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DIE VIELSTIMMIGKEIT VON ELTERNSCHAFT

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Ein Chat mit Barbara Peveling, Katharina Picandet und Nikola Richter.

Anstelle eines Vorworts.

Barbara Peveling: Als ich die Idee für den Sammelband hatte, kam mir dieses Zitat in den Sinn: »Es braucht ein ganzes Dorf, um ein Kind zu erziehen«. Seitdem hat sich aber viel verändert. Gerade im letzten Jahr hatte ich extrem das Gefühl, es braucht nur mich, um aus meinem genetischen Material einen Menschen zu erziehen. Das ist ja schon eigentlich eine extreme Allmachtsphantasie – entstanden aus einer Situation purer Corona-Eltern-Verzweiflung mit lernbehindertem Kind.

Nikola Richter: Ich habe ein wunderbares Interview mit Naomi Klein im Freitag gelesen, in welchem sie vor einem »Screen New Deal« durch Corona warnt, »dass Kinder nur noch technologisch vermittelt lernen«, und stattdessen fordert, dass zum Beispiel mehr Lehrer*innen eingestellt und die Klassen verkleinert werden, dass also eigentlich die menschlichen Beziehungen unter uns – in kleinerem Rahmen – eher verstärkt werden sollten.

Katharina Picandet: Kleinere Klassen (und Kita-Gruppen und Patient*innen-Gruppen) sind auf jeden Fall notwendig, nicht nur als Alternative zu mehr Digitalisierung, sondern überhaupt. Das fordern ja jetzt auch die streikenden Kitas und Krankenhäuser. Das würde ich gar nicht so unbedingt an die Eltern-Kinder-Frage binden, sondern ganz allgemein sehen. Aber bei Familienthemen wird es dann virulent.

Nikola Richter: Es ist eben so eine Dichotomie: Einerseits sollen Familien, wie auch immer sie gestaltet sind, ihren Nachwuchs selbstverantwortlich aufwachsen lassen, und andererseits greifen der Staat und der öffentliche Diskurs wie selbstverständlich in die Körper und in die Erziehung ein. Davon schreibt ja zum Beispiel Björn Kern in seinem Text: Wie die Kitadauerbetreuung eigentlich ein kapitalistisches System verdeckt. Durch Corona wurde das dann überdeutlich: Eigentlich ist ja sogar Homeschooling in Deutschland nicht erlaubt (oder nur in sehr besonderen Fällen), und auf einmal wurde das der erwünschte Regelfall.

Barbara Peveling: Schon mit dem Schwangerwerden wird die Verantwortung im Kontext der Reproduktion ausgelagert, womit sich Antje Schrupp intensiv auseinandersetzt: Wieviel Entscheidungsfreiheit haben Menschen, die in Körpern leben, die schwanger werden können, und wie weit darf der Staat, die Gesellschaft da eingreifen? Um wieder auf Naomi Klein zurückzukommen: Wie kann man im Gesamtkontext der Reproduktion Fortschritt mit positiver Lebensqualität verbinden?

Nikola Richter: Ich finde hier zwei Aspekte interessant: Was ist positive Lebensqualität und inwiefern gehört die Reproduktion dazu?

Wer reproduziert sich? Was verändert sich innerhalb der Reproduktionsgrundlagen? Welche ökonomischen, welche sozialen und welche lokalen Grundlagen unterstützen oder erschweren Reproduktion? Die Tatsache, dass Männer etwa immer unfruchtbarer werden, wohl auch durch Umweltverschmutzung, industrielles Essen, mit Medikamenten versetztes Wasser, hat es sogar im September auf das Cover einer Ausgabe des Spiegel geschafft: »Der unfruchtbare Mann«. Aber sind wir, ganz grob gesprochen, nicht Teil der Menschheit, dieser Spezies, und wir reproduzieren uns als Spezies in Beziehung zu anderen Spezies? Stehen wir nicht auch in einer Verantwortung, uns unter vielen anderen Lebewesen nicht zu viel Platz zu gönnen? Hat das Anthropozän nicht schon zu viel zerstört? So wird es selten gesehen, stattdessen stellt sich das Individuum hin mit seinen Genen und will »Sich-Selbst« reproduzieren. Diese Frage des »Was gebe ich weiter?« wird dann eng an spezifische Mutter- und Vaterrollen gekoppelt, die vehement in unserer Gesellschaft und auch in unserer Anthologie diskutiert werden.

Katharina Picandet: Das stimmt. Eigentlich steht das Individuum, scheint mir, oft im Zentrum der Diskussion: das Recht, entscheiden zu dürfen, ob und wann man selbst schwanger wird – oder schwanger bleibt; das Recht, den Kinderwunsch zu erfüllen, z. B. eben mithilfe der Reproduktionsmedizin; das Recht auf pränatale Diagnostik oder eben das Recht, auf solche Diagnostik zu verzichten, und dann aber auch wieder das Recht auf eine Gesellschaft, die etwa Kinder mit Down-Syndrom teilhaben lässt und ihnen Raum schafft, usw. usf. Das sind alles Rechte, die ich unbedingt verteidigen möchte. Die auch die Anthologie verteidigt. Diese Rechte alle zu haben, das ist für mich positive Lebensqualität. Und trotzdem kann man diese Rechte nicht unabhängig von der Gesellschaft sehen. All diese Entscheidungen betreffen ja nun mal ein neues Mitglied dieser Gesellschaft, bzw. die Gesellschaft hat eben weniger neue Mitglieder, wenn es jetzt um das Recht geht, keine Kinder zu bekommen. Interessanterweise wird ja einerseits den Kinderlosen (Ausnahme: die ungewollt Kinderlosen) Verantwortungslosigkeit vorgeworfen, keine späteren Rentenzahler zu produzieren, platt gesagt. Andererseits wird genau das, also Verantwortungslosigkeit, auch Eltern vorgeworfen, weil sie neue CO2-Verursacher produzieren. Die Verantwortung, Kinder zu kriegen (oder eben vielleicht auch, sie nicht zu kriegen), ist für mich auch eine Verantwortung gegenüber der Spezies. Die eigenen Entscheidungen betreffen immer alle, und umgekehrt. Und deswegen ist es auch so immens wichtig, sich gesellschaftlich mit diesen Fragen auseinanderzusetzen, und nicht individuell.

Barbara Peveling: Ja, das stimmt. Aber genau da gibt es für mich eine Schieflage in unserem gesellschaftlichen Bewusstsein.

Denn der gesellschaftliche Blick greift immer zu kurz. Als Beispiel der Text von Assaf Alassaf: Ein syrischer Vater muss sich im Kontext der Flüchtlingskrise in Deutschland neu erfinden. Muss das sein? Bei Andrea Karimé muss ein Vater im Kontext früherer Einwanderung um Anerkennung kämpfen und lässt stattdessen die Missachtung seiner Tochter in der alten Heimat zu. Der Konflikt um Ressourcen hängt auch immer mit Reproduktion zusammen. Aber unser Blick ist immer nur begrenzt. Darauf weist der Text von Leonhard F. Seidl sehr deutlich hin. Der Nachwuchs stellt in unseren Breitengraden oft ein ganz individuelles »Projekt« dar. Und grenzt dann auch Körper, Geschlechter, Herkünfte und Kulturen ein.

Nikola Richter: Ja, es ist schwierig. Aber im Grunde genommen erfindet man sich sein gesamtes Leben lang selbst. Das Abenteuerliche daran ist ja, dass man sich die Kinder nicht aussuchen kann, die man bekommt, auch mit Pränataldiagnostik ist das nur sehr begrenzt möglich, und dass sich Kinder die Eltern nicht aussuchen können. Emine, eine Nachbarin, erzählte mir, als ich schwanger war, dass es drei Monate brauchen würde, bis man sein Baby kennt, wenn es auf der Welt ist. »Gebt euch Zeit«, sagte sie. Das fand ich sehr weise. Und es dauert das gesamte Leben, ob es lang oder kurz ist, egal. Und parallel zu diesem Kennenlernprozess verhandelt man noch die vielen Rollenerwartungen und Klischees, die die Kinder-Eltern-Beziehungen weiter beeinflussen und verändern.

Das gefällt mir so gut an der Anthologie: Dass viele der Texte so biografisch sind, so wenig allgemeingültig, weil eben jede Kinderkriegen-Situation eine andere ist. Auch wenn sich der Staat oder die Gesellschaft das einheitlicher wünschen. Viele Texte lesen sich so, als ob ein guter Freund oder eine gute Freundin die intimsten Erfahrungen preisgibt. Mit viel Liebe, Weisheit, Lebensmut. Anhand der individuellen Geschichten blitzt dann aber auf, wie sehr wir von außen und von anderen geprägt werden und wie schwierig es ist, diese Wege anders zu gehen, als man selbst und andere gedacht haben.

Katharina Picandet: Ja, das finde ich toll an diesem Buch – die vielen individuellen Sichtweisen. Die Rollenerwartungen, die der oder die Einzelne erfüllen zu müssen meint, betreffen jedes Individuum. Aber andererseits ändert eben auch das Verhalten jeder/s Einzelnen langsam die Norm: arbeitende Mütter als Vorbilder, fürsorgliche Väter als Vorbilder, männliche Erzieher … All das ist dann so wichtig für die nächsten Generationen, aus der Enge herauszukommen, das Überkommene, Übernommene zu hinterfragen. Und immer wieder wird deutlich, dass man sich wohl nur bis zu einem bestimmten Grad einigen wird, dass immer auch Unvereinbares bestehen bleiben wird. Das wiederum ist dann vielleicht die – ebenfalls wünschens- und verteidigenswerte – Freiheit der Familie, z. B. religiöse Werte an die eigenen Kinder weiterzugeben, anstatt abzuwarten, ob sie sich vielleicht als Atheisten entpuppen.

Aber dann wiederum: Nehmen wir den Beitrag von Martine Lombard über ihre geistig behinderte Nichte und deren Kinderwunsch. Alle Beteiligten sind voller Wärme und Verständnis, niemand handelt »falsch«, nicht die Schwester, nicht die Großeltern, alle sind ehrlich bemüht und offen. Und trotzdem entzieht sich die Nichte mit ihrem Kind der Kontrolle der Familie, welche sie als Bevormundung empfindet. Aber was wäre die Lösung? Noch mehr gesellschaftliche Kontrolle, durch das Jugendamt? Wahrscheinlich, aber ich merke schon, dass ich mich damit auch nicht wohlfühle.

Barbara Peveling: Das Dramatische an dem Text von Martine Lombard ist für mich die Rolle des Mannes, der eigentlich als Schutz gegen die Bevormundung, wie du sie beschreibst, eingesetzt wird – und andererseits somit eine Freiheit bekommt, die wieder eine andere Form der Gewalt erlaubt.

So wird der Mikrokosmos, die Keimzelle der Reproduktion doch wieder zu einem Pars pro Toto des gesellschaftlichen Ganzen und darüber hinaus spielt sich dieses Drama oft auch »nur« im Körper der Frau ab. Mich hat überrascht, dass trotz aller Fortschritte und existierendem männlichen positiven Willen zur Gleichstellung Frauen in der Reproduktion und ihren Folgen doch meist noch sehr alleine stehen.

Das hat mich auch sehr in dem Text von Julia Faust berührt. Die Beziehung zu dem Kind bleibt bestehen, auch über den Tod hinaus, und es ist die Mutter, die das hält und aushält. Auch hier kommt der Körper immer wieder ins Spiel.

Nikola Richter: Etwas überspitzt: Der Frauenkörper wird stetig überwacht, verwaltet und auch verkauft, bis hin zu Leihmutterschaften, aber die Mutter mit dem Kind wird eher alleine gelassen.

Im Gegensatz dazu, wie sonst über Mutter- und Vaterschaft geschrieben wird, etwa in Ratgebern oder Schwangerschaftsbibeln, kommen in dieser Anthologie viele Zwischentöne vor; die eben die eigentlichen Töne sind. Was passiert mit mir, wenn mein Körper nicht so funktioniert wie ich will, wie andere wollen? Was passiert mit meiner Beziehung, wenn es mehrere Meinungen zu einer Schwangerschaft gibt? Was passiert mit mir, wenn ich meine Rolle in einer Familie nicht finde, ob mit Kind oder ohne? Ich liebe dieses Zitat von Ulrike Draesner: »Elternschaft bedeutet immer wieder eben dies: zwei Personen zu sein. Zwei Perspektiven zu sehen, die des Kindes, die eigene.«

Katharina Picandet: Und das sind ja auch noch Perspektiven, die sich im Laufe der Zeit sicherlich ändern.

Vielleicht ist es auch manchmal noch schwierig, aus der eigenen familiären Prägung herauszugucken. Wir waren alle klein und haben wahrscheinlich so alte Vorstellungen davon, was eine gute Mutter, ein guter Vater, eine heile Familie zu sein hat usf., dass wir gar nicht mehr wissen, woher diese Vorstellungen eigentlich gekommen sind. Ich glaube, dass man sich das wirklich immer nur zum Teil klarmacht, vielleicht an einschneidenden Erlebnissen: »Das war für mich damals so schlimm, das will ich für meine Kinder auf keinen Fall«, oder so. Seit ich die ersten Beiträge für Kinderkriegen. Reproduktion reloaded gelesen habe und ab und zu mal davon erzähle, fällt mir auf, wie schnell oft eine Meinung da ist, zu einem Thema, mit dem sich diejenigen aber bestimmt noch nicht so intensiv auseinandergesetzt hatten: Was mache ich mit vor Jahren eingefrorenen Eizellen, ob befruchtet oder nicht? Ist eine Frau, die ein Kind austrägt, eher »die Mutter« als die, die die Eizelle gespendet hat – selbst wenn es zwei Väter sind, die das Kind aufziehen? Das fand ich schon erstaunlich. Bei anderen Themen wäre man ja doch vielleicht zurückhaltender und würde sich erst informieren. Aber bei Körpern, bei Familie, bei Schwangerschaft – da hat jede*r gleich eine Meinung.

Aber die Erfahrung zu machen, oh, das kann man genauso vehement auch ganz anders sehen, das bedeutet ja wieder, in eine Debatte zu kommen, die Verhältnisse zu ändern. Auf Fragen, die sich in den letzten Jahren mit neuen technischen Möglichkeiten aufgetan haben, werden oft noch so alte Wertmaßstäbe angewendet. Das muss man doch überdenken.

Barbara Peveling: Und es existieren sehr viele Tabus. Claudia Klischat stellt sich in ihrem Schreiben ja extrem diesen Vorurteilen. Auch für die Autor*innen war es, denke ich, nicht immer einfach, sich der eigenen Thematik und Geschichte zu stellen.

Über diesem ganzen Wust aus Fragen, Einbahnstraßen, Ängsten und sozialen Tabus steht dann immer wieder für mich die menschliche Begegnung. Wie in dem Text von Veit Johannes Schmidinger, in dem Moment, in dem es zu einer Berührung zwischen der Leihmutter und dem Vater (sozial und biologisch) kommt, wird eine Tür menschlicher Erfahrung geöffnet, die überwältigend ist.

Soziale Reproduktion ist mit viel Kontrolle, vor allem körperlicher, aber auch mit sozialen Tabus und traumatischen Erfahrungen belegt.

Ich habe mich oft auch gefragt, wieso bleibt die Mutter so allein, heute noch, und in vielen Texten, wie bei Dagmar Quadder, Simone Hoffmann, obwohl es Männer gibt, die sehr weit mitgehen, wie zum Beispiel Egon Koch in dem Text über Abtreibung.

Nikola Richter: Alle Autorinnen und Autoren, wir haben jetzt nur ein paar ganz exemplarisch in unserem Chat namentlich genannt, öffnen mit ihren Texten Türen und auch Herzen, so kitschig das klingt, und die können dann Gesprächsanfänge sein. Über all das, was so oft ungesagt bleibt, weil es schwierig ist, darüber zu sprechen. Jetzt kann man zumindest davon lesen – und dann selbst entscheiden, wie man weiterdenken möchte. Die Vielstimmigkeit von Elternschaft zu spüren, ist definitiv enttabuisierend.

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