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Die Anfangspassage als poetologische Parabel

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Vor dem so skizzierten Hintergrund wird die Parabel aus der ersten Geschichte, »Begegnung«, poetologisch neu lesbar. In ihr wurden drei Arten des Berggehens unterschieden: der genau berechnete, da kräfteraubende Aufstieg auf die Bergspitze, der gemessene Schritt des Wanderers und das Herumrasen des Wahnsinnigen. Zu Beginn entsteht wie erwähnt der Eindruck, dass der Ich-Erzähler am ehesten dem Bild des Irrsinnigen entspricht. Tatsächlich aber scheint sich Hürlimanns Erzählen zwischen allen drei Typen aufzuspannen.

Der Bewegung des Wanderers, der die schweißtreibende Anstrengung scheut, kommt der behende, flüssige Stil von Hürlimanns Prosa nahe: In der Rekapitulation von Familienroutinen folgt sie einem gemessen-ruhigen Habitus, der in späteren Prosaarbeiten, etwa dem Roman »Vierzig Rosen«, vor allem mit der Contenance der wohlerzogenen Mutter in Verbindung gebracht wird.

Einen Kraftakt hingegen spiegelt der künstlerische Drang zum übergreifenden Zusammenhang, in dem die die Detailbeobachtungen und -erinnerungen verbunden und gerahmt werden sollen: Die konzeptionelle Geschlossenheit des Bandes »Die Tessinerin« nimmt diesbezüglich vorweg, was später die Romanform leistet. Im Streben zum umfassenden Erzählzusammenhang ist der Zug jenes Konservatismus zu erkennen, zu dem sich der Schriftsteller auch politisch bekennt.14

Nach dem Erklimmen des Bergs bleibt jedoch, wie es an der Stelle heißt, »nur die Umkehr übrig oder der Tod« (S. 7): Die Gipfelstürmerei erscheint, wie der Karrierismus des Vaters in »Der grosse Kater«, als Kompensationshandlung. In den Trauerritualen, von denen die Novelle »Das Gartenhaus« erzählt, erweisen sich sowohl die mütterliche Contenance als auch der väterliche Zug ins repräsentable Ganze als unzulänglich, manchmal gar als hilflos. Und schon in der Parabel aus dem ersten Erzählband sind die erzählerische Sensibilität und der Wille zur konzeptionellen Strenge mit einem dritten Typus verbunden, der solcher Unzulänglichkeit Rechnung zu tragen vermag: dem latenten Wahnsinn des Herumrasenden.

Hürlimanns Erzählen zeugt, allem Faible für das Gemessene und Geordnete zum Trotz, von einer chaotischen Bereitschaft zur Überforderung. Davon, dass solche Raserei nicht notwendig ganz und gar verzweifelt sein muss, legt das über 500 Seiten gut gelaunt tumultende und mäandrierende Exzess-Stück seines Romans »Heimkehr« von 2018 Zeugnis ab. Dieses Buch kann auch jenseits aller inhaltlichen Bezüge als Selbstporträt des Literaten Hürlimann gelten: Auch unter dem gesetzten Schreibhabitus der biografisch inspirierten Bücher der 1990er und 2000er Jahren schwelte demnach jene Unruhe und Brüchigkeit, durch die gezeichnet ein wankender und taumelnder Erzähler schon den ersten Erzählband eröffnete.

1 Seit der Schließung des Verlags erscheinen Hürlimanns Werke im S. Fischer Verlag. Das Verhältnis zu Egon Ammann charakterisiert die Laudatio Hürlimanns »Ahmed, der Levantiner«, abgedruckt in: Thomas Hürlimann: »Himmelsöhi, hilf! Über die Schweiz und andere Nester«, Zürich 2002, S. 85–98. — 2 Die Stellen werden im Text angegeben nach folgender Ausgabe von Thomas Hürlimann: »Die Tessinerin. Geschichten«, überarb. Neuausg., Frankfurt/M. 2016. Seine Überarbeitung des Textes betrifft die hier diskutierten Aspekte nicht. — 3 So besteht der vierte Abschnitt von »Die Pechbindung« aus einer längeren Erinnerungssequenz an die Schulzeit (S. 50–53). — 4 So heißt es in »Schweizerreise in einem Ford« zwischendurch plötzlich unvermittelt: »Diesen Satz sagte ich gestern nacht (sic!) zum Doktor. Ich war durch die südöstlichen Quartiere gezogen und hatte ihn in einem Keller angetroffen.« (S. 27). — 5 In vielen Interviews mit Hürlimann fällt ein Verweis auf das (frühere und danach wieder gelegentliche) Berliner Domizil. — 6 In der Eröffnungsgeschichte in der Kreuzberger Kneipe »pöpperlete« (S. 12) etwa ein Gast mit seinen Fingern ans Glas, einem anderen »lampt« (S. 13) die Zigarette aus dem Mund. — 7 Die Theaterstücke sind teils auf einen allgemeinen deutschsprachigen, teils dialektal auf einen schweizerisch-regionalen Aufführungszusammenhang hin konzipiert. Im Film »Der Berg« (1990), zu dem Hürlimann mit dem Regisseur Markus Imhoof das Drehbuch schrieb, markiert die Grenze zwischen Dialekt und Hochsprache die Positionen im Zwist der beiden männlichen Kontrahenten. — 8 Anders als etwa Jeremias Gotthelf oder der späte Robert Walser. Allgemein zum Verhältnis von Dialekt und Hochsprache in deutschschweizerischer Literatur vgl. die Bände von Heiner Löffler (Hg.): »Das Deutsch der Schweizer: Zur Sprach- und Literatursituation der Schweiz«, Aarau 1986; sowie Simon Aeberhard / Caspar Battegay / Stefanie Leuenberger (Hg.): »dialÄktik. Deutschschweizer Literatur zwischen Mundart und Hochsprache«, Zürich 2014. — 9 Meinrad Inglin: »Der schwarze Tanner und andere Erzählungen«, ausgewählt und mit einem Nachwort versehen von Thomas Hürlimann, Zürich 1985; Gottfried Keller: »Das große Lesebuch«, hg. von Thomas Hürlimann, Frankfurt/M. 2019. — 10 Erschienen als: »Die Tessinerin. Eine Erzählung«, Zürich 1996. — 11 Vgl. u. a. den Text »Schreiben«, in: »Frankfurter Allgemeine Zeitung«, 7.10.2006, unddas Interview von Sieglinde Geisel: »Der Tod, die Erinnerung und der Stil«, in: »Neue Zürcher Zeitung«, 10.2.2014. — 12 Für innerfamiliäre Verwerfungen sorgte bereits das Stück »Großvater und Halbbruder« (1981), das opportunistisches Verhalten des St. Galler Großbürgertums während des Zweiten Weltkriegs anprangerte, vgl. Charlotte Schallié: »Par distance und aus der Enkelperspektive. Thomas Hürlimanns entstellte Schweiz«, in: Jürgen Barkhoff / Valerie Heffernan (Hg.): »Schweiz schreiben. Zu Konstruktion und Dekonstruktion des Mythos Schweiz in der Gegenwartsliteratur«, Tübingen 2010, S. 215–229, hier S. 224. Und nach dem Erscheinen von »Fräulein Stark« tat sich Hürlimanns Onkel, dort Nebenfigur, mit einer Gegendarstellung hervor, vgl. Johannes Duft: »Bemerkungen und Berichtigungen zum Buch ›Fräulein Stark‹ von Thomas Hürlimann«, St. Gallen 2001. — 13 Dass die Familiengeschichte künstlerisch frei bearbeitet wird, macht besonders die erzählerische Innenschau längst verstorbener Urahnen deutlich (so etwa in der Geschichte des Urgroßvaters in »Vierzig Rosen«). — 14 Hürlimann äußerte sich in den vergangenen Jahrzehnten vielfach in Zeitungsbeiträgen und Interviews aus konservativer Warte zu gesellschaftlichen Themen. Einen breiten Einblick in seine politischen Überlegungen gibt das ausführliche Interview des Fernsehformats »NZZ Standpunkte« (SF 1 / 3sat, Erstausstrahlung: 1.8.2010).

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