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Karl Grünberg

NOCH EIN KIND?

Ich sage jetzt einfach mal, wie es ist: Meine Freundin möchte noch ein Kind. Liegt mir in den Ohren. Hat schon diese Fruchtbarkeits-App installiert. Und ich? Reagiere ausweichend. Und schäme mich ein bisschen dafür. Noch eins? Noch einmal all den Stress?

All das Nichtschlafen. All das Trösten, das Gejammere, die vielen Windeln, die vielen Tage Bettwache wegen Fieber oder geschwollenem Zahnfleisch. Tragen, Pflegen, Hegen. Mittendrin die Arbeit unterbrechen, weil die Kita anruft. Die Sorgen, ob alles okay, ob alles gesund, ob alles normal ist. Nachts aufwachen, rüberschauen, auf den Atem lauschen. Das Jonglieren der unterschiedlichen Bedürfnisse, die zu einer Familie gehören. Die vielen Stunden und Tage und Wochen, die ich auf Spielplätzen verbringe und verbracht habe, die möchte ich gar nicht zusammenzählen.

Ich höre mich sagen, dass ich ja auch nicht mehr der Jüngste sei. Braucht die Welt wirklich noch ein Kind – und braucht die Welt wirklich noch ein Kind von mir? Ich möchte doch einfach mal auf der Couch sitzen und nicht verantwortlich sein.

Ein Freund von mir ist mit seiner Familie nach Eberswalde gezogen, das liegt vor den Toren von Berlin, hat eine Bahnanbindung, einen Zoo und Naturschutzgebiete. Der ist so ein Survivaltyp, rennt in den Wald, schießt mit dem Bogen, baut sich Unterstände für die Nacht. Seine Frau möchte auch noch ein zweites Kind. Und er sagt: »Das ist die beste Frau der Welt, wenn sie noch eins will, dann muss ich ran.«

»Machst du dir gar keine Sorgen um den Meeresspiegel? Die Ernährungslage? Wer weiß, ob wir in zehn Jahren überhaupt noch für unsere Kinder sorgen können?«, frage ich ihn. »Nein, das ist Natur. Wir Menschen können sterben. Auch mein Kind kann sterben. Wenn es so ist, ist es so. Soll ich aber im Gedanken daran oder in Angst davor, dass das passieren kann, kein Kind bekommen? Ich kriege meine Familie schon ernährt«, sagt er, spannt den Bogen an und hämmert seinen Pfeil in die 40 Meter entfernte Zielscheibe.

Ich bin nicht produktionsfaul. Nein, ich habe mein Soll für Deutschland schon erfüllt, mit zwei Kindern sogar quasi übererfüllt. Das erste Mal bin ich mit 21 Jahren Vater geworden, noch bevor mein Studium losgegangen war. Noch bevor ich auch nur eine Vorlesung besucht hatte, hatte ich schon zwei Nebenjobs, um mir das Kind auch leisten zu können. Ich gebe zu, es war nicht unbedingt geplant. Vor der Geburt hatte ich Panik und dachte, dass mein Leben vorbei sein würde. Es kam dann, wie es kam – anders.

Wenn man all in ist, dann ist man all in. Rausmogeln, Unsichtbarwerden, das gab es für mich nicht.

Ein Bekannter, auch ein Vater, versteht es wunderbar, immer erst mal auf seine Bedürfnisse zu achten, damit es ihm gut geht. Erst mal eine Pause, erst mal mit Freunden treffen, erst mal Fußball spielen gehen. Er schafft es immer wieder, sein Kind wegzudelegieren. »Kannst du mal kurz halten, ich muss mir nur rasch einen Kaffee machen«, sagt er dann und wird für die nächsten 30 Minuten nicht mehr gesehen. Wenn das Delegieren nicht klappt, kriegt er schlechte Laune und kann sich noch weniger kümmern. Logisch. Auch eine Strategie, um seine Ruhe zu haben. Nun haben er und seine Frau sich getrennt.

Beim ersten Kind habe ich alles rund ums Vatersein aus dem Bauch heraus gemacht, ohne viel Kopfarbeit. Viel rausgehen, viel vorlesen, viel kuscheln, viel Eis essen und ansonsten »immer mit der Ruhe«. Ja, das Fieber wird schon runtergehen. Nein, sie wird nicht vom Baum stürzen. Sie wird ihren Weg schon gehen. Und natürlich musste ich meinen Weg auch erst gehen. Wir sind quasi zusammen groß geworden, meine Tochter und ich.

Ja, es war schwierig. Andere machten Party oder Erasmus. Ich war verantwortlich. Andere bekamen Bafög oder Geld von den Eltern. Ich ging arbeiten. Andere bastelten an ihren Karrieren. Ich besuchte mit meiner Tochter die günstige Kino-Nachmittagsvorstellung, wir schauten Pippi Langstrumpf und dazu kauten wir die reingeschmuggelten Gummibärchen, Popcorn konnten wir uns nicht leisten. Später gestand mir meine Tochter, dass sie immer furchtbare Angst hatte, erwischt zu werden.

Die Klamotten waren dritter Hand. Die Ausflüge führten in den Stadtwald oder an den Stadtsee, immer mit der S-Bahn oder dem Fahrrad. Und zu essen gab es Selbstgeschmiertes. Ja, es war ein riesengroßes Provisorium, oft musste das Kind nebenbei passieren, neben dem Schreiben der Hausarbeiten, neben dem Arbeiten. Das Kind war nicht mein Projekt, stand nicht im Mittelpunkt. Wir mussten einfach schauen, dass alles klappte. Ich erklärte ihr die Welt, dachte mir Geschichten aus, war Sicherheit und Trost.

Nur ich hatte keinen zum Drüberreden. Die anderen Väter aus der Kita waren alte Säcke, fand ich. Über 35, was sollte man mit denen schon groß bereden? Ich erinnere mich auch noch sehr gut an die Einsamkeit, als meine Freunde Silvester um 22 Uhr zum Feiern loszogen und ich allein mit Tochter in meiner WG blieb. Um Mitternacht weckte ich sie, um ihr das Feuerwerk zu zeigen. Sie war nicht interessiert.

In die WG war ich deshalb gezogen, weil meine Beziehung in die Brüche gegangen war, weil wir jung und dumm waren. Aber wir schafften es, friedlich zu bleiben, und teilten uns Pflichten und Kinderzeiten gerecht auf. Hälfte, Hälfte. Wenn der eine was hatte, einen Termin, eine Abgabe, eine Fortbildung, sprang der andere ein und umgekehrt.

Heute bin ich selbst dieser alte Sack. 38. Meine Tochter ist jetzt fast 17 und wohnt seit drei Jahren komplett bei mir, bei uns. Sie ist größer als ich, ist stärker als ich. Rettungsschwimmerin. Hat bei einem Jugendverband eine eigene Kindergruppe. Kümmert sich selbst um ihre guten Noten. Wäscht ihre Wäsche selbst. Kocht für sich. Ab und zu lehnt sie sich aber noch an meine Schulter und sagt, »Ich hab dich lieb, Papa.«

Mein Sohn ist fast vier – und auch diesmal ist alles anders. Erstens hat er oft seine Mutter viel lieber als mich. Mit mir toben will er. Spielen. Lego bauen. Aber mit mir kuscheln? »Nö, du piekst«, sagt er schlau, und dagegen kann ich schwer was sagen.

Der größte Unterschied zwischen damals und heute ist: Ich bin aufmerksamer, mehr da, ich bin weniger getrieben als mit Anfang zwanzig, als alles existenziell war. Und auch heute mache ich mit meiner Partnerin alles halbe-halbe: Haushalt, Einkommen, Kind. Sie will was von ihrem Beruf. Ich will was von meinem Beruf. Also schmeißen wir uns die Bälle zu. In den ersten Kinderjahren bildete sie sich fort, war im ganzen Land unterwegs und ich mit Sohn bin ihr hinterher gereist. So konnte man einen Mann mit Bart und Kind vor dem Bauch durch Schneewälder und Sommerstädte stapfen sehen. Immer im Drei-Stunden-Radius um die Mutter herum. Denn dann mussten wir wieder da sein, zum Stillen.

Ich bin heute viel mehr in Sorge als damals. Wie oft ich »Achtung« oder »Aufpassen« oder »Vorsicht« sage! Ich gehe mir schon selbst auf die Nerven. Sehe überall Gefahren und Hindernisse, die ich für meinen Sohn aus dem Weg räumen zu müssen glaube. Was natürlich Quatsch ist. Aber es fällt mir schwer, das zu unterdrücken. Neulich musste er operiert werden, nichts Schlimmes, aber mit Vollnarkose. Und als er dann dalag, betäubt und hilflos, wurde mir ganz anders. Vielleicht war es, weil er außerhalb meiner Reichweite war, an einem Ort, an dem ich ihn in diesem Moment nicht beschützen konnte.

So. Nun aber soll noch eins her. Ein Geschwisterkind. Ihr zweites, mein drittes. Puh. Ich habe wirklich nichts gegen Kinder. Meine zwei zu sehen, ihnen zuzuhören, mit ihnen rumzualbern, sie zu nerven, erfüllt mich mit unbändiger Lebensfreude. Aber noch eins? Wenn das dritte ausgewachsen wäre, dann wäre ich 55, 56, 57 Jahre. Ein richtig alter Sack, der den größten Teil seines Lebens mit Kindergroßziehen verbracht hätte. Ich bin ja jetzt schon so müde.

Ich schätze, das dritte Kind kommt dann einfach, wenn ich nicht mehr so viel darüber nachgrüble.

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