Читать книгу Menschen, die Geschichte schrieben - Группа авторов - Страница 18

HEROISIERUNG, MYTHISIERUNG UND LEGENDÄRE VERKLÄRUNG ALS WIRKLICHKEIT – EINE ZUSAMMENFASSUNG

Оглавление

Die Beispiele ließen sich noch lange fortsetzen. Doch auch die vorgestellten sollten deutlich gemacht haben, wie sich die drei Ebenen nationaler Mythisierung, kirchlicher Heiligung und heroischer Dichtung durchdrangen und durchmischten und wechselseitig aufeinander wirkten, und wie sie sich zur Gestaltung neuer Wirklichkeiten mit den Nachwirkungen vergangener Wirklichkeit vereinten. Hier vollzog sich ein komplexes Geschehen, bei dem keiner der Beteiligten ahnen konnte, wohin der von ihm beigesteuerte Impuls das Ganze tragen würde, und in dem sich ein jeder fortgesetzt neu orientieren musste. Ins Epos freilich zog der hl. Karl nur selten ein. Der Mythos verlieh diesem Karl viele Gesichter, ließ ihn hier mit dieser, dort mit anderer Gestalt in Erscheinung treten. So lebten fortgesetzt nicht bloß ein einziger, sondern zahlreiche Karl der Große nebeneinander: der Herrscher, der Sieger, der nutzlose König, der Sünder, der Büßer, Pilger und Heilige und andere mehr.

Der Appell an Karl diente vielfach als Passepartout für ‚Legitimität‘. Was dieser König oder Kaiser gestiftet, begründet, gefördert haben soll, sollte ewige Geltung beanspruchen und – sei es Herrschaft oder Heiligenkult, Ritter- oder Pilgertum, Ansiedlung der Juden oder Heidenkrieg – sakrosankt sein. Manch ein Motiv knüpfte an reales Geschehen an, doch vieles blieb ausgeklammert und schlummerte allein in den Werken der Geschichtsschreiber. Das Papsttum etwa und Italien, wo sich eine eigene Karlstradition bildete, sowie die Kirchenreform, denen Karl tatsächlich größte Aufmerksamkeit gewidmet hatte, fanden trotz aller welthistorischen Bedeutung keinen Zugang zum nordalpinen Karlsmythos; ebenso wenig der Förderer der Schulen und der Dichtkunst, des Lateins und der Astronomie, der wirtschaftende Karl, kaum etwas von seinen kulturstiftenden Leistungen – von der Ausnahme der angeblichen Gründung der Universität Paris abgesehen –, die ihn tatsächlich groß gemacht haben, von jenem Karl, der nach Dialektik und Rhetorik verlangt und das Abendland zu Wissenschaft und Buchkultur getrieben hatte. Vage Bilder eines idealen, mächtigen Herrschers, wie ihn Dürer imaginierte: „der das Remisch reich Den teitschen under tenig macht“,28 der sich um Recht und Gerechtigkeit und die Ausbreitung des Glaubens sorgte, eines bußfertigen Orientpilgers, eines Freundes der Mönche, eines Schutzspenders der Armen und der Juden und eines Feindes der Heiden formten sich hie und da im kulturellen Gedächtnis. Wären die Historiker allein auf diese mündlich kolportierten und schriftlich fixierten Imaginationen angewiesen, wir wüssten nicht, wer Karl der Große gewesen ist.

Das kulturelle Gedächtnis bleibt freilich nicht stehen; es fließt immerzu weiter. Auch jetzt ist für Karl ein neues Bild im Entstehen, wie eine lebhafte Karlsforschung bezeugen kann. Auch ihr Karlsbild befindet sich im Fluss. Es speist sich nicht zuletzt aus einer erinnerungsgemäßeren Beurteilung der historischen Quellen etwa zu seiner Geburt, zum Prozess gegen den Baiernherzog Tassilo, zur Kaiserkrönung oder zu seiner Nachfolgeregelung. Auch das vertiefte Wissen um die Aktualität der Endzeiterwartung um das Jahr 800 – nämlich das apokalyptische Jahr 6000 nach Erschaffung der Welt in der Berechnung des hl. Hieronymus – wirft Licht auf den am ersten Tag des neuen Jahrtausends in Rom zum Kaiser gekrönten Karl. Die alten Legenden und Sagen indessen, der jahrhundertelange wirksame Mythos Karl, um den es an dieser Stelle vornehmlich ging, sie werden nicht mehr fort-, allenfalls noch abgeschrieben. Lediglich im Internet geistern, abgesunken in eine dubiose Subkultur, unter dem großen Namen Zerrbilder einer Vergangenheit, multifunktional einsetzbare Leerformeln, die über Karl, den Heros und seinen Mythos nichts, über unsere Zeit aber nahezu alles verraten. Doch dies wäre ein neues Thema.

Menschen, die Geschichte schrieben

Подняться наверх