Читать книгу KINDERGEFÄNGNIS und andere verlassene Orte - Группа авторов - Страница 14
Geschichtenerzähler | Claudia Heyder
ОглавлениеEs gibt Tage, an denen die Menschen die Orientierung verlieren. Wenn alles gleich aussieht, sobald der braune Staub sich durch jede Ritze des Mauerwerks frisst. Aber es gibt auch Zeiten, da hängt der Staub nur wie ein Unheil bringendes Tuch über uns. Es soll Kinder geben, die haben die Sonne noch niemals gesehen. Das wenige Licht, das zu uns durchdringt, verwandelte alles in eine karge Landschaft. Einzig die Bäume versuchen der stetigen Dämmerung zu trotzen und wir sind dankbar für die Luft, die wir atmen dürfen, selbst mit dem erdigen Geschmack auf der Zunge.
Mein Blick wandert von oben nach unten. Es besteht kein Zweifel, dass die schweren Stiefel an meinen Füßen die schlammige Farbe des Himmels angenommen haben. Vielleicht zur Tarnung. Zu spät!
»Los, weiter.« Ein heftiger Schlag mit dem Gewehrkolben holt mich aus meinen Gedanken. Der Schmerz bohrt sich in meinen Rücken, als ich mich in Bewegung setze, so wie ein Dutzend meiner Kameraden. Sie kamen am frühen Abend, trieben die jungen Männer wie Vieh in die Mitte des Dorfplatzes. Meine frisch geputzten Schuhe glänzten da noch, unübersehbar wie eine Bordelltür. Nicht dass ich wüsste, was ein Bordell ist, aber Großvater erzählte immer von dieser verlockend glitzernden Tür. Es ist nicht das erste Mal, dass uns der Trupp oder die Brut, wie wir sie nennen, holt. Jedes Jahr im Herbst überrennen sie das Dorf, suchen nach billigen Arbeitskräften, besser gesagt Sklaven für ihre Drecksarbeit. Denn dafür, dass wir unser Leben riskieren, ist der Lohn mehr als kläglich und eine Wahl haben wir nie.
Wir marschieren zwei Tage und vier Mal bebt die Erde. Zum Glück sind wir auf offener Fläche unterwegs. Die wenigen Blätter an den Bäumen segeln zu Boden und in den kälter werdenden Nächten rücken wir dichter zusammen. Am Morgen erklimmen wir meterhohes Betongeröll, und als unser Blick über die zerfallene Stadt schweift, macht sich eine gewisse Melancholie breit. Wir wissen alle, was wir verloren haben.
Damals, als ein Beben ungeahnten Ausmaßes die Erde aus dem Gleichgewicht brachte und Asche den Himmel verdunkelte. Die Alten sagen, wir waren zu gierig, hätten zu tief gegraben und haben die Welt in ihrem Ursprung mehr als einmal erschüttert. Andere meinen, wir wären zu laut gewesen. Es spielt keine Rolle, denn von Zeit zu Zeit bewegt sich die Erde. Mal heftig und dröhnend, dann wieder zaghaft wie ein Grashalm.
Plötzlich vernehme ich ein Summen, erkenne eine Melodie. Ich suche nach dem Vollidioten, der es wagt. Sam steht nur eine Armlänge vor mir. Ohne zu zögern, boxe ich in seine Seite und fauche ihn an: »Hör auf oder willst du uns alle umbringen!« Er verstummt, dreht sich zu mir. Ich verstehe nicht, was mir der starre Blick und sein zuckender Oberlippenschnauzer sagen wollen. Er weiß doch, dass jegliche Art von Musik mit dem Tod bestraft wird. Da ist es egal, wie wenige wir noch sind. Die Gesetze der Brut sind bindend für alle, erst recht, wenn wir mit ihnen zusammen Beute greifen. Ein Befehl dröhnt über unsere Köpfe hinweg und wir machen uns daran, die Flut an Gestein zu überqueren, immer auf der Suche nach einem brauchbaren Objekt.
Gegen Mittag marschieren wir durch menschenleere Straßen. Die Brut nimmt uns in die Mitte, sie halten die Gewehre im Anschlag und beobachten wachsam die Umgebung. Sie beschützen uns nicht aus Nächstenliebe, lebendig sind wir mehr wert, denn niemand kennt die alten maroden Häuser so gut wie wir. Unsereins geht an die verlassenen Orte, zu denen sich nicht mal der Teufel traut. So kamen wir zu unserem Namen, Maulwürfe.
Eine Windböe weht die Straße entlang, wirbelt Staub auf, als wir unser Ziel erreichen. Aus dem Grau taucht vor uns eine einst prachtvolle Jugendstilvilla auf, ihr historischer Charme wirkt in dieser Gegend befremdlich. Bei erster Betrachtung gut erhalten, scheint nur das Dach etwas beschädigt. Doch wir wissen es besser. Mein Blick fällt auf die breite Holzflügeltür im Eingang, die sich in diesem Augenblick einen Spaltbreit öffnet. Ein Schatten huscht durch die Öffnung. Alle Gewehre zielen in seine Richtung. Unruhe breitet sich in der Truppe aus. Ich höre diverse Befehle, weiß nicht, für wen sie bestimmt sind. Vernehme die Schreie meiner eigenen Leute, die dem Schatten zurufen, stehen zu bleiben. Er zögert, sieht uns an, entscheidet sich und läuft los. Mehrere Kugeln treffen den Jungen in die Brust, seine dünnen Arme fliegen nach oben, er fällt nach hinten, zuckt ein letztes Mal und bleibt reglos liegen. Für einen Moment herrscht Stille, die Gedanken in meinem Kopf überschlagen sich, bis der Befehlshaber auf mich und Sam zeigt. »Du und du schafft das aus dem Weg und für die anderen eine Viertelstunde Pause.« Ich werfe Sam einen Blick zu, gehe vorweg, betrete den verwilderten Vorgarten. Wir bleiben vor dem durchlöcherten Körper stehen. Der Junge hat keine zehn Winter erlebt, seine starren Augen zum Haus gerichtet. Ich weiß nicht, was er dort sucht oder zu finden glaubt. Meine Finger schließen seine Lider. Sam greift nach seinen Beinen, ich nach den Armen. Wir heben ihn an, sein Kopf fällt nach hinten, Blut tropft von der abgewetzten Kleidung. Ich halte Ausschau nach was Brauchbaren, aber er besitzt nichts, trägt nicht mal Schuhe. Wir legen ihn ein paar Meter weiter unter einer alten Linde ab und Sam zieht ohne Vorwarnung seine Mütze. Ein verstohlener Blick zurück zur Truppe lässt mich nervös werden. »Sam, hör auf und komm endlich.« Doch er denkt gar nicht daran, stattdessen beginnt er leise, vor sich hin zu singen. Ich hoffe inständig, dass uns niemand beobachtet. Wir spüren für einen kurzen Moment die Vibration unter unseren Füßen. Stille greift um sich. Zum Refrain kommt mein Freund nicht. Ohne Vorwarnung reiße ich ihm die Mütze aus der Hand, platziere sie auf seinem Kopf und bugsiere ihn ziemlich unwirsch zur Truppe zurück.
Noch bevor ich meine Wasserflasche ausgetrunken habe, werden wir ins Haus kommandiert. Die Brut schickt niemals die eigenen Leute hinein, viel zu kostbar ist ihre Sippschaft, die für Sicherheit, Wohlstand und Nachwuchs sorgt. Wenn nicht mein Leben von diesem maroden Gebäude abhinge und ich fast alles an gefundenen Sachen abgeben müsste, könnte der Begriff Schatzsucher beinahe schillernd klingen. In einer Welt, die nichts Strahlendes zu bieten hat.
Mit beiden Händen stemmt der Kamerad vor mir die hölzerne Flügeltür auf. Das stattliche Foyer liegt beruhigend, für manche sogar einladend vor uns. Der Boden sowie die wenigen Möbel und die Treppe nach oben sind von einer zentimeterdicken Staubschicht bedeckt. Farben oder Muster der Tapete können wir kaum noch ausmachen, lediglich die Fußspuren des Jungen auf dem grau-braunen Fußboden sind zu erkennen. Sie führen die Stufen hinunter. Ich hoffe, dass uns weitere menschliche Begegnungen erspart bleiben. Fast lautlos betrete ich die Halle, warte einen Augenblick, bevor ich den Brüdern hinter mir ein Zeichen gebe. Unsere Schritte werden von den staubgepuderten Wänden geschluckt. Mehrere Männer verschwinden in den unteren Zimmern, die vom Foyer abzweigen. Sam, ich und der Rest der Kameraden besteigen die Treppe, mit der Angst, sie könnte jederzeit zusammenbrechen. Die nächsten Minuten sind wir damit beschäftigt, die Substanz des Hauses als einigermaßen sicher zu beurteilen. Während unsere Augen nach brauchbaren Objekten Ausschau halten, schallt mehrmals das Wort »Sicher« durchs Gebäude. Was wir finden und tragen können, wird nach draußen geschafft. Der Trupp im Vorgarten inspiziert die Beute, bewertet, was zweckdienlich, vielleicht sogar wertvoll ist. Vom Haufen der nutzlosen Dinge dürfen wir uns später etwas aussuchen.
Am Ende des Gangs betreten Sam und ich einen durch die vielen Fenster lichtdurchfluteten Raum. Die Glasscherben der geplatzten Scheiben knirschen unter unseren Stiefeln. Mit seinem Jackenärmel wischt Sam eine dicke Dreckschicht von den Bildern an der Wand. Er nimmt sie ab. Farbige Kunstwerke werden auf dem Markt einiges bringen. Nur nicht für uns. In einer Kommode entdecke ich Fotos von unterschiedlichen Fahrzeugen. Früher konnten sich die Menschen damit fortbewegen. Hier und da stehen verschiedene Modelle verlassen auf den Straßen. Die Bilder verschwinden in der Innentasche meiner Jacke. Mein Blick fällt auf eine Holztruhe in der Ecke. Der Staub rieselt, als ich sie öffne. Mein Freund stellt die Rahmen beiseite und greift neugierig in die Kiste. Zum Vorschein kommt ein sonderbar aussehendes Etwas. Länglich, schmal, aus Metall, mit eckigen Löchern. Sams Gesicht erhellt sich. Seine Augen leuchten, so als wisse er sehr genau, was er da in den Händen hält. Er blickt auf. »Lukas, weißt du, was das ist?« Beschämt, weil ich so vieles aus der alten Zeit nicht erkenne und gleichzeitig wütend fauche ich ihn an: »Natürlich nicht!«
»Dies, mein Freund, ist ein Musikinstrument.« Er streift mit den Fingern fast ehrfürchtig über unseren Fund. »Es ist eine Mundharmonika. Mein Vater hatte auch so eine.«
Ich fühle die Panik, die wie eine Lavawelle durch meinen Körper rollt. »Musik«, bricht es aus mir heraus. »Verdammt, Sam, leg es sofort zurück«, schreie ich ihn an. Ich mache mir nicht mal die Mühe, meine Angst zu verbergen. Er starrt auf das Monster und ich spüre sein Zögern. Doch zu meiner Erleichterung folgt er meinem Befehl. Mit einem dumpfen Schlag klappt der Deckel zu. Wir bemerken das leichte Beben, versuchen ruhig zu bleiben. Putz rieselt von der Decke. Nach wenigen Sekunden ist alles vorbei. Wieder hallt das Wort »Sicher« durch die Räume. Sam kommt näher. »Weiß du, warum die Brut so eine Angst vor Musik, vor Gesang hat?«
Natürlich wusste ich es, wir alle teilten diese Furcht. Für viele berechtigt, fanden andere die Theorie, dass eine weltweite musikalische Gegenwehr unsere Erde zum Beben gebracht hätte, einfach lächerlich. Ein Märchen aus vergangenen Tagen. Fakt ist, dass nach diesem globalen Protestgesang nicht mehr ein Stein auf dem anderen steht. Zufall? Vielleicht!
Natürlich wurde gesungen, im Geheimen hatte jedes Dorf seine Lieder. Und wenn wir als Kinder mit den Frauen sangen, entstand eine ganz eigene Atmosphäre, eine Kraft, die Freude und zugleich Traurigkeit auslöste.
Mein Blick schweift durch den Raum, ich frage mich, was mir dieses Gemäuer erzählen will. Ich war schon an unzähligen verlassenen Orten, hatte ihre Vergangenheit entdeckt. Für mich sind sie Geschichtenerzähler und manchmal schreibe ich das Erzählte nieder. Doch diese Geschichte hier bereitet mir Sorge. Ich zucke zusammen, als Sam näher kommt und fast väterlich eine Hand auf meine Schulter legt.
»Melodien verbinden, stärken, geben Mut und beenden. Und sie«, sein Kopf nickt zum zerbrochenen Fenster, »haben Angst davor. Wovor, Lukas, hast du Angst?«
Mit dieser Frage lässt er mich los, klemmt sich die Gemälde unter den Arm und verschwindet. Verstohlen blicke ich zurück zur Truhe, mache mir Gedanken, was für Menschen diese Ruine mal bewohnt haben. Einen Moment lehne ich mich an die dreckige Wand und lausche, doch mehr als dass wir die Räume ihrer Seele berauben, ist nicht zu hören.
Eine Stunde später ist das Haus leer geräumt. Beim Anblick der Last denke ich wehmütig an den anstrengenden Rückweg. Längst haben wir uns unseren Lohn ausgesucht. Vereinzelte Sonnenstrahlen brechen durch das dicke Grau. In meiner Hand halte ich ein Holzkästchen. Die Größe passt perfekt in meine Tasche. Domino steht darauf. Eine Beschreibung gibt es nicht. Die rechteckigen schwarzen Steine mit den weißen Punkten stelle ich mit etwas Abstand hintereinander auf, so als wenn wir marschierten. Ich tippe den Ersten an und sehe alle anderen fallen.
Ein Befehl unterbricht meine kreative Pause. Wir schnüren unser Gepäck und reihen uns auf. Es ist später Nachmittag, als wir die Straße zurückmarschieren. Ich suche in der Truppe nach Sam und entdecke ihn ganz vorne. Ich frage mich, was er sich ausgesucht hat? Ich habe die Frage kaum zu Ende gedacht, als die schwere Luft einen merkwürdigen Ton über unsere Köpfe hinweg trägt. Ein Klang, der mir die Nackenhaare aufstellt. Es ist eine Melodie, die ich kenne, die wir alle kennen und die plötzlich so starke Gefühle in mir auslöst. Erinnerungen, Wünsche und Träume vermengen sich und sprudeln nach oben. Und als der erste Kamerad den Refrain anstimmt, über grüne Wälder, von rauschenden Bächen und saftigen Bergwiesen, singe ich mit, zuerst leise, dann immer lauter, so wie meine Brüder neben mir. Ich empfinde eine nicht gekannte Verbundenheit. Ich weiß, dass ich Angst hatte, dies niemals zu erleben. Schreie und Kommandos gehen unter, als wir lauthals singen, vom geliebten Heimatland. Die schwere Last fällt zu Boden und wir marschieren weiter. Warnschüsse sind unter unserem Gesang kaum zu hören. Denn die stille Fassade ist gebrochen und mit den Worten von Bruderschaft fallen die ersten Kameraden neben mir wie Steine meiner Dominokette.
Mein Blick schweift ein letztes Mal zurück zum Haus. Längst hat dieser Ort seine spielerische, musikalische und befreiende Geschichte preisgegeben.