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Autobiografische Reminiszenzen

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Der erste Text »Begegnung« beginnt mit einer Parabel, die sich am Ende der Lektüre als sehr bedeutsam herausstellen wird, zunächst aber undurchsichtig bleibt: Einerseits ist von einem »Berggänger« die Rede, der »seine Kraft und die Nahrung, die er im Rucksack trägt, die noch zu bewältigende Linie und einen eventuellen Wetterumschlag immer bedenkend, hinauf zum Gipfel« steigt. Andererseits wird der Gang eines Wanderers beschrieben, der ruhig und beständig schreitet. Dem Bergsteiger bleibe, auf dem Gipfel angekommen, »nur die Umkehr übrig oder der Tod«, der Wanderer dagegen messe seinen Erfolg alleine an seinem Vorankommen im Raum. Von beiden unterschieden sich die »Wahnkranken und Schwachsinnigen«, die »zeitlos und ziellos – ohne auf Körperkräfte achtzugeben – über Land rennen« (»Die Tessinerin«, S. 7).2

Zu welchem Typus der nun auftretende Ich-Erzähler gehört, ist zunächst unklar. Gewisse Ähnlichkeiten scheint er fürs Erste mit Typus drei, dem Wahnsinnigen, zu haben, wenn er sich in der nun einsetzenden Geschichte nach einem heißen Sommertag in einer Westberliner Kneipe einen ziemlichen Rausch antrinkt: Mit steigendem Alkoholpegel werden die Milieubeschreibungen surrealer, irgendwann taucht ein zwielichtiger ›Doktor‹ (S. 17) auf, von dem unklar bleibt, ob der Protagonist und er sich schon länger oder aber überhaupt nicht kennen. Es bricht einiger Tumult aus, der Protagonist betrinkt sich weiter, erbricht sich und macht sich schließlich im Morgengrauen auf den Nachhauseweg.

Wesentlich übersichtlicher geht es im zweiten Text zu, in dem sich Hürlimanns auch späteres Faible für das verfremdende Spiel mit der eigenen Selbst- und Familienbiografie abzeichnet: »Schweizerreise in einem Ford« erzählt von den gemeinsamen Reisen der Eltern mit den Kindern im neu gekauften Auto. Dem innerschweizerisch-katholischen Milieu entsprechend wird der Wagen zuallererst vom Stadtpfarrer gesegnet. Gewissermaßen im polierten Chromstahl des Autos erscheint das Zerrbild einer idyllischen Schweiz der 1950er und 1960er Jahre, in der sich ein autoritärer Vater in den betont aufgeräumten Verhältnissen des Landes bestens auskennt. Beim Besuch des Parlamentssitzes in Bern kann er die unterschiedlichen Personalgruppen zuordnen: »Das sei ein Portier, sagte der Vater leise, die Parlamentsherren trügen keine Uniform.« (S. 32) Auch in allen anderen Belangen weiß er Bescheid: »Theres, sagte der Vater, so früh am Morgen sind die Bahnhofstoiletten noch sauber.« (S. 25)

Der Vater des Autors, Hans Hürlimann, war zur Handlungszeit der Geschichte Regierungsrat für die christlich-konservative CVP im innerschweizerischen Kanton Zug. Als der Band »Die Tessinerin« erschien, hatte Hans Hürlimann eine steile politische Karriere hinter sich: Er war in den eidgenössischen Ständerat, dann sogar in die Landesregierunggewählt worden. Auf seine frühe Ambition und seinen Ordnungssinn spielt in der Geschichte lakonisch an, dass sich der Vater schon Jahre zuvor mit den Uniformen des Sicherheitspersonals vertraut gemacht hatte. Im Roman »Der grosse Kater« (1998) wird Hürlimann ihn als verbissenen Emporkömmling zeichnen. Anders gestaltet sich der Blick auf die Mutter, um deren Biografie sich die Fabulationen im Roman »Vierzig Rosen« (2006) spinnen: Sie erfährt, wie in den frühen Erzählungen, eine Darstellung als feinsinnige und liebenswerte Person.

Eine scheinbare Randbemerkung aus »Schweizerreise in einem Ford« wird sich für die Gesamtkonzeption des Erzählbands als sehr bedeutsam herausstellen: Gegen Schluss der Geschichte sagt der Ich-Erzähler, er habe über die Ausfahrten im Auto »vor einem Jahr mit seinem Bruder« geredet, als dieser »im Sterben lag« (S. 35).

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