Читать книгу TEXT + KRITIK 229 -Thomas Hürlimann - Группа авторов - Страница 9
Szenarien metaphysischer Entrückung
Оглавление»Die Haare der Schönheit«, die fünfte Geschichte, schildert, wie der Protagonist, wiederum im Erwachsenenalter, tagsüber auf dem unwirtlichen Balkon einer nicht näher bezeichneten Institution raucht. Abends besucht er Kneipen, in denen er sich haltlos betrinkt. Wird das Raucher-Setting auch hier erst nur schematisch geschildert, folgt dies jedoch einem anderen erzählerischen Kalkül als zuvor beim Dorf: Der Akzent liegt hier auf der Anonymität und Fremdheit der Institution. Neben der titelgebenden ›Schönheit‹ tritt auch der merkwürdige ›Doktor‹ (S. 93) auf den Balkon. Später im Text werden teils existenzielle Betrachtungen, teils eher abstruse Überlegungen von ihm wiedergegeben.
Ob es sich wirklich um einen Doktor handelt, bleibt unklar. Er habe mit dem Bruder beschlossen, ihn so zu nennen. Im Zusammenhang der Erwähnung des Bruders wird nun deutlich, dass die Raucherpausen bei Besuchen des Protagonisten in einem Krankenhaus stattfinden. Dort unterzieht sich der Bruder einer Chemotherapie (die, wie man aus der Bemerkung in der früheren Geschichte weiß, erfolglos bleiben wird). Über die Besuche sagt der Bruder am Schluss der Geschichte: »Tag für Tag erzählst du mir, was dir der Doktor auf dem Balkon gesagt hat. Du Schlawiner. Du tust es mir zuliebe, ich weiß. Aber es fällt dir mit jedem Tag schwerer, Sätze, wie sie der Doktor gebracht hat, zu erfinden. Solche Sätze kann einer wie du prima nachbeten, erfinden kannst du sie nicht.« (S. 109)
Der Protagonist hat sich die Reden des besagten ›Doktors‹ offenbar beim Rauchen ausgedacht, um seinen schwerkranken Bruder und sich bei Laune zu halten (ein ›Schlawiner‹ ist ein ›Frechdachs‹). Wie viele der zitierten Reden tatsächlich vom ›Doktor‹ stammen, ist unklar; dass der Erzähler ihn in der Kreuzberger Kneipe betrunken halluziniert, hingegen wahrscheinlich.
Die letzte Erzählung des Bandes knüpft an das Todesthema an: Die Titelgeschichte »Die Tessinerin« erzählt vom langsamen Sterben einer Frau. Hier ist erstmals keine direkte autobiografische Anspielung erkennbar: Das Erzählen löst sich aus dem zuvor abgezirkelten Kosmos und gewinnt neue Konturen. Diesem eigenständigen Profil der Geschichte entspricht, dass Hürlimann sie später in überarbeiteter Fassung als Einzeltext neu erscheinen ließ.10
Zugleich liegt gerade in dieser Erzählung der poetologische Schlüssel der Sammlung: Nachdem die körperlichen Verfallsprozesse der Protagonistin akribisch beschrieben wurden – ebenso die Anteilnahme ihres Mannes, die Versuche des Arztes, ihre Schmerzen zu lindern, und das spöttische Gerede einer auch hier feindlichen Dorfgemeinschaft –, wird eine räsonierende Passage eingeschoben. Darin heißt es: »Wer in einem Sterbehaus an einem Sterbebett jemals gesessen hat, weiß, daß unsere Uhrzeit ihre selbstverständliche Gültigkeit verlieren kann. Wer in einem Sterbehaus an einem Sterbebett sitzt, (…) der erfährt, ob er nun der Euteler Lehrer sei am Bett seiner Frau oder ich am Bett meines Bruders (worüber ich schreiben wollte und nicht schreiben kann), daß ein sterbender Mensch einem fremd wird, weil er Stille erzeugt.« (S. 129)
In der Passage wird weiter ausgeführt, wie der Sterbeprozess den Dabeisitzenden in seinen Bann zieht, dass dieser die Situation aber auch immer wieder fliehen will: »(M)an halte, denkt man, diese Stille nicht aus, will schreien, etwas tun, vom Sterben und dem Tod nichts wissen.« (S. 130)