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MIT DEN AUGEN EINER FRAU – BERICHT VON DER TRIENNALE IN GREIZ/THÜRINGEN 1994

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Fanny Müller

Schon die Anreise war sehr schön. Ich fuhr mit dem Zeichner Rattelschneck acht Stunden im Interregio im Mutter-Kind-Abteil. Ich trug eine orangene Sonnenbrille, die keine Bügel hat, sondern Ketten, die man über die Ohren tut, und unten an den Ketten hängen Gewichte in Form von großen orangenen Scheiben. Rattelschneck trug eine Bluse, deren Muster mich an die Küchengardinen meiner Mutter aus den sechziger Jahren erinnerte, und eine Hose mit vielen Flecken, von denen er behauptete, es seien Stockflecken. Die anderen Menschen im Zug waren alle anständig gekleidet. Die Zeit verging wie im Fluge. Ich brachte R. das Kreuzworträtsellösen bei. Er wußte nicht, daß es Wörter wie »Esol« oder »Torlettenpapier« gar nicht gibt. Danach lasen wir uns gegenseitig die Leserbriefe aus der Auto Bild vor. R. hatte einiges an Bier mitgebracht, bis ich die Nase rümpfte. Da ging er aufs Klo und putzte sich, ganz Gentleman, die Zähne.

In Greiz angekommen, trafen wir gleich eine Menge berühmter Zeichner und Autoren. Ich verwechselte auf Anhieb den großen Verleger Michael Rudolf mit dem bekannten Filmemacher Fritz Tietz, wofür ich mich an dieser Stelle entschuldigen möchte. Ich weiß bloß noch nicht, bei wem. Es waren viele interessante Menschen da, manche sahen ganz anders aus, als man sie sich vorgestellt hatte. Zum Beispiel Eugen Egner hatte nirgendwo Auswüchse, jedenfalls nicht daß ich wüßte, und sieht eher aus wie ein taz-Redakteur von vor zehn Jahren, was aber nichts weiter heißen soll, im Gegenteil. Drei bis vier Rübezahls konnte ich nicht voneinander unterscheiden. Wenn einer gesagt hätte, sie seien alle Harry Rowohlt, hätte ich es auch geglaubt. Dann war da noch ein Prominenter mit längeren Haaren und schubweise auftretender Diabetes, der allerhand Skandalöses aus dem Gemeindeleben von Pirmasens zu berichten wußte. Ich möchte das an dieser Stelle nicht kolportieren, damit er keine Schwierigkeiten bekommt. Ich sage nur Bademeister (!).

Mir wurde dann auch noch der berühmte Zeichner OL Schwarzbach vorgestellt, der aus dem Osten kommt, aber nicht so aussieht. Er war fast genauso scheiße angezogen wie Rattelschneck. Die beiden sind auch befreundet. Er hatte dazu noch sehr große Füße, die mir noch viel Kummer machen sollten. Doch davon später. OL Schwarzbach erklärte mir nach kurzer Bekanntschaft, was eine »Saalwette« ist. Das wußte ich nicht, weil ich nie fernsehe, sondern lieber ein gutes Buch (!) lese. Außerdem wußte ich, daß Männer einem gerne was erklären. Umgekehrt hat mich noch nie einer gefragt, wie Plattstich geht oder Béchamelsoße.

Bei den abendlichen Arbeitstreffen lernte man bekannte Leute auch mal von der menschlichen Seite kennen. Zum Beispiel ein Titanic-Redakteur hatte noch seinen Blinddarm; ein anderer hat in seinem Leben noch keinen Deostift benutzt, weil ihn das abhängig macht. In bezug auf Alkohol war ihm allerdings eine ähnlich kompromißlose Haltung nicht anzumerken.

Die Glanzlichter der Veranstaltung bildeten zwei Wanderungen, die ich am Sonnabend und am Sonntag unternahm. Am Sonnabend in Begleitung mehrerer berühmter Schriftsteller und Zeichnerinnen, die sich auf einem gehobenen literarischen Niveau unterhielten. »Das ist doch alles kalter Kafka«, sagte zum Beispiel der eine Schriftsteller zu dem anderen. Wir bezahlten im Waldhaus 17,30 DM für sechsmal Wiener mit Brot, drei große Bier, ein Eis und einen Kaffee. Das erlebt man in Westdeutschland heute nicht mehr.

Am nächsten Tag machte ich die gleiche Wanderung noch einmal, diesmal in Begleitung der miteinander befreundeten Zeichner OL Schwarzbach und Rattelschneck. Der Aufstieg zum Pulverturm – die erste und schwierigste Etappe – fiel ihnen nicht leicht. Bis dahin hatten sie schon jeder etwa neun Bier getrunken (große). Ich ging vorneweg und hörte hinter mir die Lebern und Herzkranzgefäße rasseln. Als ich darüber eine kränkende Bemerkung machte, sagten sie gleich, daß mein rechtes Bein etwas dicker als das linke sei. Daraufhin wechselte ich an das Ende der Schlange und mäkelte meinerseits an ihren Waden herum (zu wenige Haare, zu viele Haare). Das nannten sie »eine billige Retourkutsche«. Bis zum Waldhaus hatten wir uns aber wieder vertragen. Wir aßen eine Rostbratwurst (d. h., ich aß gar nichts, weil mir irgendwie schlecht war), vier Bier (die beiden) und einen Kaffee (ich) für 11,10! Jeweils eine Flasche nahmen die beiden Zeichner dann noch für den Rückweg mit.

Auf dem Rückweg unterhielten sich die jungen Leute über Witze, die sie vermarkten wollten. Ich konnte nicht darüber lachen. Meistens ging es um Autofahrer, die in einen Tunnel fahren, das Fernlicht einschalten und dann vergessen, es wieder auszuschalten, wenn sie aus dem Tunnel heraus sind. So leicht möchte ich auch mal mein Geld verdienen. Zwischendurch umarmten die beiden Zeichner immer wieder mit geschlossenen Augen verschiedene Bäume und behaupteten, damit würden sie Energiekreise erzeugen, ähnlich wie Kornkreise. Das hielt ich für einen ausgemachten Blödsinn und sagte das auch. Ein neuer Streit bahnte sich an.

Da wurde aber plötzlich eine Zaunübersteigung angemeldet. Weil meine Beine so kurz sind, mußte ich auf den Rücken von OL Schwarzbach klettern. Da brach der Zaun zusammen. OL Schwarzbach machte einen Salto rückwärts und haute mit seinem Schuh (Gr. 46) auf meinen Wangenknochen und dann auf mein Schlüsselbein. Beide wurden später blau. Mein Provisorium hüpfte heraus. Ich schrie: »Ich habe eine Gehirnerschütterung«, was aber nicht stimmte. Jetzt kriege ich eine Originalzeichnung von OL Schwarzbach, was nur gerecht ist. In Amerika hätte ich mehr gekriegt (6 Millionen).

Das war ein »schöner« Abschluß von diesem Klassenausflug! Die beiden Zeichner beteiligten sich dann noch an der Suche nach dem Provisorium, aber ich fand es, weil ich da gesucht hatte, wo es sein mußte, während die beiden da gesucht hatten, wo man besser sehen konnte. Wieder zurück in Hamburg, mußte ich zwei Stunden beim Zahnarzt warten, aber ich habe aus dem Wartezimmer den Rezeptteil von der Brigitte mitgehen lassen.

Wenn ich ein atmosphärisches Resümee dieser Veranstaltung ziehen soll, dann mit den Worten des berühmten Kolumnisten Max Goldt, der in mein Autogrammalbum schrieb: »Dies, Fanny, signiere ich Dir kniend, von Irren umringt.«



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