Читать книгу TEXT + KRITIK 229 -Thomas Hürlimann - Группа авторов - Страница 13
Die Katze als philosophisches und poetologisches Tier
ОглавлениеThomas Hürlimanns Wappentier ist die Katze. Katzen durchstromern sein literarisches und essayistisches Werk, und sie sind dabei weit mehr als Motiv-, Metaphern- oder Symbolträger. »Der Kater ist aus der Spiegelgasse zu uns gekommen«,1 heißt es in Hürlimanns Opus Magnum »Heimkehr« über Dada, den sprechenden Kater, der »aus dem nahegelegenen Cabaret Voltaire entlaufen«2 ist und zum Alter Ego, »Consigliere«,3 also Ratgeber, und Seelenführer des Protagonisten und verhinderten Schriftstellers Heinrich Übel wird. Diese autoreflexive Spiegelfunktion gilt in Variationen für sämtliche Katzen, die auf samtenen Pfoten klug und instinktsicher und zugleich unberechenbar und widerspenstig durch Hürlimanns Texte tigern. »Obwohl sie friedlich mit uns leben, haben sich Katzen ihre Nachtseite bewahrt. (…) Ich habe eine Katzenseele.«4 So bekennt sich der Autor zum hohen Identifikationspotenzial der felinen Spezies für ihn. Katzen sind in seinem Werk zentrale Akteure, die die Handlung an Schlüsselstellen beeinflussen und in denen sich die grundsätzlichsten biografischen, philosophischen und poetologischen Fragen des Hürlimann’schen Lebens und Schreibensverkörpern. Sie sind geschmeidig-präsente und sich zugleich verweigernd-entziehende Grenzgänger zwischen Biografie und Literatur, zwischen Instinkt und Geist, zwischen Tierreich und Menschenwelt, ja zwischen Leben und Tod, zwischen Diesseits und Jenseits. Sie sind menschenaffin und als »philosophische Tiere«5 im Sinne Nietzsches und als »Borderliner der Transzendenz«6 Lehrmeister des Menschen und des Künstlers Thomas Hürlimann. Sein Werk präsentiert eine in ihrer Vielschichtigkeit und Prägnanz außergewöhnliche und weitreichende Verhandlung von Mensch-Tier-Beziehungen. Roland Borgards, die wichtigste Stimme der Cultural Animal Studies im deutschsprachigen Raum, fragt, »welcher konstitutive Anteil den Tieren an der Literaturproduktion des Menschen zuerkannt werden kann«.7 Thomas Hürlimann gibt darauf eine faszinierende Antwort.
Die erste Hürlimann’sche Katze taucht auf dem Friedhof auf, und die vorerst letzte saust bekifft als Chevy-Chauffeur Heinrich Übels wie ein aus der Spur gelaufener Charon »(a)uf die andere Seite, Herr Doktor, vom Tod ins Leben!«8 – oder vielleicht auch umgekehrt, denn um das Offenhalten dieser Frage kreist der ganze Roman. In der frühen Meisternovelle »Das Gartenhaus« kommt das »Verhängnis«,9 sprich die Handlung in Gang, als beim täglichen Friedhofsbesuch sich die Frau verabschiedet und statt ihrer hinter dem Grabstein des toten Sohnes eine Katze auftaucht, »knochig, zittrig«, den Mann »mit großen Augen« fixierend.10 Das Überleben dieses zugleich bedrohten wie zähen Tieres macht der Oberst, der das Sterben seines Sohnes nicht verhindern konnte, fortan zu seinem Lebensmittelpunkt. Hierzu mobilisiert er militärische Erfahrung und den Instinkt des erfahrenen Troupiers, was seine Frau, je mehr ihm die Friedhofskatze »an sein altes, müdes Herz« wächst,11 als Verrat an ihr, dem verlorenen Sohn und der verweigerten gemeinsamen Trauer erfährt. In Interviews hat Thomas Hürlimann die enge Verbindung dieser fiktionalen Konstellation zu seiner Biografie betont. »Die Katze ist in die Geschichte hineingeschlichen, genau wie sie beschrieben ist (…). Es war Dämmerung, ihre Augen leuchteten. Ich wusste nicht, was für ein Tier das war. Es grub etwas aus. Dann sah ich, dass es eine Katze war.«12 Damit steht das Auftauchen dieser individualistischen Tiere, die neugierig Verstecktes ausbuddeln und mit ihren vermeintlich sieben Leben dem Tode trotzen, in unmittelbarem Zusammenhang zu dem Ursprungstrauma des Hürlimann’schen Schreibens, dem Krebstod des 20-jährigen Bruders Matthias im Jahr 1979, an dessen Grab auf dem Friedhof in Zug die Katze dem Autor begegnete. Katzen umkreisen die großen Themen des Hürlimann’schen Werkes, die Frage nach dem Verhältnis zwischen Leben und Tod, den Kampf gegen die Vergänglichkeit, die Unmöglichkeit des Wieder-Holens und die Unausweichlichkeit der Wiederholung.
Auch Kater Dada führt in dieses Territorium, wenn er Heinrich Übel, wie Thomas Hürlimann am 21. Dezember 1950 geboren, in einer Kreis- und Wiederholungsbewegung an den Anfang des Romans zurückbringt – der letzte elliptische Satz, der den Crash beschreibt, ist wortgleich mit dem Romananfang. Heinrich Übels Unfall auf der Fräcktalbrücke zwischen den Ufern, zwischen väterlicher Fabrik und Friedhof, beschert diesem eine Nahtoderfahrung, die in einer Mischung aus Entkräftung, Schmerzdelirium und Euphorie zu einem entgrenzenden Offenbarungserlebnis wird. Sie hat ihr lebensgeschichtliches Pendant im Unfall des Autors im Mai 1998 auf der Brücke über den Sihlsee, über den Hürlimann gelegentlich in Essays und Interviews nachgedacht hat, in denen immer auch Katzen präsent sind. Auch all die anderen Hürlimann’schen Katzen umschleichen diese Grenzbereiche zwischen Biografie und Fiktion und zwischen Tod und Leben.
Sie springen den Leser schon im Titel von Hürlimanns Vaterroman »Der grosse Kater« an. Der Schweizer Bundespräsident, der im Roman vergeblich gegen den Krebstod seines Sohnes und den eigenen Machtverlust ankämpft, erhielt den Vulgo ›Kater‹ in seiner katholischen Studentenverbindung; Hans Hürlimann wurde dort ›Tiger‹ genannt. Er blieb dem Dorfjungen, der es in Bern ganz nach oben schafft, haften, weil er treffend Persönlichkeit und Politikstil des geschmeidigen und instinktsicheren Machtpolitikers und Charismatikers kennzeichnet. Charisma beruht laut Max Weber auf der Zuschreibung außeralltäglicher oder sogar übernatürlicher Kräfte.13 Solche Kräfte, denen der Bundespräsident seinen Erfolg verdankt, sind konstitutiv mit der Urszene des Romans verbunden. Sie schließt sich in Form der ersten Rückblende auf Kindheit und Karriere direkt an eine Episode an, in welcher der Politiker am Schreibtisch seinen Röntgenblick aktiviert und das kommende Unheil wittert: »Es ging um Leben und Tod, er ahnte es, aber dafür war er gewappnet, das hatte er gelernt, im Kampf gegen IHN, den großen Niemand, das Nichts, war der siebenjährige Bub zu seinem Namen gekommen.«14 Es ist eine eindringliche und gewagte Szene, als der Junge sich ein vom Vater schwer verletztes, sterbendes Kätzchen auf den Bauch legt, bis die Vitalinstinkte des Jungen, sein eigenes Magenknurren, und die des wieder zu schnurren beginnenden Kätzchens eins werden und sich gegenseitig stärken. Dargestellt wird eine wechselseitige Kraftübertragung und körperlich-magische Verschmelzung, in der der Junge das Katzenwesen, dem er später seinen Erfolg verdankt, in sich aufnimmt, und dafür das Kätzchen zurück ins Leben holt. »So blieben sie liegen, schliefen sie ein, und sein Schnaufen hob das Kätzchen und senkte es, gab ihm warm und nahm ihm die Angst. (…) Eine Katze, die schnurrt, fühlt sich wohl, und vielleicht, wer weiß, hatten sich die Grenzen tatsächlich verwischt. Der Bub war in die Katze gekrochen und die Katze in den Buben. (…) der Schmittenbub (…) hatte zum ersten Mal erfahren, daß er eine besondere Gabe haben müsse. Er konnte sich einfühlen in das Fühlen der andern. Er konnte die Grenze überwinden, vielleicht sogar den Tod bezwingen«.15 Die hier angedeutete Genreüberschreitung in Richtung magischer Realismus weist auf das Erkunden der äußersten Möglichkeits- und Grenzräume der Mensch-Tier-Beziehungen.
In einem erweiterten Sinne steht das Katerwesen in diesem Roman für das Sinnliche und Intuitive, das Unangepasste und Unzähmbare, mit dem sich der Lebenswille des Knaben gegen die engen Grenzen der bürgerlich-katholischen Welt behauptet und seine Individualität gegen die Normierungs- und Anpassungszwänge der Klosterschule bewahrt. Das Lebensgefühl und Menschenbild, das Hürlimann in der Katzenmetapher ausdrückt, ist im Roman ausgerechnet in der Kirchenkuppel des Klosters Einsiedeln als veritable Gegentheologie im Zeichen der Katze in Szene gesetzt: Als der rebellische Klosterschüler in die Kuppel klettert, entdeckt er in deren Abendmahlsbild eine Katze. In der christlichen Ikonografie sind Katzen als dämonische Tiere eindeutig negativ besetzt und symbolisieren Falschheit, Verrat und die Präsenz des Bösen.16 Deshalb findet sich in Cosmos Damian Asams Einsiedler Abendmahlsbild von 1727 eine Katze zu Judas’ Füßen. Hürlimann gibt ihr eine radikale Umwertung im Geiste nietzscheanischer Lebensphilosophie: »dort hockt sie, vom Tischtuch halb verdeckt, knisternd vor Kraft, sprühend vor Leben, gierig und listig, groß wie eine Tigerin, und funkelt ihn mit geschlitzten Augen an«. Als der Junge entdeckt wird, »starren all die Versehrten da unten nach oben: zu ihm und seiner Katze – das ist mein Leib, das ist mein Blut«.17 Mit den Einsetzungsworten der Wandlung, dem geheimnisvollen Wunder im Zentrum der katholischen Messe, wird das Katzische, mit provokanter Betonung des Leiblichen, zum Medium der Transformation – der Individuen, der Gesellschaft und nicht zuletzt der Kunst. Der Kater entdeckt als junger Klosterschüler sein Talent für das geschliffene Wort bei der als Aufsatzthema gestellten Beschreibung eben dieses Abendmahlsbildes, wobei ihn besonders die Katze inspiriert: »Der Katze ergeht es wie mir. Leben will sie, leben, fressen, lieben, denn anders als die Apostel, die gewaltige Vasen sind, reine Bereitschaft, (…) funkelt das unterm Tisch fressende Tier vor Hunger, Lust und Leben.«18 Für seine glänzende Ausarbeitung voll individuellem Ausdruck wird er sofort durch Zerreißen des Aufsatzes bestraft. Unmittelbar danach bringt sich der Erzähler ausnahmsweise autopoetologisch selbst ins Spiel und spricht von des Katers Ahnung, »daß ich, sein ältester Sohn, das von ihm ererbte Talent eines Tages nutzen werde, um mich in sein Fell zu hüllen und durch das nächtige Bern zu tigern«.19 Das Katzenwesen wird so identifikatorisch auch zum Zentrum der künstlerischen Inspiration.
Die anderen größeren Prosatexte Hürlimanns, die grandiose Initiationsnovelle »Fräulein Stark«, der Mutterroman »Vierzig Rosen« und »Heimkehr« sind intertextuell eng verbunden durch die Familiengeschichte der ostjüdischen, vor Generationen aus den Weiten Galiziens in die Schweiz eingewanderten mütterlichen Vorfahren. Ihren biografischen Anlass hat diese breit imaginativ ausgestaltete fiktive Genealogie der Immigrantenfamilie Katz, die sich als Dessousschneider und Luxuskonfektionäre in der Schweiz heimisch zu machen suchten, zum Katholizismus konvertierten und zu Wohlstand kamen, in der Familiengeschichte von Thomas Hürlimanns Mutter Marie-Therese Duft, deren Mutter eine geborene Bersinger war. Beide Familien tabuisierten und verheimlichten die jüdische Seite der Familiengeschichte, von der so gut wie nichts bekannt ist, angesichts antisemitischer Tendenzen in ihrem Milieu und in der Schweiz überhaupt. Indem sie von dieser Familienseite erzählen, weiten sich die drei Texte zu einer breit angelegten Reflexion über Schweizer Geschichte und Gesellschaft.20
In »Fräulein Stark« ist die Katz’sche Ursprungsgeschichte präsent als das heimlich-unheimliche, weggeschlossene und gerade darum so geheimnisvoll anziehende Energiezentrum; tief verborgen und gut bewacht in den Bücherkatakomben der St. Galler Stiftsbibliothek. Hier betreibt der pubertierende Ich-Erzähler zu Besuch beim Onkel und Stiftsbibliothekar familiengeschichtliche Studien. Zusammen mit seinen fetischistischen Erkundungen als »Pantoffelministrant«21 zu Füßen der bestrumpften und in High Heels daherkommenden Besucherinnen des Bibliothekssaals bilden sie eine Archäologie zugleich des Ursprungs und des Begehrens. Verdrängte nomadisch-stromernde Herkunft, verbotene Sexualität, die vom sechsten Gebot nicht zu bändigende animalische Seite des Menschen, das Sinnliche und Intuitive, die Affinität für das Unangepasste und Widerständige und damit auch das Gespür für das Verklemmte und Verlogene des bürgerlich-bigotten Milieus, »die glockenläutende, unten drunter Katz tragende Stadt«;22 all dies findet in der feinen Nase der Katzen, mit der sich der Junge am Ende als Attribut seiner Identität und seines Anders-Seins identifiziert, seinen Ausdruck.
In »Vierzig Rosen« wird »der edle Name Katz« in einer Mischung aus Stolz und Trotz auf dem Dach der Familienvilla mit leuchtenden Lettern in den Schweizer Himmel geschrieben.23 Marie, die jüdische Fabrikantentochter, ermöglicht mit ihrem Katzenwesen, ihrer Eleganz, ihrer Stilsicherheit, ihrem erotischen Flair und ihrer gesellschaftlichen Geschmeidigkeit dem biederen Dorfjungen Max Meier den politischen Aufstieg, zahlt für die öffentliche Anerkennung, die sie dadurch erhält, aber den hohen Preis der Unterdrückung ihrer künstlerisch unbürgerlichen Seite und der permanenten Anpassung. So spiegelt ihr persönliches Schicksal die Assimilationsgeschichte vieler Schweizer Juden, für die Konversion und Tabuisierung der Familiengeschichte die Bedingung für Integration war. Dabei betonen die Schicksale der Protagonisten gleichzeitig, dass das Katzenwesen trotz aller versuchten Domestizierung durch Internat und Kirche dringend gebraucht wird, dass Marie als Gesellschaftsdame, Max Meier und der Grosse Kater als Politiker und auch der Stiftsbibliothekar als Geistesmensch nur erfolgreich sein können, indem sie ihre katzisch-kreatürlich-kreative Seite sublimierend kultivieren.
In »Heimkehr« will Heinrich Übel der geforderte »Curriculum Vitae von max. einer Seite«24 als Vorbedingung für Immatrikulation, Promotion und Vaterstolz unter anderem deshalb nicht gelingen, weil die Ahnengeschichte der Katz eben nicht einseitig darzustellen ist. Auf 370 Seiten angeschwollen, bildet sie eine zentrale Säule des Übel’schen Papierpalastes. In dessen Mitte residiert, Zuflucht vor Bedrängung und Verfolgung suchend wie ehedem die Migrantenfamilie Katz, Kater Dada, dessen Name ja auch Protest gegen bürgerlichen Biedersinn und geradlinige Narrative signalisiert. Auch Heinrich Übel, den Bewohner der Grauen Gasse 10 im Zürcher Niederdorf, verbindet mit den Dadaisten aus der nahen Spiegelgasse 1 der antibürgerliche Habitus und die Ablehnung des Geordneten. Er tritt zwar nicht als magischer Bischof auf, Lautgedichte zelebrierend, wie einst Hugo Ball im Cabaret Voltaire, gibt sich aber ähnlich provokativ als grotesker, kotverschmierter Weihnachtsmann. Seinen Papierpalast, das chaotisch-ungeordnete »mehrtausendseitige Epos«,25 schleppt dieser Bischof samt Kater mit ins »Fräcktal«, angetrieben von der urbürgerlichen Sehnsucht aller Rebellen und verlorener Söhne, endlich vom Vater anerkannt zu werden.
Kater Mufti ist Kater Dadas lebensgeschichtliches Pendant. Er begegnet uns in zwei Essays, die das für Hürlimann so charakteristische Philosophieren aus der Anekdote zur Meisterschaft treiben, indem sie erzählte Philosophie mit persönlichen existenziellen Grenzsituationen verweben. In »Der Kosmopolit wohnt im Kosmos« von 1995 und ähnlich in »Nietzsches Regenschirm« zwanzig Jahre später erzählt Hürlimann von dem Kater, der sich in seiner Wohnung in Ebmatingen, der anonymen und seelenlosen Züricher Satellitenstadt, heimisch machte und ihn über die fristlose Kündigung (wegen Verstoßes gegen das Haustierverbot) ins heimatlich rurale Territorium führte, nach Willerzell über dem Sihlsee gegenüber dem Kloster Einsiedeln und nahe der Brücke. Heimkehr mit und durch den Kater, in genau das Terrain, das in »Heimkehr« fiktionalisiert wird, trotz allem »on ne revient jamais«.26 Im literarischen Niederschlag der Ebmatinger Zeit, dem Novellenband »Die Satellitenstadt« wird Mufti nicht explizit erwähnt, aber Katzen spielen bereits hier eine wichtige Rolle als »Göttinnen der Melancholie«,27 als Schutzgeister gegen die lähmende Künstlerinnen- und Dichtermelancholie, die den Erzähler und seine Partnerin, die Schauspielerin und Chansonette Ka, befallen. In Willerzell gibt Mufti an, wo es langgeht. Hürlimann beschreibt den »Abendspaziergang mit der Katze«28 im Zwischenreich von Hell und Dunkel, in dem die Dinge eine andere Gestalt annehmen, die Perspektiven wechseln und Transformation möglich wird, als Lehrgänge und Initiationsritual. »Die Wanderung begann ungefähr eine Stunde vor der Dämmerung. Mufti stieß mich mit seiner Schnauze an oder maunzte, bis ich den Schirm ergriff, dann zog er los, ab in den Wald, und wenn ich jemals im Leben einen konsequenten Lehrer hatte, dann war es dieser Kater. Er führte mich in das Geheimnis der Wiederholung ein. Er lehrte mich, wieder und immer wieder denselben Weg zu gehen. (…) wie ich bald merkte, wurde die täglich wiederholte Strecke durch die Wiederholung nicht langweiliger, vielmehr spannender von Gang zu Gang. Denn jeder Punkt, der angepeilt und kurz beschnuppert wurde, teilte nicht nur seinen gegenwärtigen Zustand mit, sondern auch das, was sich von gestern auf heute an ihm verändert hatte.«29 Hürlimann beschreibt die Einübung in ein genaues beobachtendes Schauen, in Momente des Innehaltens, der Entschleunigung und Vertiefung, der Andacht für die Veränderungen in der Zeit. So wird die Katze zum Gewährstier für eine Poetologie des Lokalen, der Aufmerksamkeit für den Wandel der Zeit, der Genauigkeit und der Wiederholung, die Hürlimanns Schreibverfahren eng verbindet mit seiner Kulturkritik an den Verflachungen der Moderne und dem Verlust der Vertikalen in der Gegenwart. Es wird im Zwielicht dieser Anekdote, dieser Erfahrung klar, dass sich zentrale Elemente des Hürlimann’schen Denkens und Schreibens seiner Bereitschaft verdanken, sich den Wahrnehmungsformen und Erfahrungsräumen der Katzen zu öffnen. Das bestätigt auch ein Interview aus dem Jahre 2014, in dem die Spaziergänge und »der kluge Kater Mufti, mein Lehrer und Meister« wieder erwähnt werden. Wie Dada hilft Mufti, in den Grenzzonen von Leben und Tod zu navigieren. »Obwohl er längst tot ist (…) lebt sein Weg in mir weiter. Während meiner Krankheit kam es häufig vor, dass ich Angst hatte oder kurz vor einer Panik war. Da schloss ich die Augen, sah ein paar Schritte voraus den Kater, und wenn ich ihm folgte, wenn wir wieder unseren Weg gingen, wie früher, fand ich wie von selbst in die Spur zurück.«30
Zur poetologischen Katze tritt so die Katze als philosophisches Tier. Diesen Begriff Nietzsches zitiert Hürlimann in »Nietzsches Regenschirm« in Hinblick auf unsere leib-seelische Doppelnatur zwischen »hehren Gedanken und animalischen Trieben«.31 In den beiden Essays werden Nietzsche und Mufti gemeinsam als Lehrmeister Hürlimanns benannt und dargestellt. Was sie zusammenbringt, sind, kurz gesagt, Schirm und Schweif. In einer weit ausholenden kulturgeschichtlichen Reflexion rekonstruiert der Autor die Ursprünge des Schirms als »Zauber- oder Machtstab«,32 der die Ausgespanntheit des Menschen zwischen Leibnatur und kosmischem Himmel, Triebverhaftung und Transzendenzsehnsucht darstellt und als kraftvolles Symbol dieser Mittlerstellung des Menschen die Beziehung zur Vertikale zugleich ausdrückt und stärkt. Die cartesische Subjekt-Objekt-Spaltung als Ursprungstrauma der Moderne, die heutige Verflachung der Welt in der Horizontalen, der damit einhergehende geschichts- und transzendenzvergessene Verlust von Vertikalität, das sind Grundelemente der Hürlimann’schen Moderne- und Kulturkritik, die in »Nietzsches Regenschirm« ihren wohl dichtesten Ausdruck findet. Auf den gemeinsamen Abendspaziergängen, so berichtet Hürlimann, reagiert Muftis Schweif unfehlbar auf das »Schirmsignal« des Wanderers.33 Der Kater wittert den Symbolgehalt des Schirms, dessen Zeichenwelt so das Leiblich-Instinktive erreicht. Das ist »mit Nüstern philosophiert« à la Nietzsche,34 sodass die kategorialen Grenzen zwischen Mensch und Tier verschwimmen und die Subjekt-Objekt-Spaltung für einen Moment überwunden wird, weil das Leiblich-Instinktive und das Symbolisch-Transzendentale augenblickshaft korrespondieren. Die Lehrgänge mit Mufti über dem Sihlsee werden so für Hürlimann – der Schirm dient als Verbindung – zum Pendant von Nietzsches Spaziergängen am Silsersee. Hürlimann nähert sich in der Kommunikation mit dem Kater dem »Geheimnis der Wiederholung«,35 das Nietzsche in Hürlimanns Interpretation als epiphanischer Moment, als grenzensprengende unio mystica am Stein von Surlej zuteilwurde. Insofern ist »die täglich wiederholte Strecke«,36 die ritualisierte und meditative Einübung in die Wiederholungsfigur mit dem Kater, wie in »Nietzsches Regenschirm« ausgeführt, nicht zuletzt Vorbereitung für Hürlimanns eigene, in ihrem ontologischen Status höchst prekäre Offenbarungserfahrung im delirierenden Nahtoderlebnis der Unfallnacht am Sihlsee: »(…) es war die pure Freude, eine absolute Hochstimmung, denn die Dinge luden sich auf, sie begannen zu leuchten und gewannen eine Prägnanz, wie ich sie noch nie gesehen hatte. (…) Danke, Kater Mufti! Danke, Friedrich Nietzsche! So beschränkt er war, euer Schüler, zuletzt ist ihm alles klar. (…) Die Dinge offenbaren sich. (…) Die Ränder verfließen – mein brechendes Auge und die Sterne und die Dinge sind nun eins und alles. Die Schöpfung nimmt mich auf, nimmt mich wahr, holt mich heim. Keine Grenze mehr, keine Teilung.«37
Was der Essay diskursiv entfaltet, gestaltet »Heimkehr« literarisch und damit gebrochener. Im Zentrum dieser Gestaltung steht Muftis fiktionales Pendant, der sprechende Kater Dada. Für ordnungsgewohnte Literaturwissenschaftler und auflagenorientierte Verlagsredakteure mag seine märchenhafte Sprachbegabung eine Irritation sein, für die künstlerische und philosophische Konfiguration des Textes aber ist sie zentral. In der Verhandlung der Mensch-Tier-Beziehungen verschwimmen die Unterschiede und stehen unsere anthropologischen und ontologischen Gewissheiten zur Disposition. Als »phantastisches Tier« im Sinne Todorovs markiert Dada ähnlich wie sein literarischer Vetter Kater Murr den Grenzbereich.38 Das Gespräch mit dem Kater als Doppelgänger ist im Grunde ein Selbstgespräch zur Selbsterkennung, in dem das Tier in uns zur Sprache kommt und zur Sprache findet. Schon im allerersten Dialog zwischen Dada und Heinrich geht es um die transformative Reise als Selbstentdeckung und Offenbarung »in die Auferstehung und in eine neue Existenz!«39 Im Zentrum dieser Reise zu sich selbst steht auch hier die leib-seelische Doppelnatur des Menschen, und wieder ist es das Tier (in uns), das darauf hinweist: »›Du siehst aus wie ein beschnittener Schwanz‹, erklärte der Kater pathetisch, ›und bist ein Gott‹.«40 Als die Heimkehr fast vollzogen, die Reise fast vollendet ist und damit wieder an ihrem Anfang steht, wird Dada noch deutlicher und bringt es ganz im Sinne Nietzsches auf den Punkt: »›Du‹, meinte der Kater anerkennend, ›hast dich in deiner Nacktheit geschaut.‹ ›Als Schwanz. Als Gott.‹«41 Wenig später sinnt Heinrich Übel über seine Dialoge mit Dada nach, die die Menschen um ihn herum weder hören noch verstehen können.42 »Dabei war es im Prinzip eine einfache Sache. Wenn er als Dada oder Mieze angesprochen wurde, glaubte der Kater, ein Mensch namens Dada oder Mieze teile den eigenen Namen mit, und ich war ziemlich sicher, dass auch jenes Wesen, das wir Gott nannten, unsere Anrufungen für eine permanente Selbstdarstellung der Menschen hielt.«43 Mit anderen Worten: Die Namen, die wir Menschen den Tieren geben, sind unsere Namen, spiegeln unsere Vorstellungen und Wünsche, und das Gleiche gilt für die Dialoge, die wir mit ihnen führen. Es sind Imaginationen, Projektionen, anthropomorphe Fiktionen im Sinne von Ludwig Feuerbachs Projektionstheorie, auf die hier in der Parallele von Tier und Gott angespielt wird. Der Mensch, als Misch- und Mittelwesen zwischen Tier und Gott kann gar nicht anders, erreicht nur in diesem projektiven Verfahren, als narrativer Er-Finder, Einsicht über sich selbst. Das ist die ultimative Wahrheit, mit der die Katze als poetologisches und philosophisches Tier uns herausfordert.
1 Thomas Hürlimann: »Heimkehr. Roman«, Frankfurt/M. 2018, S. 161. — 2 Ebd., S. 36. — 3 Ebd., S. 273. — 4 Christina Gubler / Marco Guetg: »›Ich will mich nicht irgendwo anpassen, nur weil es modisch ist‹. Thomas Hürlimann über sein Image als konservativer Querdenker, die Bedeutung der Erotik und seinen neuen Roman ›Fräulein Stark‹. Sonntagsgespräch«, in: »Sonntagszeitung«, 29.7.2001, S. 20 f., hier S. 20. — 5 Thomas Hürlimann: »Nietzsches Regenschirm«, Frankfurt/M. 2015, S. 17. — 6 Ebd., S. 34. — 7 Roland Borgards: »Tiere und Literatur«, in: Ders. (Hg.): »Tiere. Ein interdisziplinäres Handbuch«, Stuttgart 2016, S. 225–244, hier S. 239. — 8 Hürlimann: »Heimkehr«, a.a.O, S. 522. — 9 Thomas Hürlimann: »Das Gartenhaus«, Frankfurt/M. 2000, S. 11, zuerst Zürich 1989. — 10 Ebd. — 11 Ebd., S. 54. — 12 Beatrice von Matt: »›Wir brauchen eine Vergangenheit, an die wir glauben können‹. Gespräche mit Thomas Hürlimann«, in: »Neue Zürcher Zeitung«, 26./27.10.1991, S. 67. — 13 Vgl. Max Weber: »Grundriss der Sozialökonomik, III. Abteilung. Wirtschaft und Gesellschaft«, Tübingen 1947, S. 140. — 14 Thomas Hürlimann: »Der grosse Kater«, Frankfurt/M. 2000, S. 16. Zuerst Zürich 1998. — 15 Ebd., S. 21 f. — 16 Siehe Gertrud Blaschitz: »Die Katze«, in: Dies. / Helmut Hundsbichler / Gerhard Jaritz / Elisabeth Vavra (Hg.): »Symbole des Alltags – Alltag der Symbole. Festschrift Harry Kühnel zum 65. Geburtstag«, Graz 1992, S. 589–616. — 17 Hürlimann: »Der grosse Kater«, a. a. O., S. 211. — 18 Ebd., S. 149. — 19 Ebd., S. 153 f. — 20 Hierzu ausführlicher: Jürgen Barkhoff: »Die Katzen und die Schweiz. Zum Verhältnis von Familiengeschichte und Landesgeschichte in Thomas Hürlimanns Familientrilogie«, in: Beatrice Sandberg (Hg.): »Familienbilder als Zeitbilder. Erzählte Zeitgeschichte(n) bei Schweizer Autoren vom 18. Jahrhundert bis zur Gegenwart«, Berlin 2010, S. 181–195. — 21 Thomas Hürlimann: »Fräulein Stark. Novelle«, Zürich 2001, S. 17. — 22 Ebd., S. 175. — 23 Thomas Hürlimann: »Vierzig Rosen. Roman«, Zürich 2006, S. 61. — 24 Hürlimann: »Heimkehr«, a. a. O., S. 33. — 25 Ebd. — 26 Ebd., S. 192. u. ö. — 27 Thomas Hürlimann: »Die Katze«, in: Ders.: »Die Satellitenstadt. Geschichten«, Frankfurt/M. 2002, S. 61–63, hier S. 63. Zuerst Zürich 1992. Siehe auch im gleichen Band die Erzählung »Die Satellitenstadt«, S. 71–119, bes. »Der komische Vogel«, S. 116–119. — 28 Thomas Hürlimann: »Der Kosmopolit wohnt im Kosmos«, in: Ders.: »Das Holztheater. Geschichten und Gedanken am Rand«, Zürich 1997, S. 9–25, hier S. 9. Nach Fertigstellung dieses Beitrags erschien der Essayband Thomas Hürlimann: »Abendspaziergang mit dem Kater«, Frankfurt/M. 2020, der diese Thematik in Zwischentexten aufgreift. — 29 Hürlimann: »Nietzsches Regenschirm«, a. a. O., S. 30 f. Ähnlich in Hürlimann: »Der Kosmopolit wohnt im Kosmos«, a. a. O., S. 9 f. — 30 Christine Richard: »›Toleranzpropaganda ist alles andere als tolerant‹. Im Gespräch mit dem Schweizer Autor Thomas Hürlimann, der das Literaturfestival Basel eröffnet«, in: »Tagesanzeiger«, 6.11.2014. — 31 Hürlimann: »Nietzsches Regenschirm«, a. a. O., S. 17. — 32 Ebd., S. 15. — 33 Ebd., S. 22. — 34 Ebd., S. 17. — 35 Ebd., S. 30. — 36 Ebd., S. 31. — 37 Ebd., S. 40. — 38 Vgl. Roland Borgards: »Tier«, in: Hans Richard Brittnacher / Markus May (Hg.): »Phantastik. Ein interdisziplinäres Handbuch«, Stuttgart, Weimar 2013, S. 482–487. — 39 Hürlimann: »Heimkehr«, a. a. O., S. 271. — 40 Ebd. — 41 Ebd., S. 485. — 42 Siehe das Gespräch in Calas’ Wohnwagen ebd., S. 484–486. — 43 Hürlimann: »Heimkehr«, a. a. O., S. 499.