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Thomas Hürlimann

Coco Chanel im Kloster 1

Ein Saal – und was für ein Saal! Er war mit einem grünlichgrauen Linoleum belegt und enthielt weder eine Bank noch einen Stuhl, schon gar kein Bett, ja nicht einmal einen Schreibtisch oder eine Betbank, keine Möbel, keine Bilder – da war einfach nichts. Nichts als Leere. Leere und eine düstere Dämmerung aus weißen Kugellampen. Nur stehen konnte man hier – oder knien. Knien und beten. Oder auf den Knien den Boden waschen. Im unteren Teil der hohen Wände waren lauter Türen, und schon hätte ich nicht mehr sagen können, durch welche wir die Präfektur betreten hatten. Waren es Schränke für Akten, für Aufsätze, für Matura-Prüfungen? Irgendwoher tickte es. Da musste die Zeit eingeschlossen sein – als ließe der Heilige nur die Ewigkeit gelten. Aber dann erklang ein dünnes Bimmeln, und ich gewann den Eindruck, dass selbst ein Heiliger die Zeit nicht loswurde. Reflexhaft griff ich nach Mimis Autohandschuh. Wir hatten – ganz deutlich – ein Schnaufen gehört. War hinter dieser Tür ein Tier eingesperrt? Oder ein wilder Mensch? Atemlos lauschten wir. Tatsächlich, da drin schnaufte ein Lebewesen. Ob wir es freilassen sollten? Besser warteten wir, bis der Heilige kam – ihm konnten wir die Geräusche melden. Nur: der Heilige kam nicht. Der ließ uns stehen. Und so ganz allmählich begann ich an seiner Heiligkeit zu zweifeln, trotz den Worten des Vaters. Schließlich hielt ich es nicht mehr aus – auf leisen Sohlen, die Beine vorsichtig anhebend, ging ich quer durch den weiten Saal in eine Fensternische, hielt die Hände wie Scheuklappen vors Gesicht, sah hinab in einen frisch verschneiten Park. Licht aus vielen Fenstern fiel auf die Kronen kahler Bäume, auf weiße Beete, Wege, Büsche und einen runden Brunnen mit schwarzem Wasser. Maria zum Schnee – der Name passte! Zu Hause, im Unterland, waren die Platanen an der Seepromenade noch belaubt, hier oben jedoch, im voralpinen Talkessel, begann schon der Winter. Als sich Mimi an meinen Rücken schmiegte, um ebenfalls hinabzublicken, spürte ich am Schulterblatt ihr BH-Körbchen. Herrlich! Auch in der Duftnote blieb sie Coco treu, es war Chanel N°5, ich würde es vermissen.

Da! wieder ein Schrecken! Der sterbende Jesus, der über uns am Kreuz hing, schien sich auf uns herabstürzen zu wollen. Wie ein Turmspringer auf dem Fünfmeterbrett unserer Badeanstalt streckte er die Arme nach hinten, drückte den Kopf in den Nacken und den Rumpf nach vorn ‒ als wollte er sich von den Nägeln reißen. Vorsichtig gingen wir rückwärts, uns an den Händen haltend, die Augen gebannt auf das Kreuz und den sprungbereiten Jesus gerichtet … und erstarrten. Im Nacken trafen uns heiße Atemstöße. Wie Fäuste. Fäuste aus heißer Luft –

der Heilige.

Der Heilige!

Lautlos musste er einem der Schränke entschwebt sein, wie in Zeitlupe drehten wir uns nach ihm um, und das Erste, was ich sah, waren die gewaltigen, in seitlich abgelatschten Sandalen steckenden nackten weißen Füße. Zehennägel mit Trauerrändern, auf den Gliedern schwarze Haarbüschel – wenn Mimi diese Füße erblickte, wurde ihr übel. Den Kopf zwischen die Schultern duckend, wandte ich den Blick nach oben, und kaum zu glauben, der Heilige hatte so lange schwarze seidene Wimpern wie Mimi. Aber sein Geruch, du lieber Himmel! Er stank so enorm nach Ziegenbock und Weihrauch, dass Mimi und ich verzweifelt versuchten, nur gerade das Nötigste an Luft hereinzuholen – was nun leider zu einer Slapstick-Nummer führte. Mimi und ich griffen zum Taschentuch, doch im selben Moment wurde uns bewusst, dass es der Heilige als Affront empfinden könnte, wenn wir beide, noch dazu gleichzeitig, wie Synchronschwimmer, ein Tuch an die Nase hielten. Also ließen wir’s verschwinden, sie in ihren Blusenärmel, ich in die Manteltasche. Das heißt, nicht ganz! Da auch Mimi das Tuch wegsteckte, konnte ich es ja wieder hervorziehen, dachte ich, und zu dumm, Mimi hatte in derselben Sekunde die gleiche Überlegung angestellt, sodass wir am Ende aller Anstrengungen beide die Nase ins Taschentuch drückten.

»Hochwürdigster Herr Pater«, ließ sich Mimi gedämpft vernehmen, »ich bin Madame Goldau. Leider haben wir uns ein wenig verspätet.«

»Göldau?«

»Goldau«, näselte sie, »mit O!« Und auf einmal unterlief der sonst so parkettsicheren Mimi ein Fehler nach dem andern. »In protestantischen Kantonen«, fuhr sie fort, »sind die Straßen eindeutig gepflegter als in den katholischen. Zum Glück ist uns ein junger Gentleman zu Hilfe gekommen, sonst wären wir im Graben zugeschneit worden – mit so einer Wetterlage rechnet man ja nicht, in den tieferen Regionen.« Dem folgte ein Seufzer und ein Klimpern ihrer schwarzen Halbmonde. Ach, Mimi! Vor einem Heiligen kokettiert man nicht! Und erst deine Wortwahl! Ein wenig verspätet. Junger Gentleman.Gepflegtere Straßen in protestantischen Kantonen. Dem Heiligen blähte es den Brustkasten, sein Schnauben wurde lauter, sein Atem schwüler, fast dampfig. »Und dann dieser Vogelmensch!«, setzte Mimi noch einen drauf, weiterhin ihr Tüchlein im Gesicht, »puh, das war vielleicht eine Nummer! Völlig meschugge. Hat die ganze Zeit nur gezwitschert und gepfiffen, wie eine Drossel.«

»Die angebliche Drössel …«

»Drossel«, korrigierte sie.

»Drössel«, beharrte er, »ist ein Armer im Geiste, der im Stift Unserer Lieben Frau Öbdach und Bröt gefunden hat.«

»Also bei uns heißt es Obdach und Brot, meinst du nicht auch, Arthi-Darling?!«

Wenigstens ersparte mir der Heilige eine Antwort. »Fröilein«, rief er entrüstet, »im Stift Unserer Lieben Frau gehört der Buchstabe O allein Gott dem Herrn!«

»Pardon«, unterbrach Mimi den Heiligen, »so charmant es gemeint sein mag, ich bin keine Demoiselle. Ich bin Arthis Mutter.«

»Was«, entfuhr es ihm, »seine Mutter sind Sie?!«

»Ja«, hauchte Mimi, »Arthi ist mein Söhn, äh, Sohn.«

Er schien es nicht zu fassen. »Der Bube ist nicht Ihr Bruder?«

»Nein. Aber verwandt sind wir schon, sogar blutsverwandt, nicht wahr, Arthi-Darling?«

Es reichte mir im Angesicht des Heiligen nur zu einem Lächeln, der Mut zu einem Ja ging mir ab.

»Darf ich jetzt zum Wesentlichen kommen«, fragte Mimi gereizt. »Ihr Vogel-, Pardon, Ihr Pfortenmensch konnte uns leider nicht garantieren, dass Arthi einen Kühlschrank zugewiesen bekommt. Arthi ist kein besonders guter Esser, müssen Sie wissen. Deshalb habe ich mir erlaubt, ihm ein paar von seinen Lieblingsspeisen einpacken zu lassen, unter anderem eine Wildpastete.«

Auf so einen hatten sie hier gewartet – Kühlschrank Lieblingsspeise Wildpastete! Madonna, flehte ich, bitte verhindere, dass Mimi ihr Täschchen aufknipst … Und schon begann sie hektisch darin zu wühlen. »Nach Ansicht meines Gatten«, plapperte sie, »pflegen die hochwürdigen Herren dem Himmel ein Rauchopfer darzubringen. Könnte mir vorstellen, dass der Duft dieser Havanna auch dem lieben Gott gefällt.«

Die Augen des Heiligen wurden zu Pingpongbällen, er hob abwehrend seine Pranke und rief: »Weg mit dem Stumpen, Mutter Göldau!«

»Wie Sie meinen«, erwiderte Mimi. »Wir wollten sowieso noch beim Pater Rektor vorbeischauen. Er steht im Ruf, ein gebildeter Herr zu sein und wird eine Havanna zu schätzen wissen. Ist das die Tür nach draußen? Oder landet man hier im Besenschrank?«

Mimi riss eine der vielen Türen auf – und aus dem Schrank glotzte das seekranke Gesicht eines jüngeren Paters. Er saß in seiner Koje an einem Schreibpult, wurde von einem Lämpchen mit grüner Haube beschienen und hielt einen Federkiel in der Rechten. Mimi wollte durch die nächste Tür entkommen, und kaum zu glauben, auch in diesem Schrank steckte ein Pater! Er kniete auf einer Betbank, trug einen Kopfhörer mit dicken runden Ohrenklappen, griff nach dem Türknauf, knallte sich weg. Mimi kicherte. Und mir ging ein Licht auf. Der Vater hatte gegen seine Frau entschieden, Maria Schnee sei die richtige Schule für mich, hier würden sie einen Mann aus mir machen, aber typisch Mimi! – dank ihrem Pannentalent war es ihr gelungen, ein Schlamassel anzurichten, das zu ihren Gunsten ausging. »Arthi-Darling«, flötete sie mit einem entzückenden Lächeln, »würdest du so liebenswürdig sein, mich nach Hause zu begleiten? Ich denke, das Klöster ist nichts für uns.«

Hätte ich Mimi den Arm gegeben ‒ mein Leben wäre anders verlaufen. Aber ich habe sie ziehen lassen, ich wollte hier zum Mann gemacht werden und sah kopfschüttelnd zu, wie die Spitzenabsätze ihrer Stöckelschuhe lauter kleine Us in den Linoleumbelag stachen, winzige Teufelshufe, die wie eine Fährte unter einer der vielen Türen verschwanden. Ich ahnte es ‒ die Narbenspur im Linoleum würde nie mehr verheilen …

»Sie hat mir den Böden versaut«, wimmerte der Heilige.

1 Aus einer entstehenden Novelle. Titel für diese Veröffentlichung.

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