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WIE MICHAEL RUDOLF EINMAL VORM FALSCHEN UTOPIA WARNTE

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Jürgen Brömmer

Im Hochsommer 1994 hatte Direktor Gotthard Brandler zur Triennale für Karikatur, Cartoon und komische Zeichnung geladen. Zur Eröffnungsfeier war es ihm mit der Hilfe von Dieter Steinmann gelungen, alles, was in der Zeichenkunst wenn nicht Rang, so doch wenigstens Namen hatte, für drei Tage in das thüringische Städtchen zu locken.

Die Ausstellung selbst war schon eine bemerkenswerte Leistung, waren hier doch erstmals im größeren Rahmen west- und ostdeutsche Künstler gleichermaßen beteiligt: seriöse Karikaturisten, die Bärte wie Kastenbrote vor sich trugen, neben lustigen Nonsenszeichnern. Zum denkwürdigen Erlebnis wurde die Triennale schließlich durch den Umstand, daß Direktor Brandler mit der Landespolitik ein großzügiges Budget ausgehandelt hatte, mit dem die ganze Bande zur feierlichen Eröffnung der Ausstellung für ein langes Wochenende komfortabel untergebracht und anständig ausgehalten werden konnte.

Auch ich, der lediglich ein kleines Faltblatt mit Zeichnungen des Münchner Miniaturisten Steffen Haas hergestellt hatte, durfte dabeisein! Der kluge Direktor wußte: Man gebe jungen Menschen freie Unterkunft und kostenlose Mahlzeiten, und quasi automatisch wird der Geist der Utopie belebt. Und so wurde Greiz an einem milden Augustwochenende im fünften Jahr nach dem klanglosen Untergang des Realen Sozialismus zum Sonnenstaat, wo man sich bei thüringischer Hausmannskost, Bier und Wein flugs an die Menschwerdung machte.

Eine geistreiche Redensart gab die andere, unterbrochen nur vom merkwürdigen Gesang eines Berliner Glossenautors, der zwar nicht zeichnete, den der großzügige Gotthard Brandler aber zum Zechen einfach mit eingeladen hatte. Man verstand sich prächtig, und an den Abenden wurde auch den anwesenden Damen tüchtig der Hof gemacht, wie es sich der alte Fourier in Die Neue Liebeswelt kaum schöner ausgedacht hatte.

Fast wäre also Greiz in jenen Augusttagen von einer bedenkenlosen Künstlermeute zum neuen Utopia ausgerufen worden, hätte uns nicht ein Einheimischer rechtzeitig die Augen geöffnet. Denn Michael Rudolf hatte auch nach zweitägigem Feiern, Singen und Sekundenschlaf nicht die Übersicht verloren. Hier, in dieser Burgschenke, erklärte der in Greiz Aufgewachsene schneidend, würde normalerweise das Bürgerrechtlerpack schale Phrasen ins Schwarzbier dreschen, dort im Park, zischte er, treffe sich dumpfe Landjugend mit nationaler Gesinnung, und überhaupt sei die Perle des Vogtlandes ein elendiger Schreckensort, wo man sich auch ganz ohne Jägermeister ein Magengeschwür herbeiärgern könne, sei doch die einheimische Bevölkerung komplett verblödet, und der zugezogene Westler tauge auch nur zum Sparkassendirektor und Immobilienwirt.

Solcherart zur Besinnung gerufen, sahen die Zeichner und ihre Angehörigen die Lage in einem anderen Licht und machten sich am Nachmittag ernüchtert auf den Nachhauseweg. Dankbar aber war man, daß Michael Rudolf uns vor einem Irrtum nahezu historischen Ausmaßes bewahrt hatte.


Zeichnung: F. W. Bernstein, Sommerpalais Greiz.

Der Mann mit den 999 Gesichtern

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