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HERZTÖNE HÖREN
ОглавлениеThe lioness has rejoined her cub.
And all is right in the jungle.
Quentin Tarantino, Kill Bill
Anfang und Ende jeder Existenz sind zwei Nullstellen, die zu einer werden, und was dazwischen liegt, ist ein Traum. Welten wie diese zum Beispiel: Ein Paar beschließt nach einer gemeinsamen Liebesnacht, ein Kind zu bekommen. Man ist nicht mehr bei Null, sondern hat sich im Leben eingerichtet, das Studium beendet, einen Job oder zwei, den ersten Bausparvertrag. Sie entsorgt die Pille, er trinkt Kaffee und blättert in der Zeitung. Nur Wochen später pinkelt er auf einen weißen Stab, den sie zitternd in den Händen hält oder umgekehrt, egal, jedenfalls gibt es da in einem weißen Fenster sowas von einem blauen Streifen und dazu, gratis sozusagen, noch ganz viel Glück. Das Wesen des Daseins ist seine Existenz, sagt Heidegger. Am Anfang ist der Gedanke, das Ausbleiben einer Blutung, ein blauer Strich auf einem Teststäbchen und ganz viele Nervenzellen, die alle um einen Punkt kreisen.
Wenn aus dem Traum ein Albtraum wird, erlebt frau das: Plötzlich bist du nicht mehr allein, sondern in deinem Innern wächst was. Wer hat es hergerufen? Du nicht. Aber schuld bist du allein, denn du hast nicht aufgepasst. Du, nicht er. Denn das war nicht abgesprochen und schwanger werden kannst ja nur du, die Frau. Er hat das nicht gewollt. Über ihn ist das sowas von hereingebrochen. Vaterwerden stand nicht auf seinem Projektplan. Ficken schon.
Trotzdem begleitet er dich zur Schwangerschaftsberatung. Ja, so heißt das nun mal, denn eine Zeugungsberatung gibt es nicht und du fragst auch nicht wieso. Es geht ja hier nur darum, was du unternimmst und mit dir, dieses Ding in dir, von dem du nichts weißt, außer dass es ein Parasit ist, der sich plötzlich und unerwartet in dein Leben frisst.
– Das können Sie nur allein entscheiden. Erklärt dir die Frau von pro familia. Wie sie entscheiden würde, sagt ja der Name ihres Arbeitsgebers, pro, sonst säße sie ja nicht vor euch beiden und du würdest am liebsten auch nicht hier sitzen. Der Erzeuger hat nicht viel zu sagen, außer, dass er nun mal nicht will, es ist nicht der richtige Moment, er hat gerade einen Studienplatz bekommen, einen neuen Job, sein ganzes Leben noch vor sich, so wie du auch, und ihr wollt ja eigentlich zusammen bleiben und Kinder haben, nur später dann, aber entscheiden kann er auch nicht für dich.
Before that strip turned blue, sagt Beatrix zu Bill und lässt sein Herz explodieren.
Wenn du die Five-Point-Palm-Technik anwenden könntest, würdest du es jetzt und vor der Beraterin tun. Stattdessen sagst du nichts und weinst, weil lächeln jetzt einfach nicht passt, und fragst dich, wie du noch eine Entscheidung treffen sollst, die dein Körper schon längst und ganz allein und vor allem, ohne dich zu fragen getroffen hat. Du kannst deinem Körper nur noch Gewalt antun, fünf Schritte rückwärts, und dann bricht hoffentlich deine Welt nicht zusammen, sondern eine neue tut sich auf, eine andere Wahl hast du nicht und so überlegst du dir, ob es Sinn macht, in diesem Augenblick deines Lebens eine Münze zu werfen.
Eine Münze hat zwei Seiten, und eine Schwangerschaft auch: gewollt und ungewollt. Ach, wenn wir doch Tiere wären, die gehorsam ihren Instinkten folgten, wir müssten nichts entscheiden, sondern nur unseren Trieben folgen. Aber nein, die hat man uns abtrainiert, Motivationen nennt sich das. Schließlich ist es gerade die Überwindung der Primärtriebe, die uns Menschen nach Freud über das rudimentäre Bewusstsein hinaustreibt. Wer fragt schon eine Kuh, ob sie befruchtet werden will? Und wenn wir schon mal beim Treiben sind, so tröstest du dich damit, dass ungewollte Schwangerschaften in Deutschland abgetrieben werden dürfen.
Du machst dich also nicht strafbar, du musst nur zum Frauenarzt gehen, dir deinen Beratungsschein holen und den Termin machen, dann ist alles vorbei. Dann bist du wieder a woman, wie auch Beatrix in Kill Bill vorher nur eine Frau war, seine Frau, du fürchtest, dass du das nie wieder sein wirst, die seine, weil du instinktiv spürst, dass vorher und nachher nicht mehr identisch sein können, wie auch Beatrix schon zu Bill gesagt hat.
Du bist nicht mehr du, du reagierst wie ein Automat, du wartest darauf, dass andere etwas unternehmen, dir Zettel ausstellen zum Beispiel, damit du dahin gehen kannst, wo deine Körperprozesse einfach abgestellt werden. Du lässt dich vom Erzeuger zum gynäkologischen Termin fahren und du wirst niemals in deinem Leben vergessen, wie er die Beule hinten in den Kofferraum fährt, es ist der Wagen deiner Mutter und du bist Anfang zwanzig und er auch und das ist vielleicht euer einziges Verbrechen und dann noch die Tatsache, dass die Gesellschaft dafür keine Räume hat, für jung, verrückt, leichtsinnig, gedankenlos, willenlos und wahnsinnig glücklich und dann bist du schwanger und I never thought you would do that to me, sagt Beatrix und du auch und sprichst vom Auto, meinst aber eigentlich dein Herz.
Ihr sitzt in der Wartekammer der Zeit, seid zu früh aufgebrochen, habt euch nicht abgesprochen mit dem Leben und euren Plänen. Du willst, er nicht, so ist das nun mal. Aber dass es dabei um noch viel mehr geht, als um gewollt und ungewollt, das ignoriert ihr beide, denn so habt ihr es gelernt, es gibt Verhütungsmittel, die Pille danach in der Apotheke und Aufklärung und zur Not eben Abtreibung, alles ist planbar, Familienplanung, Lebensplanung, so lang die Rechnung aufgeht, läuft alles wie auf dem Fließband, Familie wird zum richtigen Zeitpunkt geliefert.
Du bist immer mitgelaufen, hast gemacht, was Frauen eben machen sollen, sich zum Beispiel rechtzeitig um die Verhütung kümmern. Du erinnerst dich, du warst in der zehnten Klasse. Eine Freundin musste zum Gynäkologen und weil du noch nie dahin gegangen warst und alle dir sagten, dass du das aber auch mal machen müsstest, kamst du mit. Du warst sechzehn und hattest einen Freund, ihr wolltet euch noch Zeit lassen, ihr hattet es nicht eilig. Er war dein erster, und sein Körper, viel härter als deiner, knochiger auch, genau wie sein Denken, spitzer als deines, das ganze Fremde an ihm, machte dir Angst.
- Es ist nicht schlimm, wenn du mich nicht zum Abspritzen bringst. Das hatte er in der ersten Nacht gesagt und du hattest beschlossen, dass er der Richtige war, weil er so cool war, dich trotz deiner Angst vor dem Austausch von Körperflüssigkeiten nicht sofort wieder fallen ließ. Schließlich hatten dir vor ihm schon zwei Typen einen Korb gegeben, weil du zu spröde warst, dich nicht anfassen lassen wolltest. Beim ersten hast du keine Luft mehr bekommen, so dick war seine Zunge in deinem Mund, so feucht, so allumfassend, dass du einfach zubeißen musstest, beim zweiten war es die Hand, die dir immer in die Hose rutschen wollte und die dich in Panik versetzte, Angst vor dem, was dann kommen würde, was er dir dann hineinschieben würde, nach seiner Hand.
Anfassen war überhaupt schwer, anfassen mochtest du nicht, nicht mal dich selbst, zu Hause erledigte das bei dir der Duschstrahl, denn anfassen war Sünde.
Beide Jungs hatten dir noch Briefe geschrieben, du wärst ja echt süß, nett, sogar richtig schön, aber sie bräuchten ja mehr, das würdest du sicher verstehen, und du hast das noch so freundlich gefunden, obwohl sie dann nur wenige Tage später schon mit irgendeinem anderen Mädchen unterwegs waren, die älter war als du und von der alle wussten, dass da was ging. Du hast die Briefe nicht aufbewahrt, das nicht, aber du fandest es lieb von ihnen, sie haben dich immerhin vorher aufgeklärt. Und so war der feste Freund mit sechzehn, genau vier Jahre vor deiner ungewollten Schwangerschaft übrigens, eine richtige Befreiung, ein Glücksfall, er würde dich behalten, bleiben wollen, selbst wenn du ihn nicht zum Höhepunkt bringen konntest. Und genau wegen seiner Geduld und deiner Scham wolltest du auch mal so richtig nett sein und diese Scham für ihn allein überwinden. Also hast du gerubbelt, geblasen und bist sogar auch selbst oft mit ihm gekommen, das alles, bevor du dann beim Frauenarzt auf der Liege lagst.
- Haben Sie einen Freund?, fragte der und pulte mit der Spekula in deiner Scheide herum.
- Ja.
- Dann müssen Sie die Pille nehmen.
Das Rausziehen tat weh, du warst trocken und wusstest damals noch nicht, dass es ungemein hilft, wenn frau sich bei der Untersuchung nur auf ihren Atem und nicht auf das Geplapper des Gynäkologen konzentriert.
- Aber wir haben das noch nicht …
Das hättest du ihm nicht sagen müssen, er hatte dein Jungfernhäutchen sowieso gesehen, aber das war dir damals nicht klar. Später ist es dann gerissen, in einem Kornfeld, und als du das Blut in deinem Höschen entdecktest, warst du sowas von stolz.
- Das spielt keine Rolle, ich kenne die Männer, schließlich bin ich selbst einer. Wenn Sie mal eine vergessen, nehmen Sie die Pille am nächsten Tag einfach weiter.
Er drückte dir das Rezept in die Hand. Und weil gleich gegenüber eine Apotheke lag, hast du es eingelöst. Die Liste der Nebenwirkungen, die du dabei ignoriertest, war lang: Hormone zu nehmen, wie Tiere in der Massenhaltung, setzte dich einem erhöhten Thrombose- und Krebsrisiko aus. Dazu hattest du den Arzt auch befragt, er aber nur den Kopf geschüttelt, als wären das alles nur Fake News und du auch noch so dumm, daran zu glauben.
- Ich nehme jetzt die Pille!, hast du dem Freund zugerufen, als hättest du einen Literaturpreis gewonnen. Er hat dich mit großen Augen angesehen, unsicher, ängstlich auch, aber wahrscheinlich war das der Moment, in dem er sich endgültig und wahrhaftig in dich verliebt hat. Ihr seid ziemlich glücklich gewesen, habt euch sogar verlobt. Mindestens bis zum Abitur. Bis zu dem Moment, als er dir mitteilte, dass du zwar die Erste in seinem Leben warst, aber nicht die Einzige bleiben konntest. Seine Eltern hätten gesagt, er solle noch was anderes ausprobieren, sonst würde er es bereuen, er müsse sich die Hörner abstoßen, das sei doch klar. Du bist aufgestanden, hast die Pillenpackung genommen und jede einzeln aus dem Fenster auf die Straße geworfen.
Als er ging, hast du nichts gesagt, sondern hinausgeschaut, die Autos beobachtet, wie sie über die kleinen weißen Pillen fuhren, sie platt auf den Asphalt drückten, und du hast da gestanden, ihnen zugesehen und dir vorgestellt, es sei dein Herz, dass da unten lag.
Was danach kam, war einfach nur ein sehr großes, vollkommenes, kräftiges Leiden. Werther war nichts dagegen. Glaubtest du. Du warst auf Entzug, und dein Körper rebellierte, du konntest keine Nahrung mehr aufnehmen, nichts ging mehr und dass deine Tage irgendwann nicht mehr kamen, ist dir eigentlich erst ein halbes Jahr später aufgefallen.
- Amenorrhö.
War die Diagnose der Frauenärztin, zu der du dann gingst, und dass du erstmal wieder Gewicht zunehmen müsstest, dann würde die Periode schon von alleine kommen.
Aber sie kam nicht. Deine Höschen blieben leer und trocken wie die eines kleinen Mädchens.
Die Frauenärztin verschrieb dir die Pille, damit du wieder deine Regelblutung bekommen würdest, künstlich sei besser als nichts. Aber der Meinung warst du nicht, du hattest keine Lust mehr auf das Brustspannen, auf Krebsrisiko, auf Hormone in deinem Körper, auf die Stimmungsschwankungen und Gewichtzunahme, überhaupt, hatte nicht aller Liebeskummer mit der Pille angefangen?
Dann bist du ihm begegnet. Deinem Orion. Dem Typen, den du dir an deinen Himmel geworfen hast und den niemand mehr da runterholen konnte. Weil er eine tiefe Ablehnung gegen alles Begrenzende hat, im Denken, aber auch was alles Körperliche betrifft, ging das mit Kondomen nicht.
Du bist die Tochter einer betrogenen Generation, deren Mütter sich eingeredet haben, dass sie jetzt selbstbestimmt wären, weil sie ein eigenes Konto hatten, wählen gehen und im Notfall auch mal abtreiben durften.
Ins Behandlungszimmer gehst du allein. Orion bleibt im Wartezimmer und läuft dort sein Sternbild ab. Was sollte ein Mann auch beim Frauenarzt, es sei denn, seine Frau ist schwanger und er will den Knirps auf dem Monitor sehen, aber genau das will Orion ja nicht.
Die Gynäkologin ist dir fremd, jemand hat sie dir empfohlen, du bist neu in der Region, kennst dich nicht aus, dein Studium hat gerade erst angefangen und du hast nicht geplant, schwanger zu werden, jedenfalls nicht jetzt. Überhaupt brauchst du ja nicht mehr von ihr als den Beratungsschein, das grüne Licht. Vor der Untersuchung sitzt die fremde Frau an ihrem Schreibtisch und redet lange auf dich ein. Sie sagt, sie hat zwei Kinder. Keines davon selbst geboren, sie kann keine Kinder bekommen, ihr Uterus funktioniert nicht, erklärt sie dir, und ihre Kinder sind adoptiert. Sie zeigt dir Fotos, die auf ihrem Schreibtisch stehen. Zwei asiatische Gesichter blicken dich an und du fragst dich, ob es wohl schwer ist, mit solchen Gesichtern in Deutschland zu leben und ob du das auch mal einem Menschen zumuten musst, wenn du nun abtreibst und dann vielleicht nicht mehr schwanger werden kannst. Du überlegst, ob die Gynäkologin neidisch auf deinen Uterus ist, der seine Funktion erfüllt, ob sie dich für dumm hält, für egozentrisch, weil du, anders als deine Geschlechtsteile, nicht funktionieren willst, jedenfalls nicht so, wie es die Natur von dir erwartet, erzeugend. Dir wird klar, dass du hast, was diese Frau sich sehnlichst wünscht, eine eigene Schwangerschaft, und du willst sie nicht. Du fragst dich, ob sie dich für eine Mörderin hält, aber traust dich nicht, es auszusprechen. Du brauchst diesen Beratungsschein.
- Jetzt hören wir die Herztöne, sagt die Fremde, als du mit ausgestreckten Beinen vor ihr liegst, wie ein zum Schlachten aufgebahrtes Tier. Ein lautes schnelles Flimmern geht durch den Raum, hörbar wie ein Traum. Das ist der Moment, an dem du in deiner Steinschnittlage zusammenbrichst. Gerade noch warst du der Patient in Rückenlage, jetzt bist du der Stein, der in zwei Stücke birst und nichts als Wasser fließt aus dir heraus. Du heulst, du bist nur noch Tränen, du zerfließt praktisch auf ihrem Boden, du möchtest in den Monitor kriechen, dich zu dem Embryo kuscheln und nur noch seine Herztöne hören, denn wenn sie aufhören, dann ist es vorbei und das ist deine Schuld.
- Überlegen Sie sich das nochmal, sagt die Fremde zum Abschied und reicht dir kein Taschentuch, sondern den Beratungsschein. Ohne noch einmal aufzublicken, erklärt sie, für die Abtreibung müsstest du dir noch jemanden suchen, aber da könnte dir sicher pro familia helfen.
Du gehst hinaus, du bist schockiert, du denkst, das wenigstens hast du geschafft, aber du weißt noch nicht, das Schlimmste kommt erst noch.
Die Praxis des Abtreibungsarztes ist sehr weiß gestrichen. Die Adresse hast du von pro familia und außer dir sitzen noch drei weitere Frauen im Raum und der Erzeuger, dein Orion. Du wünschst dir sehnlichst, dass alle Frauen wegen Abtreibung hier sind oder wenigstens wegen ihrer Nachuntersuchung, aber eine ist sehr sichtbar schwanger, was du ihr kaum verzeihst, denn du kannst ihren Anblick nicht ertragen. Du willst nicht glauben, dass Leben und Tod so eng zusammenhängen. Wenn dieser Arzt hier abtreibt, dann soll er sich doch bitte nicht auch noch um werdendes Leben kümmern. Du wärst gerne auf einem Friedhof, du hättest es gerne schon hinter dir.
Dann geht alles ganz schnell. Du bist wieder allein auf der Liege, der Monitor wird angeworfen, dir die schleimige Flüssigkeit auf den Bauch geklatscht, die dich auch später immer an deinen eigenen Zervixschleim erinnern wird. Da ist ein Bild, ein grauer Fleck, aber keine Herztöne mehr. Und dein eigenes Herz bleibt stehen, du richtest dich auf, um besser auf den Schirm zu sehen, ob es noch lebt, aber der Arzt macht das Bild aus.
- Kommen Sie bitte nüchtern. Mehr sagt er zum Abschied nicht. Und du verstehst, dass er gerade nur eine Summe diagnostischer Tätigkeiten an dir durchgeführt hat, mehr nicht, genauso, wie das eben passiert bei einer medizinischen Untersuchung, muss der Arzt seinen Patienten auskultieren, und das hat er gerade getan, dich und das Wachsende in dir.
Für ihn, denkst du, existiert es nicht mehr, es ist schon tot, es hat keine Bedeutung, das ist nur noch ein Müll, den er dir entfernen wird, wie eine sehr hässliche Warze, und wenn du in deinem Leben gedacht hattest, du seiest allein und du seiest traurig und verlassen, vielleicht sogar verzweifelt, rat- und hilflos, einsam sogar, dann war das nichts gegenüber dem, was du jetzt fühlst. Der Abgrund bist du.
Und du fällst und es gibt kein Ende. Du gehst durch Watte, durch Sand, du ertrinkst in einem Moor, du bist ins Meer gefallen und schon lange untergegangen. Warum nur hören die Synapsen in deinem Kopf nicht auf, ständig neue Verbindungen zu schaffen? Orion folgt dir, redet auf dich ein, aber du kannst ihn nicht verstehen. Es hat auch keine Bedeutung mehr, denn die Herztöne sind weg und das ist allein deine Schuld. Das ist der Augenblick, in dem dein Herz explodiert.
Orion steht da und will wissen, was los ist, aber du antwortest nicht. Du antwortest nicht, sondern gehst aus der Praxis, er rennt zurück zum Abtreibungsarzt, um herauszufinden, was mit dir los ist, was dir gesagt wurde, was die Konsequenzen sind, Nebenwirkungen, Folgen. Du bleibst irgendwo auf der Straße zwischen hupenden Autos stehen, du reagierst nicht, wo du bist, ist dir egal, du bist in einer Welt, die dir nicht gehört, zu der du niemals gehört hast, weil du nicht selbstbestimmt bist, sie ist dir fremd, du spielst in einem Film, von dem du das Drehbuch nicht kennst. Das ganze Leben geht an dir vorbei, jetzt, wo die Herztöne weg sind. Eigentlich ist es nicht das Leben, sondern die Entzauberung der Welt, die an dir vorbeigerauscht ist. Denn deine Instinkte, die solltest du doch eigentlich kontrollieren, um rational entscheiden zu können, wann der richtige Moment ist, auf jeden Fall nicht der, den dir dein Herz vorschlägt oder der, an dem die Klitoris anschwillt. Doch wenn du ehrlich mit dir und der Gesellschaft bist, so haben sie dir das doch nie wirklich zugetraut, das Entzaubern selbst in die Hand zu nehmen, angeschwollen sind immer die Organe des anderen, immer hat dir jemand gesagt, was du mit deinem Körper zu tun hast, und meistens war es ein Mann.
Jetzt kommt Orion zurück und erklärt dir, dass du nichts zu befürchten hast, es gibt keine physischen oder psychischen Folgen einer Abtreibung, alles wird wieder gut werden, du kannst sogar noch ganz normal Kinder bekommen, danach dann, sagt er, und das ist die Minute, in der du dir definitiv die Five-Point-Palm-Technik zu beherrschen wünschst, denn die sonstwas Folgen von Abtreibung oder nicht sind dir sowas von egal, le mal est fait, und heute wird nie wieder wie gestern sein, das wisst ihr doch beide ganz genau, nur kannst du da auf der Straße gar nicht die Five-Point-Palm-Technik kennen, denn Tarantinos Film ist damals noch nicht in deutschen Kinos angelaufen.
Zwanzig Jahre später wird in vielen Staaten Amerikas ein Herzschlag-Gesetz verabschiedet, das eine Abtreibung, nachdem die ersten Herztöne gehört werden können, verbietet. Und in Deutschland wird die Gynäkologin Kristina Hänel verurteilt, weil sie angeblich für Abtreibung wirbt. Wie sehr hättest du dir damals eine Frau Hänel gewünscht, die dir kommentarlos eine Bescheinigung ausstellt, dich nüchtern und sachlich berät und dir deinen freien Willen nicht nimmt, dich entscheiden oder leiden lässt, ob du die Herztöne hören willst oder nicht, zum Beispiel.
Ebenfalls zwanzig Jahre später wird in Frankreich von der Gleichstellungsbeauftragten Marlène Schiappa ein Bericht in Auftrag gegeben, der sich mit der Gewalt an Frauen durch Geburtshelfer beschäftigt und in dem stehen wird, dass Frauen, die einen Arzt wegen Abtreibung konsultieren und von dem Arzt moralisch oder ethisch beeinflusst werden, unter anderem dadurch, dass dieser sie gegen ihren Willen die Herztöne hören lässt, Gewalt angetan wird.
Der Gedanke, dass jungen Frauen in deiner Situation heute noch strukturelle Gewalt angetan wird, ist schrecklich. Und die Tatsache, dass Menschen verurteilt werden, die sich gegen diese Gewalt wehren, ist unglaublich.
Du schreibst diesen Text in dem Bewusstsein, dass deine Tochter, die nun auch zwanzig ist und deren Herztöne damals als Schallwellen in dein Ohr jagten, die zu dem Zeitpunkt nicht mehr war als der Punkt auf dem Monitor, um den sich dein Universum plötzlich und unerwartet zu drehen begann, ihn lesen wird. Du schreibst diesen Text, weil es wichtig ist, dass sie ihn liest, du sogar willst, dass sie ihn liest, du schreibst ihn für sie, weil du willst, dass sie sich niemals und von niemandem vorschreiben lässt, was sie mit ihrem Körper anstellt. Du schreibst, weil du willst, dass sie sich wehrt, wenn ihr jemand sagt, sie müsse die Pille nehmen, sie soll nicht stolz darauf sein, dass ein Mann sie will, nur weil sie bereit ist, ihn zu befriedigen, sondern es soll ihr egal sein. Niemand soll ihr das Gefühl geben, er wisse besser als sie, wie sie über ihren Körper entscheiden soll.
Du willst nicht, dass sie sich irgendwann betrogen fühlt, du willst, dass sie weiß, dass es immer fremde Mächte geben wird, die über ihre Entscheidungen bestimmen wollen, du willst, dass sie weiter kämpft, nicht aufgibt, nicht glaubt, der Feminismus hätte gesiegt und Frauen seien heute selbstbestimmt und frei. Und du weißt, dass sie es weiß, dass du ihre Welt nicht entzauberst, weil sie schon längst entzaubert ist.
Before that strip turned blue. Warst du eine Frau, seine Frau, du wärest ohne zu zögern von einem Motorrad auf einen rasenden Zug gesprungen, nur für ihn.
But once that strip turned blue… I was gonna be a mother. Sagt Beatrix und das ist die Entscheidung, die sie alleine trifft, ohne Bill.
Und es ist deine Entscheidung, die du triffst, an jenem Morgen, als du nüchtern zu dem Termin erscheinen musst. Du sagst Orion, du musst alleine gehen, das gehört sich so für Frauen, die abtreiben. Er widerspricht dir, aber nur leicht, weil ihm ja auch lieber ist, du gehst allein. Aber vorher fickst du ihn noch einmal, wie du ihn nie zuvor geliebt hast, denn das letzte Mal soll immer das schönste sein. Du weinst auch dabei und er sagt, es tut ihm leid, denn er weiß ja nicht, dass du wegen ihm weinst, nicht wegen des Kindes. Du bist ein Biest und du gibst es zu, wie Beatrix es vor Bill zugegeben hat.
Und dann gehst du, aber nicht zu dem Termin, denn du hast entschieden, dass du Mutter werden willst, allein.
Eine Schwangerschaft sollte nur bis zum Ende ausgetragen werden, wenn sie gewollt ist, früher oder später, für eine so schwere Entscheidung braucht es Zeit, eine gute Begleitung und wenig Druck. Die Entscheidungsfreiheit darf einer Frau nicht genommen werden. Ungewollte Schwangerschaften müssen Frauen abtreiben dürfen. Darunter geht nichts. Das ist die Nullstelle unseres Kampfes. Nur dann wird es im Dschungel Ruhe geben.