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WIRKLICH SEHR KOMISCH

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Peter Köhler

Wir befinden uns im Jahre 1994 n. Chr. Das ganze literarische Deutschland wird von einigen wenigen Großverlagen beherrscht. Das ganze? Nein! Ein kleiner ostdeutscher Verlag hört nicht auf, den Großen Widerstand zu leisten: der Verlag Weisser Stein im vogtländischen Greiz. Obwohl erst im Mai 1991 gegründet, hat sich der nach einem Greizer Vorort benannte Verlag bereits einen Namen gemacht, der für verschärfte Komik, tabufreie Cartoons und radikale Polemiken bürgt – und für verdienstvolle Ausgrabungen älterer Werke.

Bewährte Autoren und verheißungsvolle Talente sind im Programm: der moderne Nonsensklassiker F. W. Bernstein, der mit Der Blechbläser und sein Kind eine dachziegelschwere Auswahl seiner »Zeichnereien, Cartoons und Schmähbilder« vorlegt, ebenso wie der Wuppertaler Groteskmaler Eugen Egner (Meisterwerke der Grauen Periode) und der Collagenspezialist Kriki alias Christian Groß (In der Klinik für komisch Kranke), junge Meister der kleinen Form wie Wiglaf Droste (Kommunikaze) und Fanny Müller (Geschichten von Frau K.) ebenso wie der Romantiker Ludwig Tieck (Leben und Taten des kleinen Thomas, genannt Däumchen) und der radikale Aufklärer Johann Karl Wezel (Zwei satirische Erzählungen).

Viele Jahre sah es nicht danach aus, daß es soweit kommen könnte. Denn Verleger Michael Rudolf (33) mußte in der DDR trotz eines Philosophie-, Geschichts- und Journalistikstudiums als Brauereiingenieur arbeiten. Nach der Grenzöffnung aber kündigte er, volontierte in Berlin bei Wagenbach, hospitierte in Frankfurt bei der Titanic und gründete dann mit Gerd Elmar König (37), der gelernter Dreher ist und später das Leipziger Literaturinstitut Johannes R. Becher absolvierte, den Verlag. Ende 1993 verließ König das Haus wieder, um sich verstärkt eigenen Zeitschriftenprojekten zuzuwenden.

Obwohl Rudolf wie König den Verlag zunächst nur nebenbei betrieben und sich durch eigene Schriftstellerei ernährten, macht man schon seit Herbst 1993 Gewinn. Das nicht zuletzt, weil die beiden heimatverbundenen Herren, die sich in den achtziger Jahren lokalhistorisch betätigt hatten, mit Regionalem wie Burgen, Schlösser und Herrensitze im Vogtland starteten, um rasch zu Geld zu kommen und sich die Aufnahme von Krediten zu ersparen. Im Frühjahr 1992 legten sie dann ihr »erstes richtiges Programm« (Rudolf) vor – Komisches eben in Wort und Bild.

Dabei ist der Weisse Stein kein typisch ostdeutscher Verlag: Erstens hat er Erfolg, zweitens verkauft er vier Fünftel seiner Produktion im Westen, und drittens gehen gerade die ostdeutschen Autoren weniger gut, weshalb inzwischen auch unter den Autoren die aus dem Westen klar überwiegen. Halbjährlich kommen mindestens drei Titel heraus; da man überwiegend Taschenbücher produziert, kann man preiswert anbieten – obwohl man auf Typographie, Illustration und Ausstattung achtet und eher kleine Stückzahlen auflegt.

»Groß soll der Verlag nicht werden«, so Rudolf, »sondern überschaubar bleiben. Wunschvorstellung: fünfzehn bis zwanzig Titel jährlich, mit dementsprechender personeller Erweiterung.« Bislang agiert Rudolf, nach Königs Ausscheiden, allein – für das Herbstprogramm bedeutet das sogar sieben Titel, darunter so eigenartige Werke wie angeblich »frühe dramatische Texte für Abiturfeiern« aus der Feder des Titanic-Redakteurs Christian Schmidt und die Nachrichten aus der Welt von gestern von Thomas Palzer, Redakteur der »beinharten Jugendsendung« des Bayerischen Rundfunks namens Zündfunk.

Zu einem Hauptautor ist das Großtalent Gerhard Henschel aufgestiegen: nach den Moselfahrten der Seele, einer Sammlung von Feuilletons und Polemiken, und der mit viel O-Ton unterlegten satirischen Erzählung Das erwachende Selber über das Psycho- und Guru-Milieu erschienen im Frühjahr gleich zwei neue Titel des Titanic-Redakteurs – zusammen mit Bernstein der Bilderkrimi Die gnadenlose Jagd mit eingelegter CD-Single, auf der der Autor gemeinsam mit seinem Verleger eine Gesangsdarbietung zu Gehör bringt, außerdem, rechtzeitig zur Weltmeisterschaft, das Fußballbuch Supersache!, gemeinsam mit Günther Willen.

Dieses Buch dokumentiert viel Realkomik rund um das unberechenbare Leder. »Weiterhin wichtig« nämlich sind dem Verleger Rudolf »Bücher, die sich mit komischen Phänomenen der Gegenwart auseinandersetzen, und das durchaus ernsthaft.« Ein Beispiel dafür ist auch Georg Seeßlens Volks Tümlichkeit, eine kritische Analyse nationaler Volkskultur von Volksmusik über Bauerntheater bis hin zu Biertrinken, Stammtisch und Kaffeefahrt.

So ist Greiz, »die Perle des Vogtlandes«, auf dem besten Weg, eine seriöse Größe auf der Komiklandkarte Deutschlands zu werden. Seit langem trägt dazu das Satiricum bei, ein Karikaturenmuseum mit wertvollen, bis zu dreihundert Jahre alten Schätzen komischer Zeichenkunst und im vergangenen August Schauplatz der ersten Triennale, einer Art deutscher Leistungsschau für Karikatur und Cartoon. Und seit 1991 sorgt eben auch ein Verlag dafür, daß die Lachkultur in Deutschland befördert und das Komische, das im Alltag eine so große Rolle spielt, in der Kunst und Literatur durch Qualitätsarbeit aufgewertet wird: der Verlag Weisser Stein.

Hannoversche Allgemeine Zeitung, 17. September 1994


Gerd Elmar König, Michael Rudolf, Frankfurter Buchmesse, 1993.




Zeichnung: F. W. Bernstein.

Der Mann mit den 999 Gesichtern

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