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REICHLICH ZUMUTUNGEN UND AB UND ZU ETWAS ZU LACHEN – MIT MICHAEL RUDOLF AUF KURZEN WEGEN DURCH DIE WELT

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Dieter Steinmann

Am Ende erlebt man nur viel, um viel vergessen zu können.

Walter Calé, 1904

Geteilt bleibt unser Vaterland, / zwei halbe Schoppen drum zur

Hand! Laertes Eisenbeiß, 1994

Ich erinnere mich, daß der Tod meines Vaters erträglicher wurde, weil es Georges Perec in meinem Leben gab.

Harry Mathews, 1982

ZUKUNFTSORAKEL IM HEIDEHOF – Es war am 20. Juni 1990, ein Vierteljahr vor Eintritt der Deutschen Demokratischen Republik in die »Währungs-, Wirtschafts- und Sozialunion« mit der Bundesrepublik Deutschland, als ich erstmals selbst eine ziemlich typische Alltagsszene des damals aktuellen deutsch-deutschen Zusammenwachsens miterleben durfte. Für einige Tage hatte ich mich im Dörfchen Bargfeld in der Lüneburger Heide aufgehalten, um in den Archiven der dort ansässigen Arno Schmidt Stiftung zu arbeiten. Am Abend eines kühlen Regentages fielen mir im Schankraum des Gasthofs Bangemann zwei jüngere Herren auf. Sie hatten Wurstplatten und Biergläser vor sich und waren gutgelaunt dabei, es sich schmecken zu lassen. Daran wurden sie allerdings von einem zäh quer durch die Wirtschaft auf sie einredenden Mann beharrlich gestört.

Unbeirrbar höflich und dezent gaben sie immer mal wieder zu erkennen, daß sie von den Ausführungen dieses vom etwa übernächsten Tisch her halblaut auf sie losschwafelnden offenbar Fremden nur wenig erbaut waren und keinen Wert auf weitere Fortsetzung seines Monologs legten. Diese Reserviertheiten seiner Opfer souverän ignorierend, gab der neben seinem Gerede auch noch recht zügig Zechende in leicht verwaschenem Gefreitenton fast unterbrechungslos Hinweise zum besten, mehrheitlich Belehrungen, Tips, Geschäftsideen, denen er offenbar ein gerüttelt Maß an Belang zumaß. Es ging um Thematiken aus der Welt des Marketings, der Werbung, des »Direct-Sales«, der Großinvestitionen, des Rabattwesens, der Gegengeschäfte und nicht zuletzt der Spesenbewirtschaftung: »… ja, und wenn der Laden dann mal läuft, praktischquasi rundläuft, dann könnt ihr Spesen machen, Spesen bis zum Abwinken, Superhotels, Geschäftsessen und Firmenwagen, Firmenwagen, so dick ihr wollt, wenn ich’s euch sage! Immer ranklotzen, gell, nur immer ranklotzen, nicht kleckern.« Und, ganz besonders wunderbar, vorgeheult in einer Betonung wie von Thomas Gottschalk, der einen Menschen ansagt, der sich hundertmal vom Handstand in den Kopfstand fallen läßt: »Fly like an eagle – or scratch with the chicken, sag’ ich immer, gell, ranklotzen, Hunderttausenderauflage, nur kein’ Kleinkram …«

Er blickte zwischendurch auch mal kurz zu mir und meinen Begleitern, wackelte ungenau ausdrücklich mit dem Kopf und gurgelte dann teils mühselig, teils fast schwunghaft weiter: »Immer Vollrohr und Vollgas! Ohne Wachstum bist du tot, tot! Jeden Tag einen Schlag mehr, Wachstum, die Kurve muß immer nach oben gehen …« Beim Stichwort »oben« fiel ihm einmal sogar, wie vom Heiligen Geist getreten, etwas noch Wesentlicheres ein. »Herr Ober, noch mal …« Er hielt sein leeres Glas hoch, ließ ploppend und bei leichtem Grimassieren dringlich aufsteigende Verdunstungs- und Verdauungsgase aus seinem Schlund abzischen und wurde selbstverständlich formvollendet bedient; immer wieder ein weiteres Bier, sonst nichts.

Zunehmend umständlicher nach Worten rudernd, im jammernden Diminuendo eines wohl tief in seinem Inneren rumorenden Verzagens, nur von nun häufiger auftretenden und immer umstandsloser formulierten Erleichterungsrülpsern kaum unterbrochen, trug er vor, daß die erste Million aus seiner Sicht und überhaupt erfahrungsgemäß die am schwersten zu erringende sei, und ließ doch, wie zum ganz großen Trotz oder gerade ausgehend von dieser Lehre, kaum etwas unversucht, sich persönlich als Experten und Praktiker der höheren Industriewelt und der fortgeschrittenen Kommerzkunde in Position zu setzen.

Das Schauspiel zog sich hin, und mit der Zeit kapierten wir, daß die beiden Belästigten, die in diesem Schwafelgewitter aufs manierlichste eisenhart Contenance bewahrten, als Touristen aus der seit Herbst 1989 offen stehenden DDR unterwegs waren. Sie nahmen ihr Abendessen zu sich, tranken langsam ihre Biere, und manchmal nickten sie dem Störenfried knapp zu. Ihn komplett zu ignorieren, wäre wohl zu anstrengend gewesen, so dränglerisch artikulierte er seine Ansprache.

Die für dieses idyllische Gasthaus eh untypische Szenerie erfuhr zusätzlich Kontur dadurch, daß Hausherr Wilhelm Bangemann seinerseits aufs dezenteste und unter Wahrung strikter Etikettefinessen, jedoch in schwerlich zu verkennender Distanziertheit ahnen ließ, daß auch aus seiner Sicht auf Anwesenheit und Mitteilungen dieses Dummpfiffikus geschissen war. Jener ermattete zwar zunehmend, raffte sich jedoch immer wieder, zwischen Gott sei Dank länger werdenden Pausen, zu appellhaft hervorgekeuchten Präzisierungen auf: »Und wenn’s dann mit dem Bißness läuft, dann läuft alles andere auch. Weiber und soo …!« Weiber ausgesprochen »Weiwa«.

In diesem Moment wurde mir klar, warum mich dieses unwürdige Gebrabbel so ungut einnahm und nervte. Ich kenne, zufällig über Bande und hauptsächlich vom Weggucken, einen Kretin, einen zu allem weiteren Unheil auch noch stark pornographisch durchsauten, knalldummen halb Alt-, halb Neunazi und Kleinunternehmer, von dem so gut wie niemals irgend jemand irgend etwas wissen will, der aber seine Mitmenschen fast pausenlos mit den unappetitlichst würdelosen und zuverlässig stets stockmisanthropischen Obszönitäten optimal belästigt; ein Auswurf allerverdrecktester Hölle. Und aus dessen Sabbermaul grunzt auch allzuoft das Appellwort »Weiwa«, an dessen böswillig-hormonstrotzenden Aufruf sich dann sofort und unvermeidlich endlos schlimmster Hirndreck reiht.

So wüst trieb es unser Idiot nun zum Glück nicht. Und da sein Kampf gegen das Bier ihn zunehmend erschöpfte, erlahmte irgendwann sein Redeschwall vollends. Seine gequälte Physis hatte wohl sicherheitshalber, im gewagt knapp limitierten Notfallmodus, das sie so fahrlässig regierende Spatzenhirn heruntergefahren. Mit letzter Kraft, körpersprachlich nun eindeutig vom zuvor beschworenen Ideal des Adlerflugs zum eher hühnerhaften Kratz- und Schlurfgang verkommen, und ohne weitere Umstände trollte er sich in sein Pensionszimmer.

Wir hörten nun von Herrn Bangemann, daß der Mann als frisch installiertes Nachwuchsmitglied einer in den Heidedörfern ambulant tätigen Buchklubwerberkolonne einquartiert war. Sein Weggang eröffnete Gelegenheit, mit den beiden Herren zusammenzusitzen, und wir erfuhren, daß sie, aus dem Ostthüringischen, aus der Stadt Greiz kommend, den ganzen Weg herbeigeradelt waren. Bei kalt-regnerischem Wetter, quer durch halb Deutschland, waren sie, beide Leser der Bücher Arno Schmidts, schnurstracks nach Bargfeld gefahren, um hier der Arno Schmidt Stiftung samt der dort museal gepflegten Lebenssphäre des 1979 verstorbenen Dichters ihre Aufwartung zu machen.

Die Herren aus der damals hierzulande gerne noch »Zone« genannten Welt erzählten von zu Hause und sprachen, außer über ihre Schmidt-Lektüre, auch über ihr Interesse an anderen aktuellen Kulturgütern der alten Bundesrepublik, dem sie nun aktiver nachgehen wollten. Bestens kannten sie sich in den Künsten der Autoren- und Bildsatirikergruppe Neue Frankfurter Schule aus, sie sprachen über ihr Nachholbedürfnis nach Auftritten westlicher Rock- und Jazzmusiker, hatten namhafte Buchhandlungen und Antiquariate auf ihrem Reiseplan und spezielle Museen. Tüchtig wollten sie sich umsehen, auch hier vor Ort erfahren, wie man die Angelegenheiten des Dichters Schmidt ins rechte Licht stellt – denn Michael Rudolf, einer der beiden, hegte damals schon konkrete Absichten, einen Literaturverlag zu gründen.

In welchen Ausmaßen und um wie viele Ecken herum prophetisch sich der besoffene Schwafelsack – fast wie ein von Charles Dickens in der Weihnachtsnacht zusätzlich ins Rennen geschickter Menetekelgeist, als Mensch gewordene Vorwegnahme kommender Zumutungen oder wie ein alles Böse und Blöde der Welt inniglich beschwörendes Marterlbild aus der Hand eines deliranten Herrgottsschnitzers – an eine zentrale Biegung des Lebenswegs Michael Rudolfs postiert hatte, konnte damals niemand ahnen.

WISSENSWERTES ÜBER GREIZ – Michael Rudolf erzählte mir noch am gleichen Abend von einem wunderschönen Museum voller feinster Kunstschätze in Greiz. Dort, im Sommerpalais, so erfuhr ich, seien Raritäten und Schönheiten sonder Zahl zu finden: eine außergewöhnliche Bibliothek, die großen alten Enzyklopädien, wunderlich Illustriertes, erstrangige Graphik des 18. Jahrhunderts, die Hinterlassenschaften einer englischen Prinzessin, die auch selbst als Bildende Künstlerin Gescheites vollbracht habe, und die Nachlässe ihrer in Thüringen angeheirateten Fürstenverwandtschaft, Künstlerkarikaturen, frühe Bildsatiren, Wertvolles von William Hogarth, Daniel Chodowiecki, Henry William Bunbury, Thomas Rowlandson, James Gillray und von Honoré Daumier, dazu deutsche kritisch-komische Graphik aus dem frühen 20. Jahrhundert und, als Clou, die amtliche, große nationale Karikaturensammlung der DDR, untergebracht in einer als »Satiricum« durchaus populären Abteilung des Hauses, namens derer man bisher die prima Greizer Karikatur-Biennalen gefeiert habe. Und im Sommerpalais erwarte man alsbald den neuen Direktor, Gotthard Brandler aus Berlin, unter anderem ein Experte für die Geschichte und Theorie der Baukunst, für die Geschichte der Presse- und Künstlerkarikatur und, Achtung: Herausgeber einer demnächst erscheinenden, riesigen, kritischhistorischen, groß kommentierten Reprintausgabe des Journals London und Paris des großen Verlegers und Druckers Friedrich Justin Bertuch aus dem Weimar der Goethezeit – ich wisse doch sicher Bescheid … Brandler habe ja in der Schriftenreihe Greizer Studien schon ganz wunderbar auf die Früchte seiner Bertuch- und London und Paris-Forschungen hingewiesen. Da sei Vorfreude angezeigt.

Die Blamage war so komplett wie meine Überraschtheit. Ich nämlich wußte nicht im geringsten Bescheid, ziemlich peinlich, da ich zuvor schwer mit meinem Interesse an kritischkomischer Bildender Kunst renommiert hatte. Ich mußte es dem freundlich nachsichtigen Herrn Rudolf gestehen, nein, Greiz östlich von Plauen im thüringischen Vogtland, das Fürstenhaus Reuß und seine Sammlungen, Sommerpalais, Satiricum, Biennalen, Greizer Studien – von Bertuchs Zeitschriften abgesehen, hatte ich nie von all dem gehört. Kein Schimmer. Verschwommen dümpelte nur die Parole »Greiz, Schleiz, Lobenstein …« in meinem Hinterkopf herum. Michael Rudolf behob auch diesen Mangel an Übersicht im Handumdrehen.



Michael Rudolf, Michael Riedel, Bargfeld, 1990.

Er und sein Freund Michael Riedel hatten mir in zwei, drei Stunden von mehr Wissenswertem in ihrem Land erzählt, als ich in den knapp vier Lebensjahrzehnten zuvor insgesamt erfahren hatte. Und dann noch zu hören, daß Michael die Gründung eines Verlages plante, in dem er Literatur des 18. Jahrhunderts, Satiren, allerhand Rares und Extravagantes ins Licht setzen wollte, dazu Aktuelles aus der sich damals spannend und vielversprechend erweiternden künstlerischen Umgebung der Neuen Frankfurter Schule, machte mir klar, daß dieser sehr sympathische Herr alsbald Erfreuliches ins Werk setzen werde.

MEKKA SOMMERPALAIS – Michael Rudolf hatte mich in der folgenden Zeit über das, was sich im Greizer Museum Sommerpalais tat, freundlich auf dem laufenden gehalten. Als Ende 1992 Direktor Brandler daranging, die Grundlinien seiner Ausstellungspolitik neu zu fassen, und zu Besprechungen darüber Kollegen aus Ost- und Westdeutschland nach Greiz einlud, hatte Michel dafür gesorgt, daß ich mit dabei war. Es war die schiere Freude, dieses legendenträchtige Museum und Gotthard Brandler, eine so gescheite wie liebenswerte Lichtgestalt der Branche, kennenzulernen. Michel hatte nicht zu viel versprochen.

Eines der Ergebnisse dieser Tagung war, daß infolge der Karikatur-Biennalen künftig groß aufgezogene Ausstellungen im dreijährigen Turnus stattfinden sollten, und Gotthard Brandler und ich vereinbarten, künftig auch persönlich zusammenzuarbeiten. Michel alleine hatte dies angestiftet, und ich danke es ihm bis heute sehr. Niemals sonst habe ich irgendwo so schöne Arbeit gefunden!

Das noch: Als ich am Vorabend des Tagungsbeginns abends im Stockdunkeln nach Greiz gefahren kam, hatte ich vom letzten Dorf vor Greiz aus Michel angerufen, der gemeinsam mit anderen Tagungsteilnehmern schon bei Ente, Knödeln, Rotkraut und Bier saß. Er beschrieb mir das letzte Stück Weg haarklein und erbot sich, mich in Greiz an einem markanten Treffpunkt zu empfangen; die Stadt zeige sich wegen Renovierung derzeit wenig übersichtlich. Eine halbe Stunde später traf ich an der Ecke Bruno-Bergner-Straße/Carolinenstraße ein, gegenüber der Einmündung des Gartenwegs, wo Michel und seine Frau damals wohnten. Michel stand, in dünner Kleidung, die Schultern hochgezogen, im Schein einer Straßenlaterne, winkte und nahm mich in Empfang. Außer ihm war trotz des frühen Abends weit und breit kaum ein Mensch zu sehen. Es war bitterkalt, die Luft war voller Braunkohleheizungsgeruch, und die, verglichen mit der Straßenbeleuchtung im Westen, eher sparsame und farblich anders getönte öffentliche Beleuchtung setzte mir die Kulisse in eine fremdartige, jedoch angenehm merkwürdige Stimmung. Ich fühlte mich sehr wohl.

Michel geleitete mich, vorbei an rätselhaften Baustellen und über labyrinthische Umleitungen, zur Parkgasse, wo mir im Krug zum grünen Kranze ein Zimmer reserviert worden war. Vor dem Gasthof zeigte er ins Dunkle hinterm Haus und sagte: »Dort gleich ist der Park mit dem Sommerpalais, du wirst staunen.« Dann ging’s zum Ort des ersten Beisammenseins der Tagungsgäste im Restaurant Am Goethepark. Als einzigen der Versammelten kannte ich bisher F. W. Bernstein, denn der zufällig am gleichen Tag dort ebenfalls erwartete Zeichner Steffen Haas aus München hatte sich verspätet. Bernstein und Michel machten mich mit Gotthard Brandler bekannt. Nachdem auch ich ein eins a Stück Ente niedergemacht hatte – ich werde bis heute den Verdacht nicht los, daß es sich in Wirklichkeit um den Schenkel einer Ente-Truthahn-Kreuzung handelte, mit der ein vogtländisches Geflügelkollektiv einst angetreten war, um auf Zucht- und Planübererfüllungsolympiaden sämtlicher Bruderländer Serien erster Preise abzustauben –, nahm dieses Konferenzpräludium herzerwärmende Formen eines fidelen Kameradschaftsabends an. Michel informierte mich über Herkommen und Bedeutung der anwesenden Ex-DDR-Künstler und -Kulturbetriebsleute. Und er sagte wortwörtlich: »Ja, du wirst es sehen, hier in Greiz ist’s schön!«

MICHELS TRAUMSCHLOSS – Während dieser Tagung bekam ich ein Exemplar des Bandes 1 der Taschenbuchreihe des Verlages Weisser Stein geschenkt, die 1991 erschienene historische Studie Schloß Liebau und seine Besitzer von Michael Rudolf. Dieses kleine Bändchen hat – über seinen hohen regionalhistorischen Wert hinaus – seine ganz eigene Geschichte. Es steht für eine lebenslange Herzensangelegenheit Michels, und es rangiert sehr zu Recht am Beginn jener Reihe, die das Rückgrat des Verlagsprogrammes ausmachte. Michel war als Kind mit seinen Großeltern oft am Schloß Liebau nahe Greiz und in dessen Umgebung spazierengegangen und hatte sich in dessen romantischbildschöne Kulisse verliebt. Phantasien seiner Kindheit verband er fortan mit der Ruine und mit dem wenigen, das er über deren Geschichte wußte. Später beschaffte er sich historische Literatur, und als er seine Frau Ina kennenlernte, waren die beiden häufig dort und teilten sich fortan Michels Liebhaberei für das Gemäuer. Sie nahmen sich vor, wenn sie mal zu Geld kommen sollten, vielleicht in der Lotterie einen Treffer hätten, die Ruine zu kaufen, sie anständig nach denkmalschützerischen Prinzipien herrichten zu lassen, um dann eventuell ein kleines Restaurant darin zu eröffnen. Sie dachten sich Speisen aus, die dort zu haben sein sollten, und stellten sich vor, ihre Tochter Eva könnte dereinst dort arbeiten. In den achtziger Jahren ging Michel daran, zunehmend sachlich und sorgfältig nach historischem Material zur Geschichte des Schlosses, zu seinen Besitzern und deren Umgebung zu suchen. Er fuhr zu den zuständigen Archiven und Kirchenämtern, arbeitete sich in die Methoden der Historiker ein und legte sich den Plan zu einem Buch über Liebau zurecht.

1990 hatte er seine Studie so weit abgerundet, sogar Zeichnungen zur Bebilderung angefertigt, und nun wollte er sie veröffentlichen. 1991 gründete er seinen Verlag, und sein Schloß-Liebau-Buch erschien, wie erwähnt, als die Nummer 1 der Broschuren. Große Freude.


Ernst Volland, Harald Kretzschmar, Michael Rudolf, Andreas Prüstel, Werner Tammen, Klaus Vonderwerth, Dieter Steinmann, Rainer Hachfeld, F. W. Bernstein, Rainer Ehrt, Steffen Haas, Gotthard Brandler, Greiz, vor dem »Krug zum grünen Kranze«, 1992.

Als er und Ina dann die Pakete aus der Druckerei geliefert bekamen, waren Enttäuschung und Ärger groß: Der von Michel entworfene, bei der Druckerei in dunkelblauer Farbe bestellte Umschlag des Buches war grandios verkehrt gedruckt. Statt in der vielsagenden Farbe Blau zeigte sich das Büchlein in bleichem Weiß, mit dunkelgrauem Bild und ebensolcher Schrift – eine Farbigkeit so öd wie die Wände einer alten Eier-Butter-Käse-Milch-Handlung.

Später, als mal ein paar Mark übrig waren, ließ Michel sich von einer Druckerei ein paar wenige Exemplare im ursprünglich gewünschten Dunkelblau herstellen; für sich und die Seinen.

FINSTERE GESCHÄFTE – Dank Michels Vermittlung hinsichtlich der 1992er Tagung war ich 1993 vom Direktor des Museums Sommerpalais eingeladen worden, im Beirat zur Organisation der für Sommer 1994 geplanten ersten Greizer Triennale mitzuarbeiten. Als Thema der Ausstellung war vorgesehen, wichtige Beispiele der aktuellen Karikatur- und Cartoonkünste vorwiegend jüngerer Künstler des seit 1990 vereinten, neuen Gesamtdeutschland vorzuführen.

In diesen Beirat war Michel als so etwas wie ein teils ehrenamtlich mitarbeitender Gast, teils fürs Publizistische amtlich Engagierter bestallt, denn der Katalog zur entstehenden Schau sollte in seinem Verlag publiziert werden und so im Buchhandel allgemein lieferbar sein. Im Beirat arbeiteten Ausstellungsleute aus Ost und West zusammen; wie sich bald herausstellte, unter ähnlich schief leuchtenden Sternen wie so viele andere Ost-West-Kooperationen jener Tage. Ein Kollege aus dem Westen hatte, weit über seinen ursprünglichen Auftrag hinaus, erstaunlich geschäftstüchtige Strategien zu seinen Gunsten ausgeheckt und schreckte gar vor Nötigungen nicht zurück, um seine kraß eigennützigen Vorhaben durchzuprügeln. Direktor Brandler wand sich angesichts dieser massiven Würgereien mehrfach in scharfen Magenkrämpfen, und Michel staunte auch nur so über derart einseitig-grobe Revierkampftreterei. Ein in der alten DDR sozialisiertes Mitglied des Beirats hingegen hatte in völlig anderer Ausprägung vergleichbarer Pflichtvergessenheit die Übersicht verloren, indem er sich partout nicht auf das Thema »Deutsche Karikaturen und Cartoons aus BRD-alt und BRD-neu« einzulassen vermochte und beständig darauf pochte, es sollten doch bitteschön bemalte Zimmertüren aus Kreisen Berliner Hausbesetzer und Cartoons des amerikanischen Comicgenies Robert Crumb gezeigt werden. Immerhin trug er zu guter Letzt einige mit Bildmotiven versehene Streichholzschachteln aus der Präsenteproduktion der Künstlergruppen »Renate« und »PGH Glühende Zukunft« bei. Einige Male saßen, in den Pausen langer Beiratstagungen, Gotthard Brandler, Michel Rudolf und ich im Café Lebensart und mühten uns, unter dem Druck solcher teils bösen, teils blöden Egoismen die Köpfe halbwegs hochzuhalten.


»Schloß Liebau«, Privatexemplar mit blauem Cover.


»Schloß Liebau«, Originalausgabe.

Diese erste Greizer Triennale haute dann schließlich ganz ordentlich hin, indem in zähem Zerren und Schieben die schlimmsten Eigennutz- und wirrsten Einzelgängerambitionen etwas gebremst und entschärft werden konnten. Michel aber, ähnlich wie Gotthard Brandler, hatte mit den ernüchternden Seiten der Erfahrungen aus diesen Gremien- und Schwitzkastenquälereien lange ungut zu tun, und er nahm diese Heimsuchung wohl als typisch maligne Standardsituation deutsch-deutschen Würgens und Strauchelns: Raffgier und plumper Egoismus aus dem Westen, dusseliges Auf-dem-Schlauch-Rumstehen als klischeegerechte Ostlerattitüde. Schlimme weitere Raubzüge in Richtung der Kassen des Sommerpalais in der Folgezeit sollten ihm, was den ersten Punkt angeht, alsbald drastisch recht geben.



Greiz, Gartenweg, 1992.

DISKO-MICHEL – Andersgeartete deutsch-deutsche Missionsszenen auf gediegen unterirdischem Niveau, die pfeilgerade an das gemeinsam mit Michel am verregneten 1990er Sommerabend im Bargfelder Gasthof Erlebte anschließen, durften wir Westler später, ab 1992, während draußen in der noch richtigeren Welt die größeren Realien verräumt wurden, aufs gemütlichste im Greizer Alltags- und bisweilen auch im dortigen Nachtleben immer mal wieder miterleben. Unvergessen bleiben wunderschön schäbig herausgeputzte, besonders an Wochenenden der »frühen Jahre« der Einheit in ihren spoilerbeklebten Autos aus den nahen oberfränkischen Urwäldern herbeigewuselte Freizeiter, die mit Wucht alles, was sie aufzubieten hatten, daransetzen wollten, um etwa in der traumhaft deprischummerigen Tanzbar Trocadero den anwesenden Greizer Jungdamen zu imponieren – nicht selten mit, entsprechend ihren Mitteln, angemessen geringem Erfolg. Eines späten Abends, als ich gemeinsam mit weiteren Sommerpalais-Vernissagegästen wieder einmal derartigem Elendsgewurstel zusehen durfte, blickte Michel Rudolf auf die von einer sich drehenden Silberplättchenkugel zittrig lichtbefunkelte Tanzfläche, an deren Rand und auf der sich ein paar besonders hinfällige, aus dem Altreich hergeschleimte Dummkrepel und Sackkratzer zäh um desinteressierte Greizer Mädels mühten, und meinte, mit viel nachsichtgesättigter Milde in der Stimme: »Ah, der Großinvestor tanzt.«


Zeichnung: Nerling.

ÜBER MUSIK REDEN – Unter Laien, eventuell auch noch im Kreis Begeisterter, über populäre Musik zu reden, erbringt selten mehr Gescheites, als sich etwa gegenseitig Filmhandlungen nachzuerzählen, und nervt meist arg. Soweit waren Michel und ich uns beim Thema Rockmusik einig. Trotzdem waren wir, als Michel mal kurz bei mir zu Besuch weilte, während einer Autofahrt spätabends ins Plaudern über seine große Liebhaberei für elektrische Gitarrenmusik, für »gefährliche Gitarristen« geraten. Freude konnte ich ihm unter anderem damit bereiten, daß ich ihm haarklein von Konzerten des Mahavishnu Orchestra im Jahr 1972 berichtete, bei denen dieses Quintett des Gitarristen John McLaughlin mit seinem brillant-mordspenetranten, hymnisch jubilierenden Radau etliche Lücken zwischen Rock und Jazz verspachtelte. Wir fachsimpelten an der Frage herum, ob die große Leistungssportlichkeit derartiger Virtuositätswucht rückblickend besehen zu Recht auch ein wenig komisch anmutet; machten Witze von wegen Strebertum, zu eitler, vielleicht arroganter Pose bei diesem irgendwie quasibuddhistisch-feinstofflerisch aufgemotzten Gedröhn. War McLaughlin in der Schule vielleicht so ein »Schnellmelder« gewesen, so ein immer fickriger Fingerschnipser, der mit seiner Antwort den Lehrer schon mitten in der Frage rechts und links zugleich überholen wollte? Oder ein »Nervenzippelzappel«? Stünde vielleicht gar der Geist allgemeiner Ejaculatio-Praecoxhaftigkeit ungut im Raum? So etwa sinnierten wir vor uns hin und kamen wieder zu Michels Hinweisen auf mir unbekannte Hardrock-Radaubrüder. Es ging um Jeff Beck, Jimi Hendrix und Frank Zappa und um die Frage, was es rund um deren Herkommen denn so alles Interessantes gebe. Michel hatte in dieser Hinsicht einige Favoriten im Sinn: die jüngeren elektrischen Bluesgitarristen aus den größeren Städten Amerikas und unter den Älteren sowieso immer John Lee Hooker, Howlin’ Wolf oder B. B. King. Sein Herz schlug für die Elektriker, am lautesten für jene, die etwas heftiger zu Werke gehen.

So blieb er erst mal skeptisch, als ich ihm in Aussicht stellte, bei mir zu Hause nachher Schallplatten zu hören, an denen man bei Jimi Hendrix und Konsorten zu bestaunende Muster des sehr schön am eher ländlichen und am betont dezenter formulierten Blues vernehmen könne. »Country Blues? Nee …« Das schläfere doch wohl bestenfalls die Füße ein. Über so was sei man doch längst hinweg. Daheim dann, kurz vor dem Zubettgehen, Michel hatte schon den ersten Schlummerschluck aus einem Fläschchen Parkbräu-Pirminator-Starkbier zur Kenntnis genommen und war eh schon reichlich müde, spielte ich ihm eine LP des Gitarristen und Sängers Lightnin’ Hopkins aus Texas vor, Lightnin’ Strikes, aufgenommen 1965 gemeinsam mit dem Bassisten Jimmy Bond, dem Schlagzeuger Earl Palmer und dem Mundharmonikaspieler Don Crawford, produziert von Dave Hubert für das Label Verve-Folkways (FV/FVS 9022). Und gleich bei den ersten paar Takten des ersten Stückes, »Hurricane Betsy«, einem so tieftodtraurigen wie gleichermaßen vom Künstler aufrecht und geradeaus vorgetragenen, wunderschön melismatisch dahererzählten Lied, rutschte Michel beinahe sein Bierflaschl aus der Hand. So schwebend leicht und zugleich intensiv, in zauberhaft geschmeidigen Takten swingend wie vier morganatische Schweizer Sonntagsuhrwerke, die gemeinsam in den Musikantenhimmel wollen, hatte er ähnliches bisher nie gehört. Ein von Mätzchen völlig freies, bei sparsamstem Mitteleinsatz in filigranen Nuancen ausformuliertes Volksmusikstück über eine schlimme, böse Naturkatastrophe, in die Welt gestellt als lupenreine moderne Kunst; genau besehen eigentlich eine der Ewigkeit gewisse Sternstunde des Jazz. Michel nahm jeden Ton als Welturaufführung, war wieder hellwach geworden und murmelte vor sich hin, Könner wie Jimi Hendrix oder Bob Dylan hätten es mit solchen Vorvätern im Ohr doch ziemlich plausiblerweise zu Prachtstücken wie »Red House« oder »Desolation Row« bringen können.

Diese so diskret und konträr zu jeder Aufregung über die Welt und ihren Untergang klagende, freundliche Musik berührte Michel mehr, als daß sie ihm nur gut gefallen hätte. Um noch ein paar ähnliche Stücke von Mance Lipscomb, Mississippi John Hurt, Son House und J. B. Lenoir zu hören, blieb er dann ein halbes Stündchen länger wach, als er es nach einem anstrengenden Reisetag und einer turbulenten Ausstellungseröffnung eigentlich vorgehabt hatte. Und als wir später schlafen gingen, hörte ich aus seinem Zimmer, wie er sich leise noch mal die drei, vier schönsten Juwelen von der Lightnin’ Strikes-LP anhörte.

Am nächsten Morgen, bei hektischer Toilette in der Eile des Aufbruchs, fiel dann wie zauberisch das Waschbecken unter Michels verseiften Händen von der Wand, um derart pittoresk, als wollte die Klempnerinnung auf der Documenta St. Damokles feiern, schief in der Luft hängenzubleiben. Michel, der nach dem Versagen des Waschbeckens die Körperpflege für diesen Vormittag gut sein ließ und halb gewaschen dasitzen mußte, erhob beim Frühstück mehrfach das Buttermesser, um in putzig gespielter Andacht nur »Lightnin’ Hopkins … Zeichen und Wunder …« zu raunen – und: »Lightnin’ Hopkins, das sage ich euch …«


Pirmasens, 1992.

SCHÖN ANGEZOGEN – Michel Rudolf war meistens leger gekleidet: Jeans, einfarbige T-Shirts, Blousons, seltener auch Hemden oder Pullover. Im Sakko sah ich ihn nie. Seine Kleider trug er immer auf bemerkenswert aufgeräumte Weise. Alles paßte ihm wie auf die Haut geschneidert, harmonierte farblich, war sehr gepflegt, völlig frei von Accessoires etc. und kleidete ihn sehr. Er war ja überhaupt eine stattliche Erscheinung; ich will sagen: Er stand seinen Kleidern so gut, daß er in Bluejeans und kurzärmeligem T-Shirt immer dezent beste Figur machte. Auch Schlaghosen waren nicht Seins.

HIMMELSLEITER UND WETTERLEUCHTEN – Eines Sommerabends im Jahr 1994 wollte ich eigentlich nur Michel auf seinem Heimweg durch die Greizer Innenstadt begleiten. Thüringen stand gerade seinen ersten Kommunalwahlkampf westlicher Prägung durch, und an Hand großzügiger Plakatierung war an den Wänden der Stadt eindrücklich abzulesen, welche Kapazitäten und Programmatiken die junge Demokratie hier aufzubieten hatte. Im Bann dieser Werbetafeln gönnten wir uns ein etwas weitschweifigeres Schlendern, gingen vom Puschkinplatz her durch die Marktstraße, von der mir ein Greizer, immerhin unter Vermeidung des Wortes »Flair«, kürzlich mitgeteilt hatte, sie habe »so was Mediterranes«, und kamen dann zu einer Anhöhe, einer steilen Hanglage unmittelbar am Rand des Zentrums. Michel sagte: »Da gehen wir rauf, von dort oben siehst du das ganze Elend auf einen Blick!« Wir spazierten hoch, passierten einen langen, »Himmelsleiter« genannten Treppenweg und saßen dann tatsächlich, am Fuß einer auf den Berg gestellten kleinen Plattenbausiedlung, auf einem prima Aussichtspunkt über den Schornsteinen von Greiz. In der Ferne waren Gewitterblitze zu sehen, die laut Michel ungefähr bei Plauen herumzuckelten.

Michel hatte mir während des Abendessens schon allerhand darüber erzählt, wie flott und schief zugleich die Stadt und ihre Einrichtungen in den letzten Jahren auf neuostdeutsche Weststandards hingebügelt wurden. Mitnichten nur im Städtebaulichen. Kohorten wunderbarer Figuren waren in Greiz aufgetaucht, hatten sich mit etlichen der wendigeren Einheimischen zusammengetan und hielten nun wichtige Fäden nicht nur fest in ihren Händen, sondern übten sich darin, so dies und jenes teils hochbizarr zu verknüpfen. Eine im Zuge Bonner Verwaltungsaufbauhilfestellungen irgendwie nach Greiz beförderte adelige Dame beispielsweise wirkte plötzlich nicht allein als neue Intendantin des Festivals »Greizer Theaterherbst«, sondern machte auch, laut Visitenkarte ganz öffentlich, tipptopp Figur als »Beauftragte des Landrats für Europäische Angelegenheiten«. Sparkasse und Landratsamt waren in umtriebige Hände gelegt, und die neuen politischen Parteien erblühten mit reichlich bewährten Kadern im gehobenen Personal zu schönstem Pluralismus auf allen Ebenen. Zwischen dem Anschluß und 1993 hatten es die Greizer mit drei Bürgermeistern und vier Landräten versucht, und die Umstände dieser flotten Wechsel wie auch einzelne Projekte der so schnell verschlissenen Stadtoberen rückten Greiz gefährlich nahe an die alten Geschichten aus der Stadt Schilda.

In Sachen Kultur wurden allerhand neue Wege eingeschlagen, häufig populistisch ausgerichtete, sogar ein opulent besetzter Gospelchor schmetterte nun regelmäßig Gottgefälliges so inbrünstig auf die erfreuten Greizer ein, als sollte die obligatorische Gottlosigkeit der zurückliegenden SED-Jahrzehnte mit allerschrillsten Mitteln gesühnt werden. Michel im Vorübergehen am offenen Fenster des Übungssaals der Gosplerer: »O weh, jetzt machen sie’s sich schön, die ehemals Geknechteten – mit Kultur!«

Die Überbleibsel der ehemals vor Produktivität strotzenden lokalen Textilindustrie hatten die Wendedirigenten einem indischen Unternehmer nicht nur komplett geschenkt, sondern ihm gleich noch einen Haufen Millionen mit dazugegeben, damit er die vereinbarungswidrig demontierten Anlagen zu sich nach Hause schippern und dort neu aufbauen konnte, um schmaddeliges Gelump herzustellen, das er dann extra billig retourschickte.

Dazwischen, als ein in den zierlichsten Tönungen menschgewordener Lichtblick, der Greizer Landtagsabgeordnete der christlichen Partei. Ein sympathischradikalidealistischer Vollrohrexzentriker, fundamentaler Philanthrop und Liebhaber klassischer Künste, den Edith Sitwell garantiert vom Fleck weg adoptiert hätte und der selbst im an Skurrilitäten kaum armen thüringischen Parlament durch so gut wie monarchistische Brandreden auffiel, in denen er, dekoriert mit echten historischen Ehrenzeichen vom Greizer Hof, dringlichst mindestens die Wiedereinsetzung des Fürstenhauses Reuß in gesamtpolitische Verantwortung postulierte, um dadurch unter anderem die seinerseits mahnend beschworene Vollendung der Zerrüttelung des Abendlandes im letzten Augenblick zu bremsen und weiträumig rückgängig zu machen. Klar, daß auch dieser Herr in Greiz nicht allenthalben Land sehen durfte; Michel nahm ihn, im Privaten ein liebenswürdiger, freundlicher Mann, obwohl er sich nie und nimmer als dessen Gesinnungsgenossen sah, gegen die Fronten der Greizer kategorisch in Schutz: »Seien wir dankbar für ihn und froh, gute Originale gibt’s hier viel zu wenige.«

An den Horizonten der Greizer Stadtmarketing-Initiative ging funkelnd der Stern eines zu Großem entschlossenen City-Action-Teams auf, und der Schunkelsänger Achim Mentzel mußte zu Ehren des aufschwingenden Gewerbelebens der Stadt von der Ladefläche eines Sattelschleppers herab so feierlich-wuchtig ins Leere hinein sein Bestes geben, daß selbst der Gelassenste nicht mehr wissen konnte, wer oder was ihm mehr leid tun sollte: der mißbrauchte Volkstümelschreihals, sein schütteres Publikum oder die komplett Düpierten, die am Marktplatz weite Fluchten unbesetzt bleibender Biertischreihen errichtet hatten. Michel stand einmal am Rand eines solchen, fast menschenleeren Stadtfestplatzes, blickte zum zwecklos auf einem Laufsteg zu Bumsmusik vom Tonband hin- und herhampelnden Achim Mentzel, hatte nicht mal Lust, sich aufzuregen, und murmelte nur: »Achim Mentzel, ach je.«

Wer sich in den geräumigen Kellergewölben des gutbürgerlich-biederen Restaurants beim Oberen Schloß wochenends zum Abendessen setzte, konnte durchaus erleben, daß plötzlich um 22 Uhr ein Conférencier zwischen die Eßtische trat, um von nun an zu schmierlappiger Dödelmusik ein umfängliches Unter- und Reizwäschevorführprogramm des »Show-Teams Plauen 2000« zu moderieren: scharenweise junge Männer und Frauen, angetan mit allerhand Korsagen, vorwiegend arschfrei gehaltenen Slips oder »Body« genannten, elastisch eng aufsitzenden, meist hochglänzenden Textilien nach dem Muster von Strampelanzügen fürs erste Lebensjahr. Ich durfte selbst einmal, gemeinsam mit Michel, Michael Etter, Michael Sowa, F. W. Bernstein, Achim Greser, Heribert Lenz, Eugen Egner, Rudi Hurzlmeier und anderen unvorbereitet eine solche Soiree miterleben, bei deren Ouvertüre schon dem guten Ettermichel – Gott hab’ ihn bittschön sehr selig! – beinahe ein Brocken seines just servierten Hirschgulaschs aus dem Mund gefallen wäre und Michael Sowa nur völlig platt stammeln konnte, daß solches sich der Würdigung durch Bildende Künste, selbst stramm zum Komischen hin spezialisierte, weit ins Nichtmehrdarstellbare entziehe, was ihm seine umsitzenden Branchenkollegen, alles Experten der Wahrnehmung und Wiedergabe auch fortgeschritten verbeulter Mental- und Welterscheinungen, augenblicklich beglaubigten.

Die zu solcher Distanz gegensätzlich ausgeprägte, hochentflammte Hingerissenheit des lokalen Publikums ist gleichermaßen kaum zu schildern. Ihrerseits selbst sehenswert fein herausgeputzte Greizer und Vogtländer, in alle Fehlfarben und Verformungen modischen Vulgärhistorismus verkleidet, applaudierten entzückt: Herren sehr gerne, selbst noch in der Mitte der neunziger Jahre, in wilden Kombinationen furunkulöser Entzündungsfarben von Rotviolett bis Zimtpink, Sakkoärmel flott aufgekrempelt, leuchtend schneeweiße Socken unter metallicbordeauxrotquietschlila changierenden Hosenbeinen, wie ihre Damen nicht selten auch im Ornat jenes Bastardstils, den die jodeligen Leitbilder der volkstümlichen Schlagermusik so profund promoten. »Verblendete«, murmelte Michel im diskret mitleidmilden Weggucken, streng adornitisch gemeint.

Und während in den Festsälen und Wirtschaften dergestalt geschunkelt, gegospelt und eitel arschfrei auf- und abgeschritten wurde, sah man den jüngeren Greizer des Nachts mit seinem neuen Westauto auf der Carolinenstraße drei- bis vierhundert Meter weit Anlauf nehmen, um dann bei röhrendem Vollgas so krachdebil-raketenhaft über die damals noch wild hoppelige Friedensbrücke zu rasen, daß dem gequälten Fahrzeug jeder Boden unter den Rädern flötengehen mußte und die Eckhäuser jenseits der Weißen Elster stets in der Gefahr schwerer Einschläge standen.

Greiz also erblühte und strotzte, sehr auch konsequenterweise gerade im Prominös-Personellen. Lediglich der ansonsten zuverlässig schillernde und sämtliche Mitmachgelegenheiten ausschöpfende Ibrahim Böhme, einer der gesamtbiographisch allerzerrüttetsten Stars des BRD-DDR-Zusammenwachsgedöhns, der in den siebziger Jahren auch schon mal als Kreissekretär des Kulturbundes in Greiz seine gewichtigen Stasipflichten emsig wahrgenommen hatte, fand so bedauerlicher- wie ungerechterweise in der ja eigentlich wirklich schön gebauten Elstertal-Metropole nicht zu neuen Ufern und Würden.

Über solches, etliches davon hatte ich ja selbst miterleben dürfen, sprachen wir, während wir oberhalb der Mündung der Greizer Himmelsleiter, um deren Aureole das Plauener Gewitter rücksichtsvoll seinen weiten Bogen zog, saßen und auf die mitternächtlich langsam weniger werdenden Lichter dieses vermaledeiten Saustalls blickten. Weil wir müde geworden waren, fielen unsere Witze über diesen dort unten sich immer stabiler formierenden Rundhorizont voller Trübsal eher matt aus: ob man eine so offenbar kompakt mehrheitlich ins Vulgäre strebende Menschengemeinde eher »Debilianopolis« oder das ganze Land gleich »Kretinolien« nennen sollte – oder am besten gar nix sagen und einfach nur zu- oder weggucken. Oder sich diskret zur Einigelung rüsten. »Ausweg steht einzig im Rückzug ins Private offen«, wie Gotthard Brandler immer wieder hellsichtig anmahnte, um sich dann allerdings doch erst mal noch weiterhin tüchtig fürs Sommerpalais abzumühen.

Was Michel mir sagen wollte, war auch: Was bei euch nach dem letzten Krieg, neben all dem Ordentlichen und Guten, in Jahrzehnten solid und wackelfest an Blödigkeiten und Schlimmerem aufgerichtet wurde, das schaffen wir hier in Greiz ruckzuck in wenigen Jährchen, und zwar bei optimalem Grad vielseitiger Verwahrlosung! Und das sagte er keineswegs böse-bitter oder gar fidel-spöttisch, besserwisserisch, auch nicht etwa von uneingelösten Hoffnungen enttäuscht, sondern nur unendlich traurig.

Ich wußte nicht, wie ich ihm hätte widersprechen können, zumal ich von seiner persönlich-sozialstrukturell schwer verschissenen Lage in Greiz wußte. Als ein von »führenden Kreisen« der Stadt tatsächlich weitgehend Geächteter hatte er sich dort durchzuschlagen, nachdem den Greizern irgend jemand zugerufen hatte, daß Michel im »westdeutschen« Satiremagazin Titanic unter dem Serientitel »Aus den Kolonien« ein paar sachte formulierte Anekdoten aus dem Nachwendegewusel seiner Heimatstadt veröffentlicht hatte.

Selbst hatte ich schon mehrfach dichte Ausdünstungen dieser Front gegen Michael Rudolf wahrnehmen müssen. Bei einer Vernissage im Sommerpalais zum Beispiel standen eines Sonntagvormittags mal, wie vom frühen Franz Josef Degenhardt in stinkiger Laune ausgedacht, ein paar typische Honoratiorengesichter in einem Winkel des Festsaals beim Sekt stramm bucklig beieinander und schmatzten die Gustostücke ihrer lokalpolitisch-sozialdarwinistischen Revierpinkelperspektiven durch. In einer Vitrine neben ihnen lagen zwei neuere, fein gemachte Katalogbücher des Hauses, deren Edition in die Hände des Verlages Weisser Stein gelegt war. Grob gehässig und brunzdumm, ohne jeglichen Schimmer, wovon sie eigentlich faselten, maulten die Herren höchst einig und saftig gegen »den Rudolf«. Jeder Hund mit drei Flaschen Sekt intus brächte beim In-die-Ecke-Scheißen auf Anhieb Menschenwürdigeres zustande als dieser Sauhaufen stumpf maligner Aufgerüttelter, in seiner verbeißwütigen Fiesheit zwergenwüchsig stolz Avancierter.



Dieter Steinmann, Michael Rudolf, Greiz, 1993.


Einige Wochen, nachdem Michael Rudolf mich über die Greizer Himmelsleiter geführt hatte, wiederholte ich zusammen mit Jürgen Brömmer eines Nachts diesen Gang und trug ihm dabei auch vor, was ich von Michel und anderen in letzter Zeit über das neue Greiz gehört hatte. Und während wir dort oben am Hang saßen, war in der genau gleichen Himmelsrichtung wie damals wieder lautlos ein fernes Gewitter zu sehen, das wie zu unserem Vergnügen am Horizont entlangfuhrwerkte. Michel kommentierte diese Duplizität der Himmelserscheinungen tags drauf etwa so: »Ja, wenn man über so was redet, dann muß sich doch zumindest der Himmel erbarmen und ein paar Lichtzeichen geben; daß er versteht, oder was weiß ich …«

Je länger ich mich besinne, um so deutlicher wird mir klar, daß Michel insgesamt eigentlich nur limitiert Lust hatte, sich an den verbollerten Seiten der Neuzeit in Greiz abzuarbeiten. Keineswegs begierig nach negativen Sensationen, schien er es eher mit einem Motto à la »Großer kulturstiftender Segen liegt auf der Erfindung der Klotür – man muß nicht jedem Arschloch beim Scheißen zusehen« zu halten. Seine Familie, Schönes und Gutes, Poesie, Knallmusik, das Schreiben über erstaunlich Diverses und ein Gang »in die Pilze« interessierten ihn x-mal mehr als die Wahrnehmung des weißderteufelwievielten Stinkskandals der Wendezeit.

DABBISCH – Als der große Ludwigshafener Kulturpolitiker Gerhard Klemm einmal in amtlicher Mission in Greiz weilte, um über kulturaustauschstrategische Weichenstellungen zwischen dem Sommerpalais und wichtigen Kultureinrichtungen Ludwigshafens zu konferieren, erfuhr er auch Details der diversen Schwierigkeiten, mit denen Michel in Greiz konfrontiert war, nachdem der Schriftsteller Günter Ullmann und andere so unangemessen auf Michels Titanic-Glossen über Greiz reagiert hatten. Als Leser und hingegebener Verehrer der Dichterin Fanny Müller, als Veranstalter der ersten Lesung Gerhard Henschels aus Moselfahrten der Seele, auch sehr beeindruckt von Michels Büchern über das Schloß Liebau und den Reußischen Robinson, zeigte sich »der Präsident«, wie die Seinen Geheimrat Klemm bis heute nennen, derart empört und fassungslos, daß er nach Abschluß der offiziellen Konsultationen in der Billardkneipe des Hotels Zur Friedensbrücke, als er sein erstes Glas Bier des Abends in die Hand nahm, laut schallend ausrief: »Ja, leck misch am Aasch, sinn die komplett dabbisch, die Greizer?« Trotz der ungewohnten Mundart des Volksvertreters und emeritierten Preisboxers kriegten die wenigen, trübe an den Pooltischen und Daddelkästen laborierenden Einheimischen einigermaßen glatt mit, was Klemm da in den Raum gestellt hatte, und guckten entsprechend grätzig drein. Er hatte aber seinem heiligen Zorn offenbar derart ausdrucksstark Luft gemacht, daß es niemand wagte, ihn auch nur zu fragen, wie er seine ziemlich rhetorisch formulierte Erkundigung gemeint habe. Als Michel später zu uns stieß, erfreute er sich sehr an den ziemlich weit weisenden Hinweisen Klemms, wie mit jenen zu verfahren sei, die dem Verleger und auch dem Direktor des Sommerpalais ihr Leben schwermachten – Überlegungen, in denen die aktuellen Hochwasser der nahen Weissen Elster eine zentrale Rolle spielten.


VOM SCHÖNEN AUF DER WELT – Etwa 1993 muß es gewesen sein, als Michel sich einen wohl seit längerem gehegten Wunsch erfüllte. Eine hochwertige, bombenfest verarbeitete Aktentasche aus festem Leder gönnte er sich, gemeinsam mit Ina in Zwickau gekauft, und Ina hatte schöne rote Schuhe dort gefunden. Als ein stilsicher dezent gestaltetes, klassisch zu nennendes Stück, formal und habituell entschieden konträr zu den allenthalben strotzend gestalteten Aktenkoffern, Flight-Cases, »Piloten-Taschen« und virulent in Mode gekommenen Rucksäcken jener Epoche, zeigte sich Michels Aktentasche, die Verlegertasche, wie seine Kumpels witzelten. Wenn sie überhaupt etwas ausstrahlte außer gehobener Aktentaschenhaftigkeit, dann die Vertrauen und Zuversicht stiftende Solidität des Beständigen. Und falls ich mich richtig entsinne, dann sah Michels Aktentasche ein wenig so aus wie die archetypischen Taschen, die der Zeichner Bernd Pfarr immer mal wieder seiner Figur Sondermann an die Hand gab; jedenfalls angesichts der tadellosen Qualität also eine fraglos im Geist unprätentiösen Understatements gehaltene Anschaffung. Michel war so froh mit seiner Tasche: »So ein Taschenstück, ein schönes, das ist was Bleibendes …«

EINZELHÄNDLERPOESIE UND WURSTSTRÄUßE UMS TAL DES TODES – Als Michel einmal kurz in meiner Heimatstadt weilte, wollte ich ihm fix einige Sehenswürdigkeiten zeigen. Er hatte mich ja stets mehr als gediegen über allerhand Beachtliches in Greiz und im Vogtland ins Bild gesetzt. Da galt es, etwas zu bieten. So fuhren wir am späten Abend durchs Zentrum, hielten kurz am gewaltig parvenühaft gestalteten und architektonisch verblüffend verkehrt in die Stadt gerammten, von einer extrem miserablen Plastik eitel gekrönten Hauptplatz und an einer selbst für Hiesige rätselhaft verzierten und mit bronzenem Kunstgewerbe bestückten Brunnen- und Wasserfallanlage. Zur Würdigung der modern gefaßten Seiten des Ortes reichten Michel diese Stadtmöbilisierungskleinodien erst mal hin; weiter sollte es gehen zu Zeugnissen eher folkloristischer Kapitel der jüngeren Stadtgeschichte.

Aber zunächst machten wir Station vor den zierlich dekorierten Schaufenstern eines an Tradition reichen, hochangesehenen Bekleidungs- und Wäschefachgeschäfts an unserer Hauptstraße. Der Inhaber präsentiert hier nicht nur erste Qualitäten erfreulich souverän fernab alberner Modeaktualitäten, sondern versieht seine Auslagen originell mit kleinen Hinweisschildern aus schwarzem Karton. Darauf stehen, in weißer Tusche stets akkurat ausgeführt, hilfreichinformative Präzisierungen wie »Chice Strickweste«, »Flotter Pullover«, »Modisches Hemd«, »Klassisches Hemd«, »Hemd, Leinen«, »Elegante Krawatte«, »Sportlicher Pyjama«, »Socken, Wolle«, aber durchaus auch »Sexy Top«, »Modischer BH«, »Flottes Nachthemd« bis hin zu »Baby Doll, Synthetik«. Michel war hin und weg. So konzentriert eingedampfte Poesie – Arno Schmidts leuchtfeuerhaftes Postulat vom Dehydrieren der Sprache fiel ihm ein – bei gleichzeitig enorm konzise in Kongruenz gesetztem Bezug zu Tiefendimensionen des allermenschlichst Realen hatte er schon länger nicht mehr vor der Nase.


Zeichnung: Birgit Bysiak.

Ergriffen und gespannt drängte er weiter. Denn ich hatte Michel, der zu jener Zeit schon den Plan seiner später dann so avancierten bierkulturellen Forschungen auf der Pfanne hatte, von einem kleinen Gassenensemble erzählt, von Kennern der sozialhistorischen Materie gerne »das Tal des Todes« genannt, in dem es, namentlich auch in beschaulichen Traditionslokalen, meist dergestalt hoch herging, daß man dort um Ohrfeigen oder schärfere Prügel nie groß betteln mußte. Michel kannte eine Anekdote, in der ein Fremder, ein Durchreisender vermutlich, die Hauptrolle spielt, der offenbar aus Versehen dort einst, und zwar im Auge des Orkans, in der legendenumwaberten Gaststube Zwickerstube, um ein Bier nachgesucht hatte. Der Mann hatte sein Glas Parkbräu scheinbar auch ohne weiteres bekommen, wollte allerdings dann bald zahlen und sich empfehlen; fatalerweise, noch bevor er sein Glas geleert hatte. Seitens der Leitung des Etablissements wies man ihn in aller Sachlichkeit darauf hin, daß hier die Gläser leergetrunken würden, hier mache man keine Reste. Daran solle er sich halten. Der Fremdling widersprach höflich, es habe ihm durchaus geschmeckt und gut gefallen, alles sei prima, nur durstig sei er nicht mehr, und so sei alles bestens.

Eine Selbsttäuschung, denn so leicht ließ man ihn nicht ziehen. Um die vermutlich noch etwas umständlichere Geschichte abzukürzen: Auf der Klimax der Affäre wurde der Unbelehrbare derart wüst verprügelt, daß er sich an die Behörden wandte und seinen Fall zu guter Letzt vors Gericht brachte. Immerhin sah er sich als Opfer dessen, was andernorts als Körperverletzung verboten ist und zu entsprechenden Ahndungen führen kann. Am zuständigen Gericht allerdings ging die Chose dann zum zweitenmal ins Auge, indem der zur Abrundung seines Biergenusses verdroschene und arg gedemütigte Reisende nun auch noch erfahren mußte, daß man juristischerseits in seinem Fall nicht groß zu Konsequenzen schreiten wolle, da er sein Bier nämlich nun mal an proletarisch geprägtem Ort zu sich genommen habe, in einer Welt, in der man zwar auch allerhand ver- und wegschüttet oder auch mal stehen läßt, aber sicherlich kein Bier, das noch zum Verzehr geeignet erscheint. Das sei nun mal so, praktisch Tradition, da habe auch der Fremde sich zu fügen und anzupassen. Einstellung des Verfahrens aus Gründen offenbarer Geringfügigkeit.

Dieses Geschichtchen hatte Michel sehr behagt, und es war klar, daß er den Ort dieses Geschehens mit eigenen Augen sehen wolle. So waren wir ins Tal des Todes vorgestoßen und fanden, werktags kurz nach Mitternacht, dort dann allerdings, gemäß der Faustregel vom alles vermasselnden Vorführeffekt, rein gar nichts Bemerkenswertes vor. Zu allem Jammer war besagte Wirtschaft samt ihrem konzeptionell ähnlich orientierten Nachbarinstitut auch noch gerade geschlossen, sozusagen temporär außer Betrieb, und pittoreske Randalierwillige waren auch weit und breit nicht zu sehen, nicht mal zu hören. Mehr enttäuscht als erleichtert, man will schließlich auch mal was erleben und sowieso dem Gast etwas bieten, trottelten wir noch ein paar düstere Altstadtgassen entlang, um bald vor das Schaufenster einer Metzgerei zu geraten, in dem ein Ensemble possierlicher, teils sachte anthropomorphisierter Keramikschweinchen und zwei, drei Rindviehfiguren artig zu beinahe biedermeierlich anmutenden Gruppen traulich solidarischer Wesen arrangiert standen. Von fahlem Licht notdürftig beleuchtet, lungerten diese Dekorationsstücke, Inkunabeln der Tierplastik, so nonchalant-vergammelt zwischen einer Auswahl repräsentativer Wurstwaren herum, als versammele sich Eugen Egnersches Groteskenpersonal zu schwer konspirativem Einsatz. Und mitten zwischen diesen fast epiphanisch aufragenden Vergegenwärtigungen dessen, wovon all das stammt, das es beim Metzger zu kaufen gibt, prangte auch noch auf einem von Kunstblumen umkränzten, leberwurstfarbenen Marmorpodestchen eine leicht protzige, mit ebenfalls goldbräunlich wie Brathendlhaut glänzenden Ringelwülsten garnierte Steingutvase, in der ein prall-dichter Gestrüppstrauch steckte, dessen Verästelungen kleine, noch prallere, satt-fettige Miniwürstchen hielten – wie ein komplett wahnsinnig gewordener Weihnachtsbaum seinen verkehrten Schmuck. Das Ganze stand korrekt versehen mit einem Preisschild: »Wurststräuße, DM 9,80 bis 14,80, ideal zum Bier«.

»Ideal zum Bier« – ich dachte, den Michel träfe der Schlag. Nach der ernüchternd toten Hose im Tal des Todes entschädigte diese feierliche, beinahe sakrale Installation ihn doch sehr für vergebens erhoffte Abenteuer. Zumal sich die unbedingte Dignität und Aktualität des Vorgefundenen im Handumdrehen verifizieren ließ. Die Überprüfung der Schaufenster einer führenden Wurstboutique ein paar Straßen weiter trug nämlich gleichermaßen Frucht. Auch dort blühten derart flotte Wurststräuße, daß man fast von Bouquets reden mochte, allerdings ohne Verweis auf die anderen Orts so plausibel beschworene Idealität begleitenden Biergenusses. Ich will den Mund nicht zu voll nehmen: aber das, was Michel und ich uns angesichts dieser Wurststraußprächtigkeiten über das trauliche Hand-in-Hand-Wirken von Metzgersmann und Metzgersgattin im Spannungsfeld zwischen Wurstteigkonsistenz und neuzeitlicher Wohn- respektive Präsentkultur zurechtsinnierten, würde heutzutage an jeder Uni geradewegs zu tadelloser Habilitation auf dem Felde avanciertester Gender-Studies führen.

Und keine drei Tage später rief Michel aus Greiz an. Auch bei ihm daheim standen, wie ums kreuzweise Arschlecken, die Metzgereiauslagen voller feudaler Wurstgebinde in Straußform, alles auf höchstem Niveau. Es lag uns abermals auf der Hand: Hier formierten sich nicht nur ehemals diverse Sparten bodenständigen Handwerks vorwärts zu neuen Horizonten wohlständiger Prosperität im Zeichen eines gesamtdeutschen, vermutlich paneuropäischen Lifestilbewirtschaftens – hier Floristik, da Schlachterei; nein, hier trat in ihre Rechte die Avantgarde des von Kanzler und Preßwurstfreund Dr. Helmut Kohl so flott gestifteten Zusammenwachsens dessen, was in eins gehört. Michel und ich standen innerlich stramm vor dem bonsaiformatigen Idealtypusmodell nahrhaft dünstender und gleichermaßen im Ästhetischen prall florierender Landschaften: einleuchtende Beschwörung hoher Unio mystica alles füglich Seienden aus Metzgershand. Heilig, heilig.


In meiner Schilderung der allgemeinen großen Gefährlichkeit des Daseins im sogenannten Tal des Todes hatte ich gegenüber Michael Rudolf nicht übertrieben. Unlängst berichtete Freund Kurt Stephan, ein mir in lokalhistoriographischen Belangen als äußerst zuverlässig bekannter Herr, der seine Kindheits- und Jugendjahre in einem Wohnhaus just am Rande des in Rede stehenden Quartiers erlebt hat, daß sein Bruder in den sechziger Jahren, als es dort noch regelmäßig etwas turbulenter zuging, sicherheitshalber auf dem Fuß kehrtmachte, wenn er bei der Annäherung an seine Heimstatt zwischenmenschlicher Aufrüttelungen vor den diesbezüglich renommierten Kneipen gewahr werden mußte. Er lief dann schnell zum nahen Taxistand, nahm sich eine Droschke und ließ sich, um etliche Ecken herum, die knapp zweihundert Meter bis genau vor seine Haustür fahren, um so auf sicherem Weg den Schutz des Hauses zu erreichen.

BESONNTE TAGE – Am Vorabend der Eröffnungsfeier zur Greizer Triennale des Jahres 1994 waren schon zahlreich Gäste rund ums Sommerpalais versammelt. Bald traf ich die Autorin Fanny Müller und konnte renommieren: »Ich habe schon die große Zeichnerin Yvonne Kuschel persönlich getroffen, ‚im Fleische’, wie Eugen Egner sagen würde, und die schöne Frau Passig – Anmut und Liebreiz, wohin man nur blickt, wenn ich’s dir sage, und rate mal, mit wem ich mein Appartement teile …« Frau Müller freute sich mit mir, sie ist nämlich eine ausgesprochen kluge Dame mit großem Herzen, mit der man als Mann auch unbedingt erkenntnisträchtig über Frauen reden kann, und hatte sich ebenfalls schon umgesehen: »Ja, und ich habe schon den berühmten Verleger Michael Rudolf leibhaftig kennengelernt!«

Den traf ich nur Minuten später, und auch er strahlte und sprach: »Ah, die Müller Fanny, meine Autorin, was für eine Freude, und Yvonne und Fritz Tietz, und mit Kathrin müssen wir reden, die muß mir was zum Verlegen schreiben.« Im Weissen Stein war damals nämlich schon Fanny Müllers Debüt, der Erzählungsband Geschichten von Frau K., erschienen, ein Ereignis, dessen Eintritt Michel mir telefonisch beim freudigen Bücherauspacken so gemeldet hatte: »Ein Festtag im Verlegerleben, Fanny Müller, vivat!«, und Kathrin Passig hatte, hier sozusagen als Kollegin von Michel, in Kowalski kurze Prosatexte von ganz erheblicher Prachtentfaltung veröffentlicht, beispielsweise die in schier attisch zu nennendem Ebenmaß erfunkelnde, enorm reife Etüde »Verkommenheit«, ein Lieblingstextchen von Michel.

1994! Von wegen Kathrin Passigs brillante Erzählung »Sie befinden sich hier«, mit der sie 2006 den Bachmannpreis gleich doppelt gewann, sei der überhaupt »erste Prosatext« dieser Autorin. Da lachen die sprichwörtlichen Hühner.

ÖNOLOGIE – Ebenfalls, als Michel zum erstenmal die Pfalz besuchte, erlebten wir gemeinsam ein Naturschauspiel, das dem 1992 sich langsam dieser künftigen Profession bewußt werdenden späteren Bierphilologen einen Heidenspaß bereitete. Während wir, aus der Vorderpfalz kommend, in Richtung Kaiserslautern auf der Autobahn wegen einer Baustelle langsam dahinfuhren, kamen wir nahe Neuleinigen an prominenten Weinbergen vorbei, die dort bis knapp an die Straße gepflanzt stehen. Am Rande einer dieser Plantagen ging ein Herr mit seinem Hund spazieren, und dieses Tier war gerade dabei, sein Geschäft, ein größeres, artig zwischen den Rebstöcken der ersten und zweiten Reihe zu verrichten.

Michel war begeistert: Das war nun mal eindeutig ein Fall höherer Segensstiftung dort, wo der Hund drauf scheißt. Ich hatte ihm eh gerade ein paar Minuten zuvor erzählt, daß neuerdings in südwestdeutschen Lokalen auch weibliche Sommeliers, wir nannten sie zart antikorrektermaßen Sommelieusen, ihren Dienst tun und einem mit ihrem sülzig-blöden Bluffergelaber noch mehr Kopfweh bereiten als mit dem sudeligsten Wein, den sie einem so affektiert einschenken. Eingedenk dieses braven Tiers nun war wunderschön zu phantasieren, wie sortenrein sich dessen Hinterlassenschaft auf allernatürlichsten Wegen in den dort reifenden Jahrgang verstoffwechseln würde und wie leicht man in den kommenden Jahren einen wahrhaft nuancensicheren Weinkenner oder gar -kellner daran erkennen könne, daß er diese Eigenheit des Bouquets genau erkennen und in möglichst aufgeblasene Euphemismen zu verklausulieren wüßte, während ihm sein noch kundigerer Gast barsch das Wort abschneidet: »Nee, isch schmeck’ do oindeutisch Schappi-Premium-Wildterrine und Latz-Dinkelleckerli, gell, mache Se mer nix vor, do hat en Terrier in de Wingert gschiss!«

Für Michel stand das Resümee fest: »Das kann dir beim Bier nicht passieren, der Hund kackt nicht ins Hopfenfeld!«

AM FICKOMAT VON MAINZ – Wenn ich mich recht erinnere, habe unseligerweise ich Michael Rudolf dazu angestiftet, die damals noch ganz kurze Geschichte und das Programm seines Verlages Weisser Stein bei der Mainzer Minipressenmesse des Jahres 1993 vorzustellen. Michels Teilnahme an dieser Veranstaltung zur Würdigung literarischer Kleinverlage – er durfte unter dem Motto »Verlegerträume« das Konzept seines Verlages vorstellen, neben Benno Käsmayr, der für Maro anzutreten hatte – erwies sich für ihn insoweit als Reinfall auf ganzer Linie, als daß diese überschaubar dimensionierte Buchmesse, deren speziellen Charme Michel irgendwo zwischen Ökomarkt-Impertinenz und Esoterik-Budenzauber ausmachte, dem jungen Verleger außer Kosten, Mühen und vergeudeter Zeit nur wenig einbrachte, zumal zu Hause am Greizer Schreibtisch sich das Pensum nützlicherer Arbeiten gewaltig häufte.

Gerhard Henschel, dessen Buch Moselfahrten der Seele – Referate und Räuberpistolen gerade als Titel Nummer 11 bei Michel erschienen war, trat im Lesungsprogramm der Messe auf, nicht wirklich passend oder animierend umrahmt allerdings von einer Horde rheinländischer Slam-Poetry-Hanswurste, guttrainierten Wettlese-Experten, als deren Spitzenkräfte eine dichtende Reinemachefrau und eine exotische Hobbydichterin mit schwer verbeultem, fürs Stoffliche ihrer Texte aber profund erschlossenem Migrantenhintergrund (von der Karibik nach Köln – oder so ähnlich) so rasant poetische Zeichen setzten, daß es die sprichwörtliche Wutz im Stall nur so gruselte. Michel und ich waren sozusagen als Verkörperung der Leserschaft Gerhard Henschels vor Ort und bekamen gleich tüchtig zu staunen, wie entschieden und wacker sich der Autor durch den Dschungel an Zumutungen schlug, durch den ihn der hier schief angelegte Weg zur Öffentlichkeit führte.

Michel fluchte sehr zu Recht, denn zu all dem anderen Unheil war auch noch das Wetter anhaltend garstig. Sehr nasser Wind pfiff kalt am Mainzer Rheinufer entlang, und die nötige Flucht nach vorne, vom öd-belebten Messezelt (Michel: »Ich weiß nicht, was schlimmer ist: die Kleinverlegerkollegen oder das Publikum«) hin zum nahen Zentrum der rheinland-pfälzischen Hauptstadt, führte uns Ortsunkundige auch zu rein gar nichts Gutem.

Einzig unsere Unterkunft gab Anlaß zu gehobenem Plaisir. In ein eindeutig am Zielpunkt langer Talfahrt hart aufgeschlagenes Hotel aus wilhelminischen Tagen, nahe am Mainzer Hauptbahnhof, hatten uns die Experten der Touristenbehörde eingewiesen. Michel und Gerd stöhnten halb amüsiert, halb echt geschockt: Als noch verblichener als einige der wildesten Kaschemmen, die sie auf Lesetour durch die noch sehr jungen Neuen Bundesländer kennen- und fürchten gelernt hatten, zeigte sich dieses erahnbar ehemals noble Haus. Tapeten mit Müsterchen, die man problemlos jedem fachlich noch so fitten Kurator psychopathologisch orientierter Kunstsammlungen als ewige Glanzstücke seiner Bestände unterschieben könnte, mobiliarhaftes Geraffel, dessen Schoflesse selbst hartgesottene Sperrmüllexperten in die innere Emigration gescheucht hätte, und eine Gesamtatmosphäre wie in gewissen schwarzweiß gehaltenen Meisterwerken des osteuropäischen Filmdramenrealismus der ganz frühen sechziger Jahre. Zu trinken gab es in dieser ungemütlichen Herberge am Abend sowieso nichts mehr, nicht mal Fernsehkästen standen bereit, und draußen tobten weiterhin Sturm und Regen. Also saßen wir erst mal matt in einem unserer Zimmer herum und klagten über das laue Gedöns bei der Kleinverlagsbuchmesse.

Einer von uns, ich meine, es war Michel, entdeckte dann den kleinen merkwürdigen Kasten. Auf dem Nachttisch, unterm Schirm einer kleinen Funzellampe. Ein dunkel lackiertes, gut abgegriffenes, simpel verarbeitetes Blechkistchen, mit alten Stromschaltern auf der Oberseite und einem Schlitz wie auf einem Kollektenschrein, groß mit dem Hinweis »DM 1« beschriftet. Ein dickes Kabel verlief von diesem Instrument ins Dunkel unterm Bett. Rätsel über Rätsel. Michel hatte ein Markstück zur Hand und steckte es, nur mäßig gespannt, was für Attraktionen nun eintreten würden, in den Schlitz. Augenblicklich erhob sich ein schnarrendes Gequengel aus dem muffigen Inneren des Bettes, ein ungesund klingendes elektrisches Eiern, wie von einem Handmixer kurz vor seiner endgültigen Havarie. Und das noch abgedeckte Bett begann sich zu regen, bäumte sich partiell um ein paar Zentimeter auf, ungefähr in der Mitte der Liegefläche, schön im blöd fickrigen Takt des Geknatters, anzusehen etwa so, als übe ein mit schlechten Amphetaminen großzügig gedopter, zornig bockender Goldhamster unter der Decke einbeinig einen Veitstanz ein. Michel erstarrte, er hielt den Geldschlitzkasten in Händen wie ein überforderter Meßdiener sein Monstranzenzeugs während einer unvermuteten Herrgottserscheinung, guckte einigermaßen verdattert auf das, was er da angerichtet hatte, und wußte erst mal überhaupt nicht mehr weiter. Gerd Henschel, der hinsichtlich des weiteren Verlaufs dieses Abends auch schon alle Hoffnung aufgegeben und nur einen Schritt neben Michel gut aufgepaßt hatte, was nun geschehe, gewann als erster seine Fassung zurück und lachte sich schier scheckig. Von diesem, Gerds erstem Ausbruch baren Vergnügens an diesem sonst voll vergeigten Tag ermutigt, betätigte Michel nun einen mit 1, 2 und 3 beschrifteten Schalter, und sofort gehorchte das Bett, indem das ratternde, leicht hoppelnde Geknatter sich nun auch noch in wechselnden Frequenzen hören ließ, je nach Grad der ihm fernlenkerisch befohlenen Erregung.

Noch bevor nach etwa einer Minute der Spuk erlahmte, hatten wir unsere sämtlichen Markstücke hervorgekramt, und Michel, er hatte gefaßt und beherzt die Rolle des Ingenieurs und Leiters des Experiments übernommen, fütterte erneut den Kasten mit Barem. Gerd Henschel, der nun auch noch wissen wollte, was genau die Ursache der Erscheinungen sei, deckte vorsichtig das Bett ab, hob mit spitzen Fingern die Matratze an und stieß auf ein weiteres, auf dem Lattenrost wackelig-schief befestigtes Kästchen, aus dessen Oberseite ein kleiner Stößel herausklopperte, zweifellos dafür geschaffen, per pochender Einwirkung auf die Matratze eine oder mehrere auf dem Bett situierte Personen mechanisch zu bearbeiten.

Ein geprägter Schriftzug auf einem der Kästen wies per Wortspiel auf das gewisse Massagehafte der dem Apparat eigenen Regungen hin. Den völlig perplexen Gerd Henschel hielt nun gar nichts mehr auf den Beinen. Laut lachend und die Hände über dem Kopf zusammenschlagend, wälzte sich der junge Dichter auf der durchfallfarbenen Auslegeware. Irgendwann, mehrere Markstückel waren verjuckelt, ließ sich einer von uns auf den Rand des kinetischen Betts fallen, das sofort weitgehend durch- und zusammenkrachte und nun wie ein am Orkus gestrandetes Floß handwerklich ungeschickter Schiffbrüchiger dumm vor der Wand hing – bei immer noch stur tuckerndem, erstaunlich standfestem Stößelmechanismus. Ein grandioser Anblick, beinahe rührend schon, ergreifend wie eine von Beate Uhse gesponsorte, eingedenk Sigfried Giedions Studie über Die Herrschaft der Mechanisierung multimedial zur Metapher des universell Deppenhaften versaubeutelte Paraphrase von Caspar David Friedrichs großem Bild der vor dem gefrorenen Meeresufer gescheiterten Hoffnung, mit der man Harald Szeemanns kompletter Ausstellung »Junggesellenmaschinen« von 1975 mit links Konkurrenz machen könnte. Gerd Henschels Lachkrampf war endgültig ins Chronische entgleist.

Michel aber ließ sich zu fast anzüglich politischen Bemerkungen zum Nimbus der westdeutschen Hotellerie hinreißen, nicht die letzten Witze dieses so im letzten Augenblick noch geretteten Abends im stark faden Mainz. Am Morgen gelang es uns, das Bett immerhin so scheinbar gerade wieder aufzurichten, daß es zumindest auf den ersten Blick wie intakt aussah. Zur Minipressenmesse nach Mainz sind wir drei dann nie mehr gefahren.

»EIN GENTILER HERR« – Aus Michels Mund habe ich nie eine Zote oder ähnliches gehört. Er konnte fluchen, auch schimpfen; aber er wurde nie auch nur andeutungsweise ausfallend. Selbst in grenzwertigen Situationen nicht.

Als ich mal mit ihm vor einem Drehkreuz am Eingang zum Frankfurter Messegelände stand, wurde er beinahe von einer wuchtig daherstampfenden Dame, einer riesigen Gestalt von ungeheurer Blunzenhaftigkeit, umgerempelt. Er wich im letzten Augenblick elegant aus, machte auch noch einen leichten Diener, wies lächelnd aufs Drehkreuz und sagte doch tatsächlich: »Madame …« Das Monster, das um ein Haar im Drehkreuz steckengeblieben wäre, japste kurz auf und blaffte Michel grob an: »Die Madame könnense sich sonstwo hinstecken!« Erst als diese Person außer Hörweite war, sagte Michel »Um Himmels willen« und grinste nachsichtig.

Keine zehn Minuten später saßen wir gemütlich am Buchmessenstand des Haffmans Verlages, als genau jenes Monstrum wieder auftauchte, sofort laut nach dem Verleger verlangte, sich zwischen Umherstehende drängelte und schnaubend signalisierte, daß es fixe Bedienung erwarte. Michel war begeistert. Er trat zu Gerd Haffmans, der sich mit Autoren unterhielt, faßte ihn leicht am Ärmel und sagte, auf die Besucherin weisend: »Herr Haffmans, diese Dame hier hätte ein Begehr …« Nun mußte halt der arme Gerd Haffmans ran, der anschließend ganz daddelig aus seinem schönen Anzug schaute. Denn das Ungeheuer war als Journalistin unterwegs und wollte dringlich zu einem Interview mit der Jungautorin Amanda Filipacchi vorgelassen werden, deren aktuell als leicht skandalös berüchtigter Roman Nackte Männer unter dem Hinweis »Der Roman einer Erotomanie – süß wie die Sünde selbst«, versehen mit dem Foto einer merkwürdig halbnackten Frau auf dem Umschlag, im Haffmans Verlag gerade auf deutsch erschienen war. Der Verleger wußte mit reichlich Mühe seine Autorin vor dem Schlimmsten zu bewahren und seufzte nach dem Weggang der in Bud-Spencer-Pose vor ihn hingetretenen Frau ernstlich geschlaucht: »Jetzt brauch’ ich was zu trinken.«

Michael Rudolf, in seiner nicht zu überbietenden Milde, schloß das Ereignis mit den Worten ab: »Mademoiselle Filipacchi, da ahnen wir doch was, siehste, deswegen hat Madame es vorhin so eilig gehabt.«

Ich habe Michael Rudolfs reiche Begabtheit mit Contenance immer sehr bewundert und komme, wenn ich an ihn denke, oft auf Eckhard Henscheids schön huldigende Worte über Ror Wolf: »Ein gentiler Herr«. Genau!


PILZKULTUR – Als Michael Rudolf daranging, für den Haffmans Verlag einen Band der Schriftenreihe Der Rabe – Magazin für jede Art von Literatur zusammenzutragen, fragte er mich, ob ich Sachdienliches beizutragen wüßte. Letale Pilzgerichte, fragwürdige Rezepte aus dem Pfälzerwald, derlei hätte ihn interessiert. Ich konnte überhaupt nicht dienen, erinnerte mich lediglich an einen ehemaligen amerikanischen Soldaten, der früher bei der US-Luftwaffe in der Pfalz zu dienen hatte und stets allerhand Kurioses aus den Alltagsgeschäften des Militärs erzählen konnte. Jener hatte einmal von einem dienstlich zirkulierenden, als ziemlich »vertraulich« klassifizierten Handbuch berichtet, in dem Fotos verschiedener Formen echter »Atompilze« zum anschaulichen Vergleich versammelt waren, typische Rauchwolken, wie sie zum Himmel aufsteigen, nachdem die Bombe geplatzt ist. Man sieht solches auch, lieblich schön zu hymnischer Schlagermusik choreographiert, am Ende von Stanley Kubricks Filmgroteske Dr. Seltsam oder: Wie ich lernte, die Bombe zu lieben. Im besagten amtlichen Album der echten Bombenkerle sollte es laut meinem Gewährsmann in der Hauptsache darum gehen, eigene Atombombenrauchwolken von jenen des Feindes (in den siebziger Jahren noch eindeutig der Russe) unterscheiden zu können. Michel war von der Aussicht entzückt, dieses im Zivilen vermutlich einigermaßen okkult gehaltene Werk für seine Forschungen verwenden zu können. Unser Informant, leider damals schon länger außer Diensten, konnte dann leider weder ein Exemplar noch nähere Angaben zum Titel etc. besorgen. Wohl standen immer noch Umstände der beim Militär ja stets gerngesehenen Geheimhaltung einem leichten Zugriff sehr im Weg.

Was Michel in diesem Zusammenhang auch sehr einleuchtete: Derselbe exmilitärische Gewährsmann hatte, in Vernachlässigung seiner geheimhalterischen Gelöbnisse und Pflichten, mit großem Amüsement herumerzählt, daß seitens der NATO ein feindseliges Näherrücken des Russen und seiner Mittäter unbedingt auch immer für die Weihnachtstage in Betracht käme. Und für eine derartige Gemeinheit des Russen hatten sich die Bedrohungstheoretiker im Pentagon und ihre Vasallen auf der Bonner Hardthöhe einen mindestens doppelten Grund ausbaldowert: 1. Die große Gottlosigkeit des multipel verblendeten Russen kennt keinerlei Respekt vor hohen christlichen Feiertagen. 2. An Weihnachten haben unsere Soldaten frei, sozusagen Urlaub, weilen zu Hause bei ihren Lieben und trinken Glühwein. In das deswegen weit klaffende Abwehrvakuum frevelhaft vorstoßen zu wollen, hatte man als regelrecht wesensmäßig für den Russen erkannt. Michel schlug sich auf die Schenkel, genau das hatte auch er immer schon geahnt, auf ebendiesem Niveau hatten ihm seine Ausbilder bei der Nationalen Volksarmee die Schwitzigkeit der Dauerspannungen zwischen Warschauer Pakt und NATO erklärt.

Sehr erbaute ihn auch zu erfahren, daß man in Sachen Russenabwehr und -prophylaxe in meiner engeren Heimat gerne Nägel mit Köpfen machte. Als der Kalte Krieg nämlich so richtig schön am Brummen war, strotzte der Pfälzerwald nur so vor unterschiedlichsten Einrichtungen der amerikanischen Streitkräfte. Bunker, Depots, Giftgas- und Schnapslager, Ausweichhauptquartiere, Übungs-, Spiel- und Schießplätze usw., alles immer stattlich umzäunt, abgesperrt und eisern bewacht. Daß dieser ganze Krempel die gottlosen Aufklärungstrupps des Warschauer Pakts etwa so zwingend animierte wie ein sperrangelweit offen stehender Kuhstall jeden Mückenschwarm in weitem Umkreis, liegt ebenso auf der Hand wie der demgemäß hohe Grad an Alarmiertheit bei den Amerikanern, die, über die Verheißungen des Weihnachtsszenariums hinaus, pausenlos so taten, als erwarteten sie das Heranwalzen des Russen augenblicklich. Und um schon gegen das freche Auftreten etwaiger Russenvorhut, vielleicht etwa in Form touristisch getarnter Spione, immer optimal und völkerrechtlich wasserdicht gewappnet zu sein, hatten sich die Amerikaner eine gewaltig hinterfotzige Extravaganz ihres sowieso großzügig ausgelebten Beschilderungs- und Warn- oder Drohwahns ausgedacht: Im Pfälzerwald standen tatsächlich Schilder, auf denen in weißer, kyrillischer Schablonenschrift zu lesen war, daß auch der Russe hier nichts zu suchen und bei Zuwiderhandlung mit dem Äußersten zu rechnen habe; mit ernstlichem Gebrauch von Schußwaffen nämlich. Wäre der Russe gekommen, und hätte man ihn dann erwischt und erschossen, wäre somit klar gewesen: Er ist selbst dran schuld, er war ja gewarnt. Leider waren in den neunziger Jahren solche Schilder dann kaum mehr zu finden.

Michel aber war allein vom Bericht über diese Beschilderungspenibilitäten der großen westlichen Schutzmacht höchst erbaut. Und er bewies als Zeitzeuge des weiteren Fortgangs der bilateralen mitteleuropäischen Abrüstungsorgien der Ära Gorbatschow kosmopolitischen Weitblick und die tolerant-sportliche Grandezza des entspannten Feingeistes, der, ganz ohne Ressentiment, jeglichem Etappensieger im dann erst mal vertagten Kampf der Systeme gleich frohen Tribut zu zollen vermag, wenn ihm der Lauf der Dinge recht gibt. Die Amerikaner und ihre westdeutschen Marionetten nämlich lagen mit ihrer Russenphobie, im weiteren globalhistorischen Maßstab besehen, zu Zeiten des Kalten Krieges gar nicht so verkehrt. Denn kaum hatten sie ihre Präsenz zum Beispiel in der Hinterpfalz augenfällig geschrumpft, marschierte dort tatsächlich umgehend und beeindruckend zahlreich der Russe in den neu eröffneten geostrategischen Freiraum ein. Und zwar in Gestalt der von Bundeskanzler Dr. Kohl listig herbeigelockten und hier bleibend angesiedelten großdeutschstämmigen Aussiedler von jenseits der Wolga etc.

Michel erkannte den Zusammenhang augenblicklich und sagte zu diesen Entwicklungen nur: »Das hab’ ich kommen sehen, auf den Punkt. Pfeilgerade so hab’ ich den Russen kennengelernt«; und hatte trotzdem nicht die geringste Lust, mir wüste Geschichten vom Horror seiner Militärzeit bei der NVA zu erzählen: »Nee, laß mal, da gibt’s schönere Themen.«

HERBERGSVATER MICHEL – Als ich einmal, nach einer mühseligen Autofahrt durch Winterwetter, in Greiz ankam, suchte ich als erstes Michel auf, damals in der Wohnung im Gartenweg. Er sah sofort, wie müde ich war, und sagte: »Du kriegst erst mal eine Stulle«, bereitete mir ein klassisch illustriertes Brot zu und etwas Warmes zu trinken. Fünf Minuten später fühlte ich mich wie nach vier Wochen guter Kur.


VERWERFUNGEN – Im Sommer 1995 hatten Gotthard Brandler und ich eine Ausstellung der Künstlerkollegen und -freunde F. W. Bernstein und Manfred Bofinger fürs Greizer Sommerpalais organisiert. Es war eine Freude, diese Schau vorzubereiten. Jürgen Brömmer hatte in seiner just gegründeten Brömmerschen Privatverlagsanstalt zu Mannheim zwei schöne Katalogheftchen aufgelegt, und Gotthard Brandler war, nach eingehenden Beratungen auch mit Michael Rudolf, auf die strategisch grandiose Idee gekommen, als Vernissagenfestredner keinen Geringeren zu bitten als »den Großen Vorsitzenden« Harald Kretzschmar. Dieser prominente Herr, seines Zeichens nicht nur selbst Zeichner, Karikaturist, Illustrator, Plastiker und Autor, wirkte nicht nur als Journalist, Mitarbeiter des Satiremagazins Eulenspiegel, Kunstkritiker und Hochschullehrer, sondern unter anderem als Vorsitzender der Zentralen Sektionsleitung Karikatur im Verband Bildender Künstler der DDR und hier unter anderem als Bannerträger der besonderen Beziehungen zu den Karikaturisten Bulgariens ab der ersten Stunde. Als wirklich kapitelfester, vermutlich weltweit bester Kenner auch noch der verstecktesten Winkelchen der glorreichen Geschichte der Komischen Zeichenkünste in der DDR weiß Kretzschmar wortwörtlich alles und kann es auch wunderschön erzählen; er kennt sogar sämtliche Pseudonyme, unter denen Ulbricht und Honecker irgendwelches witzpfiffig gemeintes Geschwurbsel tatsächlich im amtlichen DDR-Satireblatt Eulenspiegel veröffentlichten!

Da es etwa bei der Vernissage der ersten Nach-Wende-Triennale im Greizer Sommerpalais, im Jahr 1994, noch spürbar mächtige Verwerfungen zwischen den Ost-Künstlern und ihrer neuen Konkurrenz aus dem Westen gegeben hatte und Karikaturkultur-Chefideologe Kretzschmar per flammendem Donnerwort im Neuen Deutschland ein gutes Schöppchen Öl ins Feuer dieser so künstlichen wie sowieso unnötigen Erregung gegossen hatte, erfuhr Direktor Brandlers Coup, »den Alten« zur Absegnung der musealen Würdigung der Künstlerfreundschaft Bernstein/Bofinger sprechen zu lassen, schon im Vorfeld der Ereignisse viel vorfreudige Anerkennung. Auch Michel Rudolf war sich sicher: »So soll’s sein. Brigadier Kretzschmar, genau. Der wird reinhauen, da bleibt kein Auge trocken. Klasse!«

Harald Kretzschmar war schon am Vorabend der Eröffnung angereist, und schnell war klar, daß allein schon der Umstand, daß man ihn als Hagiographen des Künstlerduos Bernstein/Bofinger bestallt hatte, ihn restlos vom somit auch sauber eingelösten hohen Anspruch des Unternehmens überzeugt hatte.

Herr Kretzschmar zeigte sich, wie Gotthard Brandler und Michael Rudolf es hatten kommen sehen, beim vorabendlich präludierenden Umtrunk schon in aufgeräumtester Stimmung und übernahm obligatorisch und zu Recht eine Art Generalpräsidentschaft. Selbst Yvonne Kuschels und meine Anwesenheit juckte ihn nicht im geringsten. Die Beteiligung der Künstlerin an der 1994er Triennale in Greiz und meine Mitarbeit an dieser Ausstellung zählten damals zu den hauptsächlichen Anlässen seiner gewaltigen Erregung.



Greiz, Gartenweg, 1994.

Und nun, nein, für die kommende Vernissage brauchte man sich erst mal gar nicht auf ein Kretzschmarsches Massaker einzustellen, denn derart bombig gelaunt, fidel und freundlich zu allen, erzählte der Karikaturistenpapst schönste Geschichten aus der Welt der zum Komischen geneigten Bildenden Kunst – und keineswegs nur solche von gestern. Michel freute sich: »Tipptopp, der Oberchef ist saugut drauf, bestes Vernissagenwetter!«, und beim späten Abendspaziergang durch den Schloßpark, den früheren Leninpark, überlegten wir schon, wie gediegen der Doyen doch eigentlich auch mal in Programm des Weissen Steins Großes und Wertvolles bewirken könnte.

Am Morgen der Vernissage lag tatsächlich froh stimmendes Sommerlicht über Greiz. Einzig meine damalige Verlobte war am Frühstückstisch mit unnötigem Gezänk und stabiler Zickigkeit gegenüber aus meiner Heimat angereisten Freunden aufgefallen – in der ganzen Unangemessenheit ihres Affekts vielleicht ein Wetterleuchten kommender Verdunkelung. Die Eröffnung der Ausstellung verlief dann noch beseligender als je erhofft. Harald Kretzschmar schwelgte und strahlte, lobte das Zusammengehen von Ost und West unter dem Dach des Sommerpalais als ideales Modell innigsten deutsch-deutschen Einigwerdens überhaupt und machte gar klar, daß etwaige kulturpolitische und auch vielleicht mal leicht persönliche Verwerfungen nun längst wie von der Weißen Elster weggespült und obsolet seien wie Pulverqualm vergessener Schlachten. Selten schwappten im Sommerpalais güldene Wogen gemütlichsten Einigseins derart hoch. F. W. Bernstein und Bofinger strahlten, Gotthard Brandler und ich griffen erleichtert zu einem Arzneigläschen Jägermeister, denn alles war prima, und sogar meine Braut hatte sich inzwischen entspannt. Der Geist des Dr. Kohlschen Donnerworts von den demnächst hier blühenden Landschaften schwadete wie ein hier schon mustergültig eingelöstes Hohes Lied wenn schon nicht über ganz Greiz, so doch gewiß über den Köpfen der im Festsaal des Sommerpalais Versammelten. Beseligt konnte man zum formellen Mittagessen im Hotel Ambiente schreiten.

Dort dann schlug das deutsch-deutsche Verbrüderungspendel voll zurück, und zwar einzig und allein knallhart auf Michael Rudolf. Irgendwann während des Essens begann mein zum erstenmal in Greiz weilender Freund G., ein sonst ehrlich-lieber Mensch, der üblicherweise von Herzen gerne jeden nach jeder Fasson glücklich werden sieht, den und dessen Frau mein Frl. Braut morgens im Hotel so grundlos zänkisch genervt hatte, mit Michel einen zwar halblustig aufgezogenen, aber insgesamt zähkrampfigen Disput über »Wir im Westen – Ihr im Osten«, in dem er, deutlich im Sinne eines burschenschaftlichsportlichen Schwanzvergleichs, Michel wissen ließ, daß die DDR und der DDRerer von vornherein ideologisch, ökonomisch, alltagskulturell und vor allem sowieso und überhaupt nur in die Hosen geschissen hätten und daß es so kein Wunder sei, daß es nun so gekommen sei, wie man’s hier und überall zu sehen bekäme: Wir Westler müssen jetzt euren Dreck wegräumen und dann schnell aufbauen, was ihr alles verpennt habt, weil ihr nicht auf uns gehört habt. Michel zog in aller Freundlichkeit sämtliche Register guten Willens und sachlicher Darlegung, um dem Mahner zu zeigen, daß er, Michel, nie und nimmer ein Begeisterter der Sache der SED war und daß er seinerzeit schon gewußt und vor allem sehr gehofft habe, daß der komplette Schrott baldigst in sich zusammenrutsche und Ruhe gebe …

Es half nichts, er mußte sich die volle Ladung »Wir gut – ihr doof – ist aber nicht persönlich gemeint« vorlöffeln lassen und blieb dabei bis zur bitteren Neige nachsichtig, zeigte sich sachte bemüht um unaufdringliche Richtigstellung und steckte die Wirkungslosigkeit dieses Mühens mit einer Langmut weg, die jeden Buddhisten vor Neid kuttengelb hätte anlaufen lassen. Zumal Michel sowieso merkte, daß sein Gegenüber eh nur bluffte, sich nämlich eigentlich noch nie ernstlich mit seinem Würgerthema beschäftigt hatte.

Als es irgendwann gut war und sich nach dem Mittagessen die Gäste in alle Welt verkrümelt hatten, segnete Michel das just Erfahrene ganz auf seine Art ab: »Das hat er doch gar nicht fies gemeint – oder persönlich; und das deutsch-deutsche Backe-Kuchen, ach komm, da wird sowieso noch allerhand Rauch aufsteigen!«


Michael Rudolf, Gerhard Henschel, Kaiserslautern, 1992.



Heiko Arntz, Eugen Egner, Dieter Steinmann, Achim Frenz, Kriki, Frankfurter Buchmesse, 1994.

WANN I AMAL STIRB … – Es war auf der Frankfurter Buchmesse des Jahres 1991 oder ’92. Beim Herumlaufen war mir eine Koje aufgefallen, in der zwei sehr sympathische Personen saßen, umgeben von ausschließlich allerschönsten, feinen Büchern. Die beiden firmierten hier gemeinsam als die beiden Verlage Edition Plasma und Edition Sirene (von Kennern »Spedition Irene« genannt), niedergelassen in Fürstenwalde an der Spree, und hatten lauter Wunderwerke zu bieten: Bücher von Joris-Karl Huysmans und Albert Girauds Pierrot Lunaire, rare Texte des frühen Surrealismus, Johannes Ilmari Auerbachs Der Selbstmörder-Wettbewerb, Julien Gracqs Auf Schloß Argol, Pétrus Borels Passerau der Student, von Louis Flamel unter anderem Die Gotik der Schändung – Die Romantik der Schleier und allerhand aus der französischen Dichtergruppe Oulipo: Georges Perec, Eugen Helmlé, Harry Mathews.

Nachdem etliche Freunde und Kollegen mich im Maß meiner Freude an diesen Schätzen bestätigt hatten, schleppte ich auch Michael Rudolf aus seiner Weissen-Stein-Bude weg, hin zu dieser kleinen Wunderkammer. Alles dort, ausnahmslos, gefiel ihm sehr wohl. Die ausgefinkelt durchdachten Ausstattungen, von Buch zu Buch so gut wie immer höchst plausibel unterschiedlich inszeniert, die große Feinheit der nicht selten eigentlich einfachen, aber findig ausgesuchten Papiere, die perfekten Formate und meisterlichen Satzmuster bei souveränstem Verzicht auf Mätzchen beeindruckten ihn tief.

Als wir uns später zu einem Imbiß irgendwohin setzten und die paar Bücher auf dem Tisch ausbreiteten, die wir gerade gekauft hatten, blieb Michel an einem kleineren Büchlein länger hängen: Der Obstgarten – Erinnerungen an Georges Perec von Harry Mathews aus dem Jahr 1982, dem Todesjahr des großen französischen Dichters, nun übersetzt von Uli Becker, herausgegeben von Jürgen Ritte.

Auf einunddreißig Seiten stehen etliche Dutzend kurze und teils kürzeste Texte, mit denen Harry Mathews von seinem Freund, Kollegen und Oulipo-Bundesbruder Perec erzählt. Jedes dieser knapp und kühl gehaltenen Geschichtchen beginnt mit den Worten »Ich erinnere mich …«

Michel beschäftigte sich mit diesem Buch eingehender als mit den übrigen fünf, sechs Wunderdingen, die wir eben geschnappt hatten. Er las eine Reihe der Szenen, kommentierte sie, sichtlich erfreut an ihrem feinen Ton, und sagte etwa: »Wenn ich dann mal nimmer bin, macht ihr mir auch so was.« Wir witzelten noch ein wenig herum, wie der Titel eines solchen Denkmals lauten könnte, und kamen schlußendlich bald auf »Wann i amal stirb …«, nach dem Titel einer figürlich-plastischen Installation des zwischenzeitlich verschollenen Wandermalers Laertes Eisenbeiß aus dem Jahr 1974, einem Kunstwerk, das dem alten Themengespann Eros–Thanatos in ragender Klassizität so ewigkeitliche wie auch neue Glanzlicher aufträgt. Dann zerrten wieder die Buchmessepflichten in Form drängelnden schlechten Gewissens an Michel, der gleich auch flugs zu seinem Stand wetzte, um dort seinen Stellvertreter aus der Stallwächterpflicht zu entlassen.

Der Mann mit den 999 Gesichtern

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