Читать книгу Kinderkriegen - Группа авторов - Страница 15
GEWEBEKLUMPEN IM GLASKOLBEN
ОглавлениеAm Morgen des Tages, der mein Leben völlig veränderte, sprang in der Nähe des Kleistparks in Berlin-Schöneberg das Auto nicht an. Das rote Schiff der Straße, der wundervoll gerundete und lang gezogene Citroën DS 20 – Safari, wollte und wollte einfach nicht starten. Ein Wink des Schicksals, dachte ich in diesem Moment, das Geplante absagen, einfach aus der Maschinerie aussteigen, aber ich sagte nichts zu der jungen Frau auf dem Beifahrersitz. Ich ließ die letzte Chance vorübergehen, meinen Wunsch auszusprechen.
Als Hypothese, wenn du es ausgesprochen hättest, hätte ich bestimmt versucht, es dir auszureden oder wegzuwischen, aber es wäre natürlich interessant, was dann passiert wäre, wenn du vehement für das Kind gewesen wärst.
Im Herbst 1981 war meine Freundin 22 und ich 25 Jahre alt. Wir studierten beide an der Freien Universität Berlin und liebten uns seit sechs Monaten. Eigenartig, jenen Tag, an dem wir dann mit einem Taxi in die gynäkologische Praxis nach Kreuzberg fuhren, haben wir beide heute als grauen Novembertag in Erinnerung. Aber es war der 14. Oktober, der Tag an dem Muhammad Husni Mubarak Ägyptens Staatspräsident wurde. Ich weiß das so genau, weil ich es, wie vieles andere, aufgeschrieben habe.
Ich seh dich immer, wie du in dein Tagebuch geschrieben hast. Und dass wir so die Sprache miteinander verloren haben. Ich hatte immer dieses Verlorenheitsgefühl und war gar nicht in der Lage, Kontakt aufzunehmen zu dir oder auch meine Bedürfnisse zu formulieren, überhaupt nicht. Nicht, was ich wollte, nicht, was ich dachte. Ich hab gar nichts formuliert.
Vier Wochen vor diesem 14. Oktober hielten wir uns in den Semesterferien an der Nordküste Kretas auf. Sonne, Strand, Tavernen, griechischer Wein, uriges Leben. Die Wirklichkeit brach bald in unsere kleine Pension in Georgioupoli ein, das tagelange Bangen wurde zur Gewissheit. Der Schwangerschaftstest: positiv.
Ich wollte da immer nicht drauf gucken, weil das ja so das endgültige Urteil ist, für das, was ich sowieso schon wusste. Obwohl es draußen total schön war, hab ich mich ins Bett verkrochen. Und ich hab das so in Erinnerung, dass du dann reingekommen bist und ich das gesagt habe.
18. September 1981:
Mir versagt die Vorstellung, Vater zu werden.
»Ein Kind zu bekommen ist was Gesundes«, sagt sie, »und doch wird getan, als sei es eine Krankheit.«
Die Männer am Strand von Kreta legen sich Handtücher über ihre Scham.
Das entstehende Kind, das unbrauchbare Kind.
»Wir sitzen hier, als wäre etwas Schreckliches geschehen«, sagt sie später, »das ist doch absurd. Das ist doch absurd.«
Natürlich habe ich mir selber Vorwürfe darüber gemacht, dass ich nicht verhütet habe, was auch bescheuert gewesen ist. Entsprach so ein bisschen der damaligen Zeit, nach dem Motto »lässig, lässig, das geht schon irgendwie und ich kenn ja meinen Körper und jetzt hab ich einen Eisprung und jetzt hab ich keinen Eisprung«. Und das ist mit 22 eine Kamikazeunternehmung, das so zu machen.
In der Nacht nach dem positiven Schwangerschaftstest schenkt mir mein Vater im Traum ein riesiges Stück Wald mit wunderbaren Bäumen. Es ist ein gutes Gefühl, der Herr über ein Stück Natur zu sein. Zumindest für einige Zeit. Weil ich nämlich nicht weiß, was ich mit dem Wald machen soll, verschenke ich ihn ein paar Tage später weiter an eine Frau.
Einige Tage fühlte ich eine ungeahnte Potenz in der schroffen Natur Kretas, das Bewusstsein, ein Kind gezeugt zu haben, verschaffte mir Allmachtsphantasien, die Ahnung einer grenzenlosen Existenz …
Kreta ist eine fruchtbare Insel, auf der dicke griechische Frauen schnauzbärtige Männer verführen. Geboren zu befruchten, geboren zu empfangen. Uns beide Berliner aber, die wir nun wissen, dass wir ein Kind bekommen, schüttelt die große Verunsicherung … Ich könnte abheben und über den Strand fliegen, aber die Schwangere kommt nicht mit, sie holt mich wieder auf den profanen Erdboden zurück.
Nach einem halben Jahr Verliebtheit nahm ich damals auf Kreta zum ersten Mal eine Getrenntheit zwischen uns wahr. Ja, gut möglich, dass ich auf einem Egotrip war, gut möglich, dass ich keinen seriösen Partner abgab. War ich jung? War ich dumm? War ich ahnungslos? Vermutlich von allem etwas. Ich bejahte das Leben in diesen Tagen, jedoch sah ich in meiner Verfassung eines nicht: die konkrete Gefahr des Abbruchs.
Ich habe dich als sehr narzisstisch wahrgenommen, du warst halt sehr mit dir beschäftigt, in deiner Welt, in deinem Lebensentwurf, und ich glaube, das ist vielleicht auch das Traurige, dass ich dir das nicht zugetraut habe, dass du dich mit der Aufgabe, ein Kind zu bekommen, verändert hättest, ja auch möglicherweise. Das konnte ich mir nicht vorstellen. Also, das war jenseits meiner Phantasie. Den Weg, den ich vor mir gesehen habe, war immer der Weg der Abtreibung und nicht der Weg, das Kind zu behalten.
Die Phase der Verliebtheit und plötzlich waren wir als Paar vor eine Aufgabe gestellt, die vermutlich ein stärkeres Fundament brauchte. Im Herbst 1981 war ich nicht in der Lage zu sagen: »Schau her, wir machen das und das, dann bekommen wir unser Leben mit einem Kind auch hin.« Ich war nie praktisch, ich bin heute noch kein praktisch denkender Mensch.
Ich behaupte mal, es wäre ganz schwer gewesen, mich da drauf einzulassen wirklich, weil ich glaube immer, dass es dieses Vertrauen braucht, dieses Vertrauen, es ist jetzt wirklich ernst gemeint, der Mann will das Kind, der steht zu dem Kind, der steht zu dir und dem Kind, und so läuft das auch.
1. Oktober 1981 – Im Flugzeug von Heraklion nach Berlin: Eine kurze Szene meines inneren Widerstands gegen die Abtreibung: Vorhin, beim hektischen Aufbruch aus der kleine Pension in Georgioupoli, habe ich sie gefragt:
– Wo gehen wir hin in Berlin? Zu mir oder zu dir?
– Zu mir, hat sie erwidert, du kommst natürlich mit.
– Ich komme nicht mit, ich lasse mich von dir nicht bestimmen – merkst du nicht, wie du mich übergehst, wie du mich ungefragt einplanst, kapierst du das nicht?!?
Durch das ungeborene Kind bekam ich im damals noch geteilten Berlin Kontakt zu meinem eigenen Kindsein in einem Dorf am Oberrhein.
Der helle Lichtstrahl meines Blicks fällt durch das Dach meines Elternhauses und beleuchtet die Geborgenheit meiner Kindheit. Ich schaue auf den abends im Bett liegenden Jungen, der ich gewesen bin. Beim Einschlafen denkt er mit gefalteten Händen an seine liebsten Menschen, allen geht es gut, alles soll bleiben wie es ist, alles einfrieren, in diesem Moment.
Als sei ich mit einer anderen Frau auf Kreta zusammen gewesen, hatte meine Lebensgefährtin in West-Berlin nur noch Angst, sich mir zu nähern. Ich wiederum hatte Angst, sie zu verlieren. Die Maschinerie der Abtreibung war längst in Bewegung gesetzt, wie ein tausend Tonnen schweres Schiff. Es gab kein Halten mehr. Sie drängte, die Zeit. Ab der zehnten Woche war kein Schwangerschaftsabbruch mehr möglich. Genau gesagt, 1981 war ein Abbruch noch illegal, aber es gab gesetzlich die Möglichkeit der sozialen Indikation, eine Mitarbeiterin von Pro Familia bescheinigte meiner Freundin eine soziale Notlage und legte ihr ein Papier mit ein paar Adressen von Ärzten hin.
Ich war nur noch damit beschäftigt, den Abbruch zu organisieren eigentlich. Und es war keiner da, der »Stopp« hätte sagen können, »warte mal, setz dich mal hin, entspann dich mal, Kind« – ich war ja noch ein bisschen Kind, »und jetzt gucken wir mal, was für Möglichkeiten gibt’s denn?« Das Positive aufzuzeigen, da war niemand, leider.
Im West-Berlin Anfang der 80er Jahre klangen die Forderungen der Frauenbewegung an der Freien Universität noch nach. »Mein Bauch gehört mir« – ihr Slogan dröhnte durch die Flure und Hallen. Der Kampf der Frauen für ihr Recht auf Schwangerschaftsabbruch und auf Selbstverwirklichung hatte gerade auf uns männliche Studenten großen Einfluss.
Ja zu einem Kind zu sagen zu dem Zeitpunkt, das war relativ schwierig, gesellschaftlich gesehen. Und wenn dann der familiäre Hintergrund noch so ist, dass die Haltung so ist, also wirklich der Klassiker: »Komm mir bloß nicht mit einem Kind nach Hause«, dann bleibt nicht mehr viel Rückhalt übrig. Dann überwiegt doch die Ablehnung, die Angst, eher aus Unwissenheit, aus Dummheit fast, weil man sich auf das andere Lebensmodell ja gar nicht richtig eingelassen hat.
Heute erst gestehe ich mir ein, dass ich damals bei der Frage »Kind – ja oder nein« Schiss vor all den emanzipierten Frauen hatte und mich hinter der Entscheidung meiner Partnerin versteckte. Ja, es war ihr Bauch. Entscheidung ist wohl das falsche Wort. Wir waren ferngesteuert. Wir beide – sie auf ihre, ich auf meine Weise – kamen am 14. Oktober in diffuser Verfassung mit dem Taxi vor der Arztpraxis an. In der habe auch schon, hatte ich gehört, eine berühmte Schauspielerin abgetrieben.
Ich weiß, dass ich total Angst hatte, dass ich so gefroren hab und mich total schlecht gefühlt hab. Ich kann mich noch daran erinnern, wie die Praxis aussah, dass man da ein paar Stufen hochgehen musste und dass das dann im Erdgeschoss so ein paar Räume waren. Das weiß ich noch, so ein moderneres Gebäude, so ein 60er-Jahre Bau. Nichts Dolles eigentlich, aber eine ganz gepflegte Praxis.
Ich begleitete meine Lebensgefährtin in das Behandlungszimmer. Ich wollte das. Unbedingt. An ihrer Seite sein. Ihr beistehen. Beisitzen. Sie lag irgendwann auf dem gynäkologischen Stuhl und ich saß wie ein Statist ohne eigenen Text neben ihr auf dem Hocker.
Meine Hand legt sich auf die Brust der Liegenden, sie faltet ihre Hände über der meinigen, ich atme ihren Atem und nicht den meinigen, ich zucke unter ihren Schmerzen und nicht unter den meinigen.
Ich fand das sehr unangenehm, ich glaub, ich war wahnsinnig angespannt. Und fand das insgesamt sehr quälend und unangenehm, den ganzen Prozess. Ich weiß noch, dass ich den Arzt unsympathisch fand, blöd, komisch, unangenehm, insofern war ich auch froh, dass du dabei warst. Dann weiß ich, dass ich mich entschieden hatte, das mit örtlicher Betäubung zu machen, auch leicht bescheuert. Wenn man das mit einer Kurznarkose macht, bekommt man auch viel weniger mit, das ist psychisch viel besser zu verkraften, weil man ein Stück weit was ausblenden kann, das kann man so natürlich gar nicht. Dann hab ich diese Betäubungsspritze bekommen, an den Ablauf kann ich mich auch noch erinnern, und dass er gesagt hat, was er als nächstes macht, was im Prinzip auch gut war, und dass es insgesamt sehr lange gedauert hat, der Abbruch, das Absaugen, ist es ja eigentlich.
Der Schock, jetzt der absolute Schock: Plötzlich hatte, habe ich das Bild vor Augen, das ich nie mehr loswerde – Gewebeklumpen im Glaskolben.
Als er fertig war, hat er gefragt, ob wir das sehen wollten. Und ich kann mich nicht mehr daran erinnern, ob wir gesagt haben Ja oder Nein, auf jeden Fall hat er dann diesen Glaskolben hochgehoben und da waren so rote, also wie so aus einem Science-Fiction-Horror-Film irgendwie, da war so ne rote Pampe drin.
Der Arzt hält den Glaskolben hoch gegen das Licht der Neonröhre, wie ein Pfarrer den Kelch zur Heiligen Wandlung. Im Vakuumglas hinter den Messziffern blicke ich auf die rötliche Flüssigkeit, in der dunkelrote Tropfen und zerfetztes Gallertgewebe schwimmen … – auf all das Zerfetzte starre ich und meine Hände baumeln an mir herab, sie begreifen das Geschehen nicht, kreidebleich erstarrt mein Gesicht.
Ich weiß noch, dass ich mit anderen über diesen Arzt gesprochen habe, der ja einige Zeit nach meinem Abbruch seine Approbation entzogen bekommen hat, der nicht mehr praktizieren durfte, weil ihm nachgesagt wurde, dass er diese Abtreibungen mit sadistischer Länge durchgeführt hat.
Die Maschinerie der Abtreibung führte in die Katastrophe: »Mach langsam! Halt an!«, hatte vor dem Abbruch alles in mir gerufen, aber ich konnte das in die Schleuse der Arztpraxis fahrende über tausend Tonnen schwere Schiff nicht stoppen, mit dem Abbruch brach es durch das Schleusentor hindurch, ich stürzte und stürzte in eine bodenlose Tiefe …
Was dann war, daran kann ich mich nicht mehr erinnern. Wir sind, glaube ich, mit dem Taxi nach Hause gefahren. Da hab ich ganz viel geheult, also ich hab da ganz viel geheult, weil erstmal ging’s mir nicht gut, zweitens hab ich, glaube ich, auch Schmerzen gehabt, dann hatte ich dieses Loch-im-Bauch-Gefühl. Also, ich find, du hast dann als Frau schon das Gefühl, dass dir da was rausgerissen wurde. Ich war unendlich traurig, wahnsinnig unglücklich über die Endgültigkeit des abgetriebenen Kindes, da war ich völlig am Ende, traurig, ja, untröstlich.
Sie war traurig, aber sie erlebte das Mitgefühl ihrer Freundinnen. So fühlte ich mich auch, mit einem Loch im Bauch. Wenn ich aber versuchte, mit meinen Freunden darüber zu sprechen, ging das nicht. Sie wussten nicht, was dazu sagen, wechselten peinlich berührt das Thema oder mussten plötzlich weg. Ich ahnte in diesen Tagen nur, dass mein innerer Junge in stürmischer See weit, weit abgetrieben wurde und ich alles, was in meiner Macht stand, tun musste, ihn eines Tages wiederzusehen.
Das ist ja eher immer so das Bild gewesen: Ich hab mich abgetrieben. Ich hab mich selber abgetrieben, ich hab mich damit abgetrieben eigentlich. Oder ein Teil von mir abgetrieben, ich glaub, damit hab ich dann ganz viel zu tun gehabt.
6. November 1981:
Eine kurze Szene meiner Ohnmacht und Hilflosigkeit:
»Was ist das für eine Art?!«, sagt sie, »Ich erzähle dir von mir und du hältst dir dein Tagebuch vors Gesicht.«
»Du wirfst mir vor, dass ich mir das Tagebuch vors Gesicht halte«, erwidere ich, »aber wer kümmert sich um mich?«
Wie vor und während des Abbruchs spielte ich auch in der Folgezeit keine Rolle, sondern war der sprachlose Komparse in einem Film, dessen Handlung ich nicht verstand. Der Schmerz um das abgetriebene Kind blieb, der Phantomschmerz. Mir wurde zwar nichts aus dem Körper gerissen, aber in Berlin brach mir der Boden unter den Füßen weg. Mit nichts als Trauer und Schuld im Gemüt überkam mich die große Sinnlosigkeit und ich vollzog den zweiten Abbruch: Ich brach das Studium ab und zog mich in mich zurück.
Ich glaube, ich hab mich dann einfach ein Stück weit mit der Situation abgefunden und hab dann, glaube ich, auch manches verdrängt einfach, es versucht wegzupacken und auch mit so einem gewissen Aktionismus darüber hinwegzugehen. Der Impuls kommt dann irgendwann, entweder du verstrickst dich in diese Depression und das war dann für mich irgendwann durch, ich wollte einfach ins Leben rein. Und hab das dann auch gemacht, in unterschiedlichster Form, um aus diesem Loch wieder rauszukommen.
Jeder von uns ging damals auf seine Weise mit dem Erlebnis um, jeder von uns ging andere Wege. Erstaunlich, dass wir uns, wie es viele andere Paare nach einem Abbruch tun, nicht trennten.
Ich glaub letztendlich schon, dass die Liebe zwischen uns so ne Verbindung war, die offensichtlich so ein Trauma ausgehalten hat. Ich glaub, wir waren einfach noch nicht am Ende unserer Liebe oder unserer Beziehung angekommen. Weshalb wir das dann doch gemeinsam weitergemacht haben, gemeinsam weitergegangen sind und nicht nur Unterschiedlichkeiten festgestellt haben.
Vier Monate nach dem Schwangerschaftsabbruch, im März 1982, regten sich in den Niederungen meiner Existenz die ersten Lebensgeister, mich aus meiner Ohnmacht zu befreien.
Ein Freund provoziert mich. Er kennt mein schwieriges Verhältnis zu meinem Vater und verlangt dennoch genervt von mir: »Dann sag deinem Vater doch: Ich bin ein Mensch ohne Mut, ohne Wille!«
Das saß. Niemals würde ich meinem Vater meine Schwäche eingestehen. In Berlin fasste ich keinen Fuß mehr, also machte ich mich auf die Suche nach einem neuen Platz in der Welt. Über die italienische Riviera, wo ich für einige Monate in einer Ferienwohnung von Freunden unterkam, reiste ich im Sommer 1982 nach Paris. Dort traf ich meine Lebensgefährtin wieder, sie besuchte eine Schauspielschule. Und ich, auf einem Rheinschiff aufgewachsen, fand auf der Seine den Ort meiner eigenen Kindheit wieder, ein Hausboot, der Boden, auf dem ich wieder Fuß fassen konnte. Unsere Liebe lebte wieder auf und lebte fort, aber die Angst, wieder ein Kind zu zeugen und abermals in den Abgrund zu stürzen, schwang als Damoklesschwert über jedem sexuellen Akt.
Ich hab ja auch zwei Fehlgeburten gehabt. Das heißt, da ist ja das gewollte Leben und das hab ich nicht gekriegt, was ja auch total traurig ist. Also, insofern ist das manchmal so makaber, dass ich denke, ich hab ja auch was hergeben müssen, es ist halt so. Wobei ich jetzt weiß, dass das nicht ungewöhnlich, aber ein Aspekt der Beziehung ist, über den ja auch wenig geredet wird: »Wie viele tote Kinder gibt’s denn in eurer Beziehung?« Ich mein, darüber unterhält man sich ja nicht, aber das ist ne Tatsache.
Nach einigen enttäuschten Hoffnungen und viel Trauer brachte meine Lebensgefährtin 1997 unsere gemeinsame Tochter zur Welt. Zehn Jahre später trennten wir uns als Paar und wurden zu Freunden. Noch heute sind wir untröstlich darüber, dass wir das erste Kind nicht bekommen haben. Immerhin können wir nun das tun, was wir uns damals versagt haben: ehrlich miteinander über den Abbruch sprechen.
Wenn man mir jetzt diese merkwürdige Frage stellen würde, »Was würden Sie anders machen in Ihrem Leben, wenn Sie es noch einmal anders machen könnten«, dann wäre das sicherlich ein Punkt, wo ich sagen würde: »Ich würde dieses Kind nicht mehr abtreiben.« Und – mit allen Konsequenzen, aus meiner jetzigen Sichtweise.
Ja, stellen wir uns vor, sie hätte das Kind bekommen. Stellen wir uns vor, wie sie und ich in den letzten Jahrzehnten gelebt, jenes andere Leben jenseits des gelebten Lebens geführt hätten. Es wäre möglich gewesen, wie auch immer, es wäre eines mit Kind gewesen. 2022 wäre dieses Kind 40 Jahre alt.