärtig schnell, wie die Polizei gegenüber der Zeitung betonte, angehalten wurde, jedoch trotzdem nicht schnell genug, um ein Schädel-Hirn-Trauma bei Franz zu verhindern. Er wurde als Pflegefall in eine Anstalt eingewiesen, wo er 1968 starb. Helga, nunmehr zum zweiten Mal verwitwet, nahm eine Stelle als Wurstverkäuferin an, was gemeinsam mit der Witwen- und Waisenrente für sie und die Kinder reichte. Franziska begann eine Ausbildung als Hebamme, Josefine als Krankenschwester, beide kamen im Bezirkskrankenhaus unter. Florian verließ die Schule, sobald es ging, heiratete keine vier Jahre später eine Tschechin namens Adela, schlug sich mit Gelegenheitsjobs durch, wurde ein Jahr später wieder geschieden. Als Helga 1986 starb, setzte sie ihre Töchter als ausschließliche Erbinnen ein, die wiederum ihren Bruder das Wohnrecht einräumten, bis dieser Anfang der Neunzigerjahre das Land verließ. Seitdem stand das Haus leer.

Als sie das Haus betrat, spürte Minnie ihre Anspannung, die sich über ihre Brust bis tief in die Achselhöhlen zog. Zu ungeduldig, um abzuwarten, bis ihre Augen sich an die Dämmerung gewöhnt hatten, machte sie ein paar tastende Schritte, stieß gegen etwas, stolperte. Odette griff nach ihrem haltlos tastenden Arm, hielt sie fest. »Na, was meinst du? Warte, komm lieber in das Zimmer hier. Ich wollte nichts unternehmen, bevor du es nicht gesehen hast.« Als Minnie sich daraufhin hin und her drehte, vorsichtig ein paar Schritte in die eine, ein paar Schritte in die andere Richtung machte, schüttelte Odette den Kopf. Sie holte ihr Smartphone hervor und leuchtete damit auf die Bodenleiste. »Hier, schau.« Minnie trat näher, kniete sich auf das klebrige Linoleum und schaute auf den blasshellen Flecken synthetischen Lichts. Die Zeichen waren winzig. Sie zogen sich beharrlich wie eine Ameisenstraße die Sesselleiste entlang, dort wo Kratzer am Boden die frühere Position von Möbelstücken verrieten, bildeten panische Kolonien.

»Ich denke, das war ein Kind«, sagte Odette. »Nur ein Kind kann sich unter einem Kasten oder unter einem Bett verkriechen und auch noch Nachrichten hinterlassen.«

Minnie stand auf. Sie musste sich räuspern. »Wir sollten zur Polizei gehen.«

Odette nickte. »Das dachte ich mir.«


Der Wirbel, der daraufhin folgte, kam für die einen ungelegen, für die anderen überraschend, für wieder andere war er eine willkommene Abwechslung, einig waren sich jedoch alle, dass er einzigartig in der Zweiten Republik war und endlich, wie eine Anrainerin bemerkte und dabei die Kapuze zurückstrich, um ihre praktische Kurzhaarfrisur im Fernsehen besser zur Geltung zu bringen, den leidigen Fall Kampusch ablöste, der für viele Leute ohnehin nicht ganz koscher war, sie wolle jetzt aber nichts Näheres zu Frau Kampusch sagen, sonst heiße es gleich wieder.

Bagger rückten an, Kriminologen, Gutachter, Journalisten und Schaulustige. Man fand etwas, das schon, aber vorerst unklar blieben Alter und Ursache. Aber was war denn nun wirklich passiert? Diese Frage, in den Köpfen der Menschen bis weit über die Grenzen Österreichs hinaus penetrant herumschwirrend wie eine späte Herbstfliege, wurde wieder und wieder durchbesprochen, um diese Spekulation ergänzt, um jene Vermutung ausgebaut und durch die zahlreichen nebulösen Pressekonferenzen der zuständigen Behörden dergestalt befeuert, dass sie schließlich zu einem unüberschaubaren Geflecht an Antworten ausuferte.

Der alte Reitlbauer, hieß es, wenn wieder ein Psychologe in einer Nachmittagstalkrunde »aus aktuellem Anlass« zum Thema Kindesmisshandlung zu einer Stellungnahme genötigt worden war, der alte Reitlbauer habe nie verkraftet, dass der Flori so gar nicht nach ihm geraten sei und das den Buben ordentlich spüren lassen, vor allem ganz zum Schluss, nicht schön sei das gewesen. Die beiden Schwestern des vermeintlichen Opfers dementierten umgehend, der Vater sei außerordentlich liebevoll gewesen, von Misshandlung keine Spur, und überhaupt, nach so vielen Jahren die Ehe ihrer armen Eltern anzupatzen, sei schon gar keine Art.

Der junge Reitlbauer, hieß es, wenn wieder einmal flächendeckend und crossmedial vor der Veröffentlichung von Kinderfotos im Internet gewarnt wurde, der sei schon immer ein stilles Wasser gewesen, ein auffällig unauffälliger Einzelgänger, und dass der nie eine Frau mit nach Hause gebracht hatte in all den Jahren, die er ganz allein in dem Riesenkasten verbracht hatte, das gebe einem schon zu denken. Auch seien die Vorhänge immer zugezogen gewesen, und dass er einen Fotoapparat besessen habe, sei gesichert. Hier meldeten sich die Schwestern nicht zu Wort, der Bruder schien in der Tat ein wunder Punkt in der Familienhistorie zu sein, jedoch wies der örtliche Polizeichef die Anfragen besorgter Nachbarn zurück, man ermittle derzeit »in eine vollkommen andere Richtung«.

Die Zigeuner hieß es, der Hendlbrater, der ein paar Jahre lang jeden Herbst mit Kind, Kegel und seinem Imbissmobil im Ort Station gemacht hatte, für so jemanden sei ein leer stehendes Haus ja nachgerade eine Einladung.

Gammler, warfen ein paar hochbetagte Männer ein, unbeirrbar trotz der demonstrativ verdrehten Augen ihrer Enkel. Belgien fand häufige Erwähnung.

Der Holocaust wurde ins Spiel gebracht, Nazis, die nach dem Zusammenbruch des Dritten Reichs beinhart die Endlösung weiter vorantreiben wollten, das heißt, nicht die Endlösung, sondern die medizinischen Experimente, die die Rassenforschung revolutionieren sollte. In der Tat schienen die Ermittlungen, zumindest geografisch, in Richtung Nahost betrieben zu werden, ob nun auf der Suche nach dem Täter oder dem Opfer (oder den Opfern!), spaltete die Geister der Nation. Ein Mann namens Simon Goldblum wurde wiederholt zu seiner unaussprechlichen Kindheit am Spiegelgrund interviewt, man war sich einig, dass so etwas sich niemals mehr wiederholen durfte, bedauerte aber dennoch, dass er zur vorliegenden Causa weder Antworten noch Verdachtsmomente beisteuern konnte. Er war halt ein wahllos ausgewähltes unschuldiges Opfer, soviel war klar. Ein Mann namens Manuel Resch und seine Frau Natalie meldeten sich zu Wort, sie hatten stichfeste Beweise für die hinter dem Rücken der Weltbevölkerung betriebene Verschwörung des Finanzjudentums mit den Regierungen der Großstaaten und der Pharmaindustrie, auch litt Natalie seit einer Reise ins ägyptische Sharm-el-Sheikh unter Kopfschmerzen unklarer Herkunft, die jedoch mit Sicherheit durch den Rückflug verursacht worden waren.

Besorgte Bürger gegen Chemtrails und Spötter gegen Aluhüte gerieten sich in die virtuellen Haare, und die Identitären luden zu gemeinsamer sportlicher Betätigung an der frischen Luft ein. Gerade als die Diskussion sich zu verlagern begann, entdeckten die Medien die Zwillinge. Wie das eigentlich gewesen sei, wollte eine sympathische junge Reporterin wissen, warum sie eigentlich ein unbewohntes Haus betreten hatten, gute dreihundert Kilometer von ihrem Wohnort entfernt. »Würden Sie sagen, das war Intuition?«, fragte sie Minnie, als diese an einem späten, sonnigen Nachmittag nach Hause kam. »Oder haben Sie einen konkreten Hinweis erhalten? Was hat Sie auf diese Spur gebracht? Glauben Sie an Zufälle?«

Minnie zögerte erst, erlaubte der etwa Gleichaltrigen aber schließlich, mit ihr in die Wohnung zu kommen. Sie zeigte ihr die Aufnahmen, erklärte die Systematik ihres Vorgehens und schließlich, sie konnte sich später nicht mehr erklären, wie es dazu gekommen war, landeten die beiden beim Du-Wort sowie bei Tee, Schokoladenkeksen und Babyfotos von ihr und Odette.

Die Journalistin Manu hatte sich als Kind auch immer eine Schwester gewünscht, war aber mit einem um vieles jüngeren Bruder geschlagen gewesen, der, wie sie bedauernd zugab, in einer völlig anderen Welt gelebt hatte als sie, die sich vor allem mit Figuren aus Kinderbüchern wie Ronja Räubertochter identifiziert hatte. »Ich beneide euch um euer Ding, das ihr da habt«, gestand sie, als sie sich bereits verabschiedet hatten und in der angenehmen Abendluft vor der Tür standen. Obwohl sie augenscheinlich ein großes Maß an Verständnis für Hobbys wie das von Minnie und Odette (die jedoch das Wort Hobby nie in den Mund genommen hätte) aufbrachte, hatte sie entweder erstaunlich wenig Skrupel, was für ihre journalistischen Instinkte sprach, oder gegenüber ihrer Blattlinie erstaunlich wenig Durchsetzungsvermögen, was gegen ihre Qualitätsansprüche sprach; jedenfalls sah Minnie bestürzt zwei Tage später sich selbst und ihre Schwester als Titelaufmacher auf einer stark pixelnden Vergrößerung auf der alten Holzbank vor den Haus ihres Großvaters sitzen. Wegen der tief einfallenden Sonne, Minnie erinnerte sich, es war Abend gewesen, nachdem sie am Nachmittag geholfen hatten, Holz zu machen, hatten sie beide die Augen zu schmalen Schlitzen zusammengekniffen, die Haare waren durcheinander, Odettes Strickjacke schief geknöpft. Daneben, kleiner, die heutige Odette, wie sie gerade ein Klingelschild studierte. Manu musste das Bild heimlich abfotografiert haben.

»Stößt der Staat hier an Grenzen?«, lautete die reißerische Ansage, der es mehr schlecht als recht gelang, sich als Frage zu tarnen. »Spukschwestern in ganz Österreich aktiv!« Im Blattinneren ging die Story weiter. Odettes und Minnies Archiv, die Tausende Fotos, die sie sich zu Vergleichszwecken ausgedruckt hatten, die Karten und die vielen Zettelchen mit handschriftlichen Notizen, all das war in einer Art aufgenommen, die selbst kritischen Betrachtern nahelegte, dass man es hier mit völlig verpeilten Messies zu tun hatte. Der Ton war suggestiv, die Faktenlage scheinbar stichhaltig, ein Detail passte zum anderen, und am Ende war klar: Hier waren zwei Frauen am Werk, die vielleicht nicht gemeingefährlich waren (immerhin hatten sie ja, wenn auch unbeabsichtigt, zur Aufdeckung eines Verbrechens beigetragen), die sich jedoch seit zartestem Alter beunruhigenden Machenschaften hingaben, die man, ganz besonders in Zeiten steigender Kriminalität, besser im Auge behalten sollte, deren ganzes Handeln und Denken (schizophren?) nachhaltig von einer von verlust- und entbehrungsreichen Kindheit bestimmt war, und die ganz offensichtlich nicht in der Lage waren, Realität und Fiktion voneinander zu unterscheiden. Der Text malte ein Bild von zwei kaputten, ausgegrenzten Geschöpfen, die nach Einbruch der Dämmerung durch verlassene Gebäude schlichen und dabei verzweifelt versuchten, ein Ventil für die Kränkungen, die die Welt ihnen zugefügt hatte, zu finden.

»Die Schreie des Kindes aus dem Haus in der Scherergasse hört keiner mehr. Auch die Schreie der beiden Frauen in ihrer Kindheit sind ungehört verhallt. Was, wenn Fotos nicht mehr reichen? Wie werden sie sich Gehör verschaffen?«, fragte Manu am Ende des Artikels. Dass alle Beteiligten namentlich genannt waren, verbesserte die Lage auch nicht. Minnie war sprachlos. Odette schüttelte den Kopf. »Schnepfe«, sagte sie, und meinte damit sowohl ihre Schwester als auch Manu.

Die Mutter rief an, sie weinte. Der Vater rief an, ob Minnie und Odette bewusst sei, wollte er mit kaum beherrschter Aggression wissen, dass die Mutter weine, schon den ganzen Nachmittag, und dass die verdammte Journaille im Garten schon den halben Liebstöckel zertrampelt habe?

Ihr Chef rief an und meinte, es sei wohl besser, wenn sie, Minnie und Odette, in den nächsten Tagen Urlaub nehmen würden; ohnehin sei zurzeit kaum etwas zu tun.

Der leitende Ermittler, der die Aussagen der Zwillinge bereits zu Protokoll genommen hatte, rief an und bat die beiden, sich in nächster Zeit »zur Verfügung zu halten«, falls es »neue ermittlungstechnische Erkenntnisse« gebe. Als Minnie ihn befangen nach einem Zusammenhang mit dem Artikel fragte, lachte er. »Ich bitte Sie«, meinte er. »Glauben Sie, ich habe Zeit zum Zeitunglesen?«

Der Lokalredakteur einer Gratiszeitung, der Lokalredakteur einer Onlinezeitung und der Chronikredakteur der Regionalausgabe einer Tageszeitung riefen an und baten um eine Stellungnahme, ein Interview und eine Fotostrecke. Danach schaltete Minnie ihr Handy aus. Zwar änderte dies nichts an der Tatsache, dass auch ihnen die »verdammte Journaille« bis vor die Wohnungstür rückte, jedoch mit dem Einschreiten des Hausmeisters, eines Mannes alter Schule, der jeden Unbekannten in die Mangel nahm, wurde es etwas ruhiger.

Odette schien unbewegt. Sie ging nicht an die Tür, würgte eingehende Anrufe ab und spielte die restliche Zeit konzentriert Minecraft. Minnie dachte an Martin, den Klassenkameraden mit der gebrochenen Nase (der mittlerweile verheiratet war, als Gebrauchtwagenhändler arbeitete und auf Facebook wie besessen Made-my-day-Sprüche postete, die sich hauptsächlich um Bier drehten) und hoffte beklommen, dass keiner der Journalisten Odette zu nahe kam. Die Folgen eines Zusammenstoßes (»Gefährliche aggressive Störung: Zwillinge attackieren Passanten« oder »Wollen dafür sorgen, dass niemand sie vergisst: Zwillingen ist jedes Mittel recht«) konnte sie bildlich vor sich sehen.

In den nächsten Tagen erwachte die Medienlandschaft, die schon bereit gewesen war, zur frühherbstlichen Beschaulichkeitsagenda überzugehen, zu neuer Begeisterung. Die Dame, der Odette vor besagtem Haus ausgewichen war, bevor sie zur Erstbesichtigung schritt, meldete sich gewichtig zu Wort: »Einfach durch mich hindurchgesehen!«

Odette schnaubte. »Hätte sie halt nicht derart herumgekreischt und Sachen gefragt, die sie nichts angehen.«

Täglich erfuhren die Schwestern derart viel Neues über sich in der Zeitung, dass Minnie überlegte, ob sie nicht doch ein Gespräch mit einem Journalisten zur Richtigstellung suchen sollte, aber Odette zog nur spöttisch die Augenbrauen hoch. »Also du schon mal sicher nicht«, sagte sie. »Denk nur an deine süße kleine Manu – das Gespräch ging ja wohl voll in die Hosen. Alle Großväter sterben irgendwann, manche Kerle sterben sogar, bevor sie Großväter sind, aber kaum erwähnst du den unseren, stehen wir am nächsten Tag wie komplett entgleiste Tischchenrückerinnen da!«

Minnie gab sich seufzend geschlagen. Sie ging in der Wohnung umher, vom Fenster zur Tür, zur Küche, zum Fenster, nahm hier eine Tasse mit einem Rest Wasser hoch, dort eine CD, eine Nagelschere, um sie gleich wieder an einer anderen Stelle abzulegen. Sie fiel, kaum dass sie sich hingelegt hatte, in einen bleiernen Schlaf, schreckte wenige Minuten später wieder mit rasendem Herzen und schmerzenden Schulterblättern hoch und konnte anschließend nicht mehr einschlafen. Sie konnte sich nicht dazu aufraffen, morgens zu duschen, sich die Achselhöhlen zu rasieren und stellte fest, dass sie mehrmals nachfragen musste, wenn Odette etwas zu ihr sagte, bis sie den Sinn verstanden hatte. Sie deaktivierte ihr Facebook-Profil, nachdem sie unangenehme Nachrichten von Menschen erhalten hatte, die sie nicht kannte. Anfangs hatte sie noch versucht, sachlich auf die Kommentare zu reagieren, sie hatte einige Fotos von besonders pittoresken Häuschen gepostet und die Frage in den Raum gestellt, was denn nun der große Unterschied sei zu Menschen, die, sagen wir, Hundefotos oder Mode-Selfies knipsten, aber nur Häme und sexuelle Beleidigungen geerntet. Odette, die in den sozialen Medien (was für ein Widerspruch, dachte Minnie immer) nie sonderlich aktiv gewesen war, reagierte auf ähnliche Kommentare indifferent. »Scheißer«, sagte sie und machte einen Screenshot, als jemand seine Ansicht äußerte, solche wie sie gehörten samt ihren Bruchbuden in die Luft gesprengt. Äußerlich unbewegt, meldete sie über- und untergriffige Postings und schickte die Screenshots, mit knappen Worten unterlegt, an die Staatsanwaltschaft. Langsam wendete sich erneut das Blatt, die Schlacht wurde erneut eine andere, und erste Unterstützer meldeten sich. »Ladylike«, ein alternativer Blog mit feministischem Background, rief zur Solidarität mit »Frauen, die unabhängige soziokulturelle Grundlagenforschung betreiben« auf. Die Initiative »gegen.netzhetze« prangerte die Bloßstellung der beiden Schwestern an und forderte vom österreichischen Presserat eine umgehende Stellungnahme zur rufschädigenden Berichterstattung im vorliegenden Fall. Ein smarter Anwalt nutzte die gegenwärtige Stimmung und trug sich (»Nur damit er bekannter wird, der Sack«, meinte Odette) als kostenloser Rechtsvertreter an. Ein junger, unsicherer Mann mit dunklen Dreadlocks und abgekauten Fingernägeln, der an einer, wie er es ausdrückte, Anti-Anthologie über Hasspostings arbeitete, kam zu ihnen nach Hause und hatte sichtliche Schwierigkeiten, seine Augen zumindest manchmal von Odette ab- und den Ausdrucken, die sie vorbereitet hatte, zuzuwenden. Minnie blieb in der Küche, wo sie verwundert den Austausch von privaten Nummern und der königlich-kühlen Zusage ihrer Schwester, mit ihrem neuen, fast schon lächerlich dankbaren Verehrer einmal auf ein Bier zu gehen, mit anhörte. Zum ersten Mal seit mehr als drei Wochen musste sie lächeln. Sie sah sich selbst, wie sie von Odette ein kleines Kind mit nussbraunen Wuschelhaaren entgegennahm, um es zu halten, während dessen Mutter gekonnt eine völlig verzogene Holztür öffnete und zur Kamera griff.

Dann öffnete sie das Küchenfenster, um wieder einmal ordentlich durchzulüften.

KINDERGEFÄNGNIS und andere verlassene Orte

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