Читать книгу Kinderkriegen - Группа авторов - Страница 12

Оглавление

Thomas Palzer

KINDERKRAM

Auf dem Sofa sitzend kann man auf Schatzsuche gehen. Die Hand gleitet zwischen die Polster – und nach wenigen Sekunden stößt sie immer auf irgendeinen Gegenstand: auf ein Ladekabel, auf ausgedörrte Fruchtgummis, auf eine trockene Lache zerbröselter Chips oder auf einen USB-Stick. Es handelt sich um die Hinterlassenschaften von Dante, Utes Sohn.

Dante ist dreizehn, und wenn er am Wochenende aus dem Internat kommt, darf er abends mit seiner Mum einen Film gucken. Beide, Mum und Sohn, sitzen dann auf dem Sofa, vor sich ein Notebook, das aufgeklappt im Zentrum ihrer Blickachsen steht – auf zwei aufeinandergestapelten Handkoffern aus rotbraunem Leder, in denen Ute ihre Fotoalben aufbewahrt. Es sind die Zeugnisse ihrer Jahre als Ehefrau und Mutter. Inzwischen ist Ute geschieden und teilt sich mit ihrem Ex Dantes turnusmäßige Gegenwart.

Der überwiegende Teil der Fotos dokumentiert Dantes erste Lebensjahre – penibel und gefühlt sekundengenau. Vermutlich würde der Stapel Kinderfotos, der weltweit von Eltern und Großeltern in jeder Minute produziert wird, zweimal bis zum Mond reichen, wäre er auf Papier ausgedruckt. Um die Motive von Utes gut sechstausend Fotos zusammenzufassen, würde ich sagen: Dante hat gelacht, geweint, komisch geguckt, große Augen gemacht, ist hingefallen und wieder aufgestanden.

Vor Nachwuchs habe ich mich lebenslang erfolgreich gedrückt. Warum Nachwuchs – die Gegenwart genügt, damit die Menschheit für immer gewesen sein wird. Eine Kette, die immer länger wird und endlos in die Vergangenheit zurückreicht, fügt der Existenz des Menschen, metaphysisch gesehen, nichts hinzu.

Jedenfalls bin ich durch Ute in eine Lage gekommen, von der man behaupten könnte, sie gleiche einer Art Leihvaterschaft. Aber das ist eine Illusion, die von bestimmten Sachverhalten gestützt wird, etwa, wenn man uns alle zusammen im Auto oder der Straßenbahn sitzen sieht. Dann sehen wir aus wie die berüchtigte Trias: Vater, Mutter, Kind.

In Wahrheit sind Dante und ich Freunde. Zum Beispiel streiten wir uns stundenlang über die alte Menschheitsfrage, ob für Microsoft oder Apple zu votieren sei. Die Rollen sind klar verteilt, der Gang der Argumentation ist vorgezeichnet. Es ist ein Ritual, das der Einweihung in die mysteriösen Gepflogenheiten eines bestehenden Familienverbands dient, der vor dem Problem steht, eine fremde Person in den inneren Kreis aufzunehmen. Es handelt sich um eine Art Fechten mit Worten. Unsere E-Westen registrieren pingelig jeden Treffer.

Existenzweisen, die es erlauben, auf Nachwuchs zu verzichten, stellt die Kultur seit jeher zur Verfügung: als komischer Heiliger oder Hagestolz oder als Nonne oder Amazone. Kinderlosigkeit ist gesellschaftlich lange stigmatisiert und für moralisch verwerflich erachtet worden. Das hat sich inzwischen geändert. Es ist sogar eine Lebensform neu dazugekommen: Sie beruht auf dem Birth Strike. Zu den größten Verursachern von CO2 zählt bekanntlich die Bevölkerungsexplosion, also jedes weitere Kind, das in die Welt gesetzt wird. Aber kann Umweltschutz ein Grund sein, auf Kinder zu verzichten?

Fragen nach dem Nutzen (oder der Schädlichkeit) sind Perspektiven, die nicht derjenige einnimmt, der handelt – sich also für oder gegen Kinder entscheidet. Es sind immer die Perspektiven derer, die nicht handeln – aber vom Handeln eines anderen profitieren zu können glauben (die also entweder das Wachstum der Wirtschaft sichergestellt sehen oder aber die Erde retten wollen). Hinter utilitaristischen Erwägungen steckt die Moral des Ressentiments, wie Nietzsche das genannt hat.

Menschen tragen ihren Zweck in sich. Deshalb kann die Entscheidung für oder gegen Kinder keine sein, die auf Gründen beruht – dass man Kinder hat oder dass man keine hat, das lässt sich nicht rechtfertigen.

Was also spricht für Kinder – oder dafür, keine zu haben? Ich frage mich das, weil ich mich, wie gesagt, bewusst gegen Kinder entschieden habe. Wenn ich von Fürsprache rede, ziele ich darauf ab, dass sich die Frage argumentativ nicht lösen lässt – also logisch (»40 Gründe, keine Kinder zu haben«) –, sondern dass sie, um beantwortet werden zu können, vergegenwärtigt werden muss, folglich dargestellt. Mit anderen Worten: Entscheidend ist hier nicht, ob etwas der Fall ist oder nicht, sondern wie es wäre, wenn. Wie wäre es, Kinder zu haben, lautet die Frage, die ich mir stellen muss. Das Leben mit Dante hilft mir für ihre Bewältigung keinesfalls – entgegen dem ersten Augenschein.

Besser, als sich mit fremden Kindern zu schmücken und so zu tun als ob, ist es, sich der eigenen Kindheit zuzuwenden – jener Zeit, in der man selbst Kind war und wusste, wie es sich von innen anfühlt, Kind zu sein. Ein Kind zu sein ist dabei nur die komplementäre Seite zu der, auf welcher man Kinder hat. Zwischen beiden besteht eine gewissermaßen asymmetrische Ähnlichkeit – eben die zwischen Haben und Sein.

Eine der frühesten Erinnerungen, die ich an meine bewussten Jahre habe, stellt mich in eine sumpfige, tundraähnliche Landschaft, auf Sandbänke oder zwischen Baumstrünke; stellt mich ins Schilf oder an den Rand von lichtdurchbrochenen Föhrenwäldern am Rheinufer. Am Vormittag bin ich mit meiner Mutter nach Trebur gefahren, eine hessische Kleinstadt im nördlichen Oberrheingraben, wo einst zahllose Mündungsarme von Neckar und Main in den Rhein strömten. Ich bin vier Jahre alt und renne barfuß über den Sand, umkurve Hindernisse oder Wurzeln, wate quakend durch zähen Morast – gefolgt von meinem gleichaltrigen Freund, der wie ich mit einem aufgelesenen Ast bewaffnet ist und dessen Mutter es war, die uns von Mainz hierher gelotst hat. Sie wohnt im benachbarten Mietshaus, und seine und meine Mutter haben sich angefreundet, weil ihre Söhne den gleichen Spielplatz in der Neustadt benutzen. Meine Mutter ist zu dieser Zeit dreiunddreißig. Damals sind die Mütter in Deutschland bei der Erstgeburt typischerweise achtundzwanzig. Mein Freund und ich sind also unauffälliger Teil der Statistik. Meine Schwester wird erst in einem Jahr geboren werden.

Ich weiß noch, dass wir mit zwei Autos gefahren sind, wir, meine Mutter und ich, dem anderen, in dem mein Freund und dessen Mutter sitzen, hinterher. Ich erinnere noch die Fragen, die meine Mutter unter dem Wagenhimmel halblaut sich selbst stellt, wenn sie den Vordermann für den Moment aus dem Auge verliert. Es ist das Deutschland des Jahres 1960.

In diesem Jahr greift der Mossad in Buenos Aires Adolf Eichmann auf. Siebzehn afrikanische Staaten erringen ihre Unabhängigkeit. In Hamburg spielt eine Boygroup erstmals unter dem Namen The Beatles. Von Kindern an der Macht ist noch nirgends die Rede. Der Ton ist autoritär.

Meine Welt ist von der Welt der Erwachsenen weitgehend separiert. Ich habe ein eigenes Zimmer, das ich allerdings demnächst mit meiner Schwester werde teilen müssen – doch wird dieser unerfreuliche Zustand nicht lange so bleiben. 1964 ziehen wir in ein Haus um, das meine Eltern gebaut haben.

Nun gibt es für jeden in der Familie Platz genug, um sich zurückzuziehen. Das erhöht die Zentripetalkraft, die uns auseinandertreibt – und zugleich die Zentrifugalkraft, die jeden in seiner eigenen Welt hält. Im Grunde sehen wir uns vor allem zu den Hauptmahlzeiten. Dazwischen ist jeder für sich – oder in einer weiteren Welt, die zwar nicht die eigene ist, aber auch nicht die, die man mit den anderen aus der Familie teilt, die Welt der Schule oder der Arbeit oder die der Freunde. Die Sonntage sind die Tage, die meiner Schwester und mir verhasst sind, weil wir uns weniger gut aus dem Weg gehen können. Dann sind wir alle gezwungen, aufeinander zu hocken, ohne richtig zu wissen, was wir überhaupt miteinander anfangen sollen.

Natürlich gibt es auch an Sonntagen schöne Momente, etwa, wenn sich die Familie ganz nahekommt, wenn große Vertrautheit herrscht und das Gefühlsleben von Wärme und Zuneigung geprägt ist, auch von einer besonderen emotionalen Großzügigkeit, aber das ist immer nur für wenige Stunden der Fall. Dann fällt wieder alles auseinander, vielleicht, weil auch Nestwärme auf Dauer nicht zu ertragen ist. In dieser übrigen Zeit träumen meine Schwester und ich und jeder auf seine Weise davon, erwachsen zu werden und selbst die Regeln zu bestimmen, an die sich dann die anderen halten müssen. Wer erinnerte sich nicht an den erhebenden, geradezu zeremoniellen Moment, in dem man begreift, dass man endlich selbst bestimmen kann, wann man zu Bett geht oder aufsteht und wie man den Tag gestalten will.

An Trebur denke ich gern zurück. Trebur war eine Welt, die mir das Gefühl gab, noch weitgehend meine zu sein – und trotzdem fremd und abenteuerlich, voller flirrendem Sonnenlicht, Geraschel und unwegsamen Pfaden. Irgendwie verliert sich diese aufregende Fremdheit später, wenn man acht, neun, zwölf oder dreizehn Jahre alt wird. Dann lebt man in einer menschengemachten, durchschaubaren, geregelten, langweiligen und legoförmigen Welt – in einer, in der sogar Spiele geregelt sind (mit jedem Schritt in den Rheinauen wurden doch immer neue Regeln definiert) und in der von morgens bis abends über einen bestimmt wird. Das klingt übertrieben, aber es sind die Details und Kleinigkeiten, die einen das spüren lassen, der Atem der Dinge, die kalkulierte Dunkelheit, der vorausberechnete Exit Room. Kinder können die Armseligkeit dahinter wittern. Und jetzt, wo einen die Eltern überhaupt nicht mehr aus dem Blick lassen und keinerlei Risiken mehr eingehen vor lauter Angst, die Kontrolle zu verlieren, ist gewiss alles noch viel schlimmer. So denke ich mir.

Die Kindheit ist eine Welt, von der man sich jedem Tag weiter entfernt – genau diese Entfernung, dieser Prozess des Sich-Entfernens, ist die Kindheit. Warum sollte man das jemandem zumuten? Eine frühe Kindheit zwischen vier und fünf – und dann ein Leben, das erfolglos nach der verlorengegangenen Kindheit sucht und einen enttäuscht. Wer geboren wird, wird – abgesehen von den Jahren zwischen vier und meinethalben sechs – den Rest seines Lebens damit zubringen, seine Kindheit wiederzufinden – diese frühe Kindheit, wo die Welt noch einem selbst gehörte und trotzdem fremd und voller Abenteuer war. Man ist ganz bei sich – und zugleich restlos verloren an die Welt, der man seine ungeteilte Aufmerksamkeit schenkt. Nur den wenigsten ist später vergönnt, bei ihrem Tun ganz bei sich zu sein.

Ute hat Buchweizenbrötchen gebacken. Dante hat sich das gewünscht. Er mag Teigwaren, wenn sie von seiner Mutter und ihren Händen gemacht worden sind, besonders Buchweizenbrötchen mit einer dicken Schicht Butter und Johannisbeermarmelade. Kauend sieht er uns dann mit bläulich verfärbten Zähnen an und mimt Aufmerksamkeit, aber natürlich hört er uns nicht zu. Er denkt an irgendwas anderes, weiß der Himmel, an was, an sein Mobiltelefon und dessen unerschöpfliche Möglichkeiten vermutlich. Dante wird demnächst vierzehn. Mit vierzehn beginnt die schwierige Phase, aber so schwierig ist sie auch wieder nicht; jedenfalls nicht bei Dante.

Kinderkriegen

Подняться наверх