Читать книгу TEXT + KRITIK 229 -Thomas Hürlimann - Группа авторов - Страница 10
Verschränkte Sterbeszenen
ОглавлениеIn dieser Schilderung der Gefühle und Gedanken in Anbetracht des Sterbeprozesses verschränken sich die Erinnerungspassagen der Erzählungen mit den Erlebnissen und dem Schreiben nach dem Tod des Bruders: In der Rede vom zeitlichen Vakuum des Sterbehauses hallt die mystische Entrückung des Jugendlichen in der Klosterkirche nach. Auf die Alkoholexzesse, mit denen sich der Protagonist nach den Krankenhausbesuchen zu erden versucht, antwortet das spätere Trinken in Kreuzberg. Die Figur des ›Doktors‹, dessen Reden der Protagonist für seinen sterbenden Bruder erfand, um ihn abzulenken, tritt ihm dort wieder gegenüber.
Der ›Doktor‹ ist somit zugleich ein unheimlicher Wiedergänger aus dem Krankenhaus und der imaginäre Stichwortgeber eines literarischen Initiationsprozesses: Vor dem Tod des Bruders hatte der Protagonist die Gespräche mit dem ›Doktor‹ erfunden, um den Sterbenden und sich selbst von der Krankenhaussituation zu entlasten. Nach dessen Tod taucht die Figur auf, wenn der Erzähler dieses Sterben umkreist, über das er eigentlich »schreiben wollte und nicht schreiben kann«: Aus der Erlebnisperspektive des Protagonisten wird die Schreibperspektive des Erzählers.
Der kranke Bruder hatte die Doktorberichte des Protagonisten durchschaut, befand, dieser könne »solche Sätze prima nachbeten, erfinden kannst du sie nicht«. Die Todeserfahrung scheint dies zu ändern: Auf die Erzählungen mit den autobiografischen Erinnerungen antwortet die erfundene Geschichte »Die Tessinerin«, deren motivische und affektive Grundierung – vom drastischen physischen Verfall bis zur feindseligen Dorfgemeinschaft – freilich als künstlerische Transposition des zuvor autobiografisch Geschilderten transparent wird. Auch in Selbstkommentaren Hürlimanns figuriert der Tod des Bruders als Schlüsselmoment der Entwicklung zum Schriftsteller.11
Ganz unrecht hat der Bruder dennoch nicht: Zwar wird Hürlimann ein sprachlich versiertes und thematisch komplexes Werk gelingen. Dass der Bruder dem Protagonisten vorwirft, er könne nur »nachbeten«, nicht aber »erfinden«, ist dennoch interessant: Zumindest die längeren Prosatexte Hürlimanns werden sich weiterhin alle um die eigene Familiengeschichte drehen. Sie kommen auch mehrfach auf den Tod des Bruders zurück. So zeichnet die Novelle »Das Gartenhaus« (1989) Trauerrituale der Eltern nach, die im Verlauf des Textes geradezu groteske Züge annehmen. Ebenfalls ist der Tod des Bruders in »Der grosse Kater« ein wichtiges Motiv.
Gerade im Hinblick auf die Art und Weise des schriftstellerischen Umgangs mit dieser Familienbiografie ist dieser erste Erzählband aber auch insofern wegweisend, als Hürlimann sich nicht nach der Unterscheidung richtet, die der Bruder trifft. Er entwirft vielmehr mit der Kopplung der autobiografischen Geschichten und der Erzählung über die sterbende »Tessinerin« bereits hier das Programm einer dezidierten Verschränkung von autobiografischem und fiktivem Erzählen: So selten sich der Erzähler Hürlimann von der eigenen Familiengeschichte lösen wird, so wenig verpflichtet er sich jemals zu einer buchstäblich zu verstehenden Rekonstruktion.
Die Kondensierung und Übersteigerung ins Fabel-, manchmal Parabelhafte hat dem Autor seitens seiner Verwandtschaft mehrfach Vorwürfe der Verfälschung von Tatsachen eingebracht.12 Das Erzählen aus der Familiengeschichte ist bei Hürlimann jedoch kein Selbstzweck. Sie dient als Prisma zur literarischen Auseinandersetzung etwa, wie hier, mit der Thematik des Sterbens oder zur Darstellung von Zeitgeschichte. Die Behandlung gesellschaftlich relevanter historischer Zusammenhänge ist bei Hürlimann stichhaltig. In Bezug auf die eigene Familiengeschichte, die künstlerischen Zwecken dient, gesteht er sich hingegen die Lizenz (und die daher gelegentlich notwendige Frechheit) zum freien Fabulieren zu.13