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KARL DER GROSSE Geschichte und Mythos von Johannes Fried

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Mythen Europas: Schlüsselfiguren der Vorstellungskraft“ – dieses Buch gilt vorwiegend (Sagen-)Gestalten jenseits der Geschichtlichkeit, Heiligen, deren Leben zur Legende wurde, bevor es den Geschichtsschreibern in die Hände fiel, gilt der Gottesmutter gar und dem Gekreuzigten.

Und jetzt ein „profaner“ Mensch? Karl der Große? Vielleicht auch der heilige Karl, dessen Fest jeweils am 28. Januar in Frankfurt gefeiert wird? Was verbindet den Frankenkönig mit Heiligen und mit der Himmelskönigin? Heiligkeit kann es ja nicht sein.

Gewiss, Karl der Große war groß. Da er 1165 heilig gesprochen wurde, und man daher sein Grab kannte, besitzen wir heute noch Knochen von ihm. Karls rechtes Schienbein maß 43 cm, sein Oberschenkel 53 cm. Vom Scheitel bis zur Sohle brachte es der ganze Mann auf 182 cm, vielleicht auch ein wenig mehr. Er überragte damit um Haupteslänge die meisten seiner Mitmenschen.

Karl also war groß, groß an Leib und groß an Ruhm. Schon seine Zeitgenossen feierten ihn wie kaum einen anderen König; und die Nachwelt flocht ihm bis heute ihre Kränze. Wenigen ist Gleiches widerfahren – einem Alexander, einem Caesar oder einem Augustus. Zahlreiche Herrscher – beginnend mit Karls Enkeln über Ludwig XIV. und Napoleon bis hin in den verbrecherischen Größenwahn eines Adolf Hitler – erklärten ihn zu ihrem Vorbild, begehrten, ein „neuer Karl“ zu sein oder doch in legiti matorischer Absicht wie er der Vater eines von ihnen gestalteten Reiches, gar ganz Europas. Die deutsch-französische Aussöhnung nach 1945 geschah, ohne ans Mittelalter anzuknüpfen, im Zeichen Karls des Großen. Sein Name wurde zum Zeichen für Versöhnung, Friede und Eintracht, ähnlich wie es seinerzeit im wirklichen Leben war. Charles de Gaulle galt als „Karlist“. Selbst noch in die Niederungen der heutigen Spaßgesellschaft schleicht sich die Erinnerung an ihn: Den amerikanischen Rennläufer und Olympiasieger Carl Lewis nannten sie, als er noch startete, „Carl den Großen“, als ob jener Carolus Magnus nur hatte sprinten und springen können.

Die Slawen, die ursprünglich kein Königtum kannten, adaptierten seinen Namen für ihren Königstitel: So wie aus Caesar der „Kaiser“ wurde, wie Augustus zum Bestandteil des Kaiser- und Königstitels wurde, so eben Karl zu Krol. Jüdische Geschichtsschreiber des Mittelalters erkannten in diesem König den Förderer und Schirmherrn der Ihren. Zahlreiche Adelsfamilien beriefen sich auf Karl als ihren Vorfahren. Die Sage bemächtigte sich seiner. Über einhundert Beispiele sind allein aus Deutschland registriert – so viele wie von keinem zweiten Herrscher, um zunächst von den französischen Legenden und „Chansons de geste“, den französischsprachigen Karlsdichtungen des hohen Mittelalters, zu schweigen, wo er zum Stifter des Rittertums und zum gesegneten Kreuzritter avancierte.

„Von Karl dem Großen vernahmen wir manches Mährchenhafte“, so erinnerte sich Goethe, „aber das Historisch-Interessante für uns fing erst mit Rudolf von Habsburg an, der durch seine Mannheit so großen Verwirrungen ein Ende gemacht“.1 Sagen und Märchen hatten die Geschichte überwuchert. In der Tat, „gigantische Kräfte“ attestierte bereits der Marschall des Kaisers Otto IV., Gervasius vonTilbury, um 1200 seinem Karl;2 und bald kursierte auch die Geschichte vom „eisernen Karl“, welche die Brüder Grimm in ihre „Deutschen Sagen“ aufgenommen haben. Dieser „Karl war kühn, schön, gnädig, selig, demütig, stet, löblich und furchtlos“, ein wahrer Prachtkerl. Karls Wiederkehr am Ende der Zeiten wurde prophezeit; und selbst die magische Welt der Zauberer und Hexenmeister mochte auf ihn nicht verzichten. Himmelsbrief und Karlssegen gingen in Zauberbücher ein. Kaiser Karls Gebet schützte gegen Feuer und Wasser, Diebe und Räuber, Gespenster, böse Geister und gegen den Teufel selbst.

Wirklichkeit und Mythos flossen so im Karlsgedenken in eins und verschafften ihrem Heros eine posthume Wirkung, die jener zu Lebzeiten in keiner Weise nachstand. Wirklichkeit war auch sie, Wirklichkeit freilich auf einer anderen Ebene als der des verflossenen Lebens. Sie formte sich kontinuierlich aus und um und beherrschte durch Jahrhunderte die Vorstellungswelten, wirkte auf politische und soziale Ordnungsmuster, verlieh dem Handeln und den Zielsetzungen Gestalt und Richtung. Wie und warum war das möglich geworden? Was zeichnete diesen König und Kaiser und sein Nachleben aus? Was überhaupt wissen wir von ihm und seinen Taten? Nur vor dem Hintergrund seines realen Lebens wird sein heroisches Nachleben verständlich.


Karl der Große Skulptur von Hans Multscher, um 1427/30; Ulm, Rathaus

Dazu gehe ich in drei Schritten vor: Erstens gebe ich einen Überblick über Karls Leistungen; zweitens sind Beobachtungen zu Gedächtnis und Erinnern am Platze, da die Mythisierung, über die ich zu handeln habe, eine Erinnerungsfigur ist; drittens folgen Aspekte eben dieser Mythisierung auf drei Ebenen: auf derjenigen des Herrschers, derjenigen des Heiligen, sowie, wenn auch knapp, jener des Heros der Dichter und Literaten. Ich vergleiche dazu jeweils die Entwicklung im Westen und Osten des einstigen Karlsreiches zunächst im früheren, dann im hohen und späteren Mittelalter. Der Untersuchungszeitraum endet mit dem 15. Jahrhundert. Doch kann vieles nur angedeutet werden.

Menschen, die Geschichte schrieben

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