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3.1. Ernst Lange: Evangelische Erwachsenenbildung als Sprachschule für die Freiheit 46
ОглавлениеDie grundlegenden Veränderungen in Gesellschaft, Politik und Wissenschaft der späten 1960er und frühen 1970er Jahre unter den Leitbegriffen von Emanzipation und Mündigkeit, die einher gingen mit einem quantitativen und qualitativen Ausbau der Erwachsenenbildung, fanden auch ihren Niederschlag in Reformbestrebungen innerhalb der Evangelischen Kirche. Zu den profiliertesten Vertretern dieser kirchlichen Erneuerungsbewegung zählte zweifelsohne der ökumenische |30| Theologe Ernst Lange47, dessen Programm einer Sprachschule für die Freiheit die Theoriediskussion der Evangelischen Erwachsenenbildung aus emanzipatorischer Perspektive in dieser Phase bestimmte. Grundlegend für Langes Verständnis von Erwachsenenbildung ist sein Anspruch, Erwachsenenbildung nicht theologisch-deduktiv oder kirchlich-strukturell zu instrumentalisieren, sondern auf die wirkliche und unverfälschte Situation des Menschen einzugehen. Der Erwachsenenbildung mass Lange die Aufgabe zu, die Situation der Menschen, die er unterdrückt sah durch subtile, gesellschaftliche Zwänge im Westen oder durch massive wirtschaftliche und politische Zwänge in der Dritten Welt, zu erhellen im Lichte der biblischen Verheissungen.48 In diesen Argumentationsfiguren zeigen sich die beiden Pole von Langes Ansatz. Ausgehend von der Analyse der politischen, sozialen und psychischen Wirklichkeit der jeweiligen Gesellschaft hat die Evangelische Erwachsenenbildung die Aufgabe, bestehende Unterdrückungen aufzudecken und Lernprozesse zu initiieren, in denen als Zielhorizont die Verheissungen des Alten und Neuen Testamentes erscheinen.
Die gesellschaftliche Wirklichkeit sieht Ernst Lange charakterisiert durch die Begriffe Freizeitgesellschaft und Bildungs- oder Lerngesellschaft. Freizeitgesellschaft trägt der Tatsache Rechnung, dass in den fünfziger und sechziger Jahren die arbeitsfreie Lebenszeit durch Arbeitszeitverkürzungen, verlängerten Jahresurlaub und frühere Verrentung erheblich gestiegen war. Zudem hatten sich die Erwartungen an die arbeitsfreie Zeit grundlegend verändert. «Sie soll die Verheissungen des eigentlichen Lebens, des eigenen freien, erfüllten, humanen Lebens enthalten – im Gegensatz zur Arbeit, zum entfremdeten Leben.»49 Nicht mehr der Beruf, sondern die Freizeit wird der Ort persönlicher Identitätsfindung. In der Freizeit soll man entschädigt werden für die durch Arbeit verlorene, entfremdete und sinnleere Lebenszeit. «Die Freizeit wird zur vita activa, nicht zur vita contemplativa.»50 Allerdings können zwei Drittel der Menschheit51 an den zweifellos vorhandenen Segnungen der Freizeit nicht teilhaben, und auch das verbleibende Drittel zeigt sich häufig als unfähig, mit der gewonnenen freien Zeit sinnvoll umzugehen, denn es verharrt in einer rezeptiven, konsumierenden Fremdbestimmung. «Der Freizeitmensch ist ein Mensch auf dem Rückzug, auf der Flucht.»52 |31| Er flieht aus dem öffentlichen Leben in das private, d. h. entpolitisierte Umfeld, und sucht Liebe und Glück in Familie, Freundeskreis, Vereinen. Aus der Überforderung dieser unmittelbaren Beziehungen entstehen Enttäuschungen, die kompensiert werden durch Ablenkungen und Zerstreuung, allen voran durch Fernsehkonsum. Die ursprüngliche Intention einer selbstbestimmten, wirklich freien und privaten Zeit wird in ihr Gegenteil verkehrt: das Erleben wird determiniert durch die öffentlich angebotenen Programme des Zeitvertreibs.
Ernst Lange wendet sich nicht moralisierend gegen grundlegende Bedürfnisse des Menschen in seiner Freizeit, aber er sieht ihre Ambivalenzen. Freizeit kann zu Rückzug in die Privatsphäre und Fremdbestimmung führen, aber Freizeit eröffnet auch Chancen zur Freiheit und diese gelte es zu nutzen. Denn Glück, Autonomie und Kreativität – die Bedürfnisse des Freizeitmenschen – bilden einen pädagogischen Zielhorizont, der mit den biblischen Verheissungen des Sabbats und des Kreuzes korrespondiert. «Sabbat und Kreuz heissen: der Mensch wird entlastet, er ist entlastet von Anfang an. Der Sabbat ist im Schöpfungsbericht der erste Lebenstag des Menschen. Der Ostertag ist der erste Tag jenes Befreiungs- und Erneuerungsprozesses, den das Neue Testament Gottesherrschaft nennt.»53 «Denn das Kreuz ist Gottes Einsatz für das Glück des Menschen. Und die Liebe, die am Glück des anderen interessiert ist, macht glücklich.»54 Der Sabbat und das Kreuz, das auf die Freude der Auferstehung verweist, werden zu Verheissungen eines gelingenden Lebens.
Aus der Dialektik zwischen Langes Analyse der bestehenden Gesellschaft und den skizzierten Verheissungen ergeben sich zahlreiche Lernimpulse, die gerade für eine Evangelische Erwachsenenbildung von besonderer Bedeutung sind. «Es ist der Beruf der Kirche, Menschen zu einem volleren Menschsein zu helfen, zu einem Leben im Licht ihrer Bestimmung zur ‹Freiheit der Kinder Gottes› und zwar durch die Bezeugung der Christusverheissung in Wort, Tat und Kirchengestalt.»55 Ernst Lange wendet sich dezidiert dagegen, aus den Lernimpulsen der Verheissung vorschnell eine pädagogische Konzeption abzuleiten. Wohl aber betont er, die Dynamik, die den Verheissungen innewohnt. «Von ihrem Ursprung her ist die biblische Verheissungstradition der ständig sich erneuernde ‹Ruf nach vorwärts›, heraus aus den dogmatisierten, ritualisierten und institutionalisierten Erfahrungen von gestern in die Erfahrungen, Leiden und Herausforderungen von heute und morgen.»56
Es ist die zentrale Aufgabe der Evangelischen Erwachsenenbildung, den Lernimpulsen der Verheissung zur ‹Freiheit der Kinder Gottes› zum Durchbruch zu |32| verhelfen. Doch es gibt auch gegenläufige Tendenzen und Strömungen, die zu einer stagnierenden Lernfähigkeit Erwachsener führen. Bestehende gesellschaftliche Konflikte werden durch offene oder subtile Gewaltverhältnisse unterdrückt und hindern dadurch Menschen – gegen ihre eigenen Interessen – dem Impuls einer verheissenen Freiheit zu folgen. «Einschüchterung und Angst und ihre seelischen und sozialen Folgen machen lernunfähig. Wo Menschen im Konflikt lernunfähig geworden sind, gelingt die Wiederherstellung ihrer intellektuellen, affektiven und sozialen Kräfte, ihrer Chancen menschlichen Wachstums nur so, dass der unterdrückte Konflikt und seine Folgen thematisiert und zum eigentlichen Lernfeld gemacht werden. Eingeschüchterte Menschen lernen nur im Konflikt und am Konflikt.»57 Mit diesen Worten beschreibt Ernst Lange die Grundzüge seines Programms einer konfliktorientierten Erwachsenenbildung, einer Partei ergreifenden Erwachsenenbildung für die lernunfähig gewordenen bzw. gemachten Menschen.58 Evangelische Erwachsenenbildung habe in diesem Kontext die besondere Aufgabe, `Sprachschule für die Freiheit´ zu sein.
Ernst Lange hat keine eigenständige Theorie oder gar eine geschlossene Konzeption kirchlicher bzw. Evangelischer Erwachsenenbildung entfaltet. Seine wenigen Veröffentlichungen zur Erwachsenenbildung zwischen 1969 und 1974 waren als Vorträge für einen bestimmten Adressatenkreis konzipiert. Dennoch wurde sein Ansatz zum wichtigen Impuls für künftige Theoriemodelle und auch für die Praxis der Evangelischen Erwachsenenbildung.59 Sein Verdienst sehe ich – ohne Anspruch auf Vollständigkeit – im Wahr- und Ernstnehmen der psychosozialen Wirklichkeit der Adressaten, in seinem grundlegenden Modell der Verbindung von Tradition mit Situation. Dabei betont er die Freizeit als den spezifischen Ort der religiösen Erwachsenenbildung, der er eine eigene Dignität zuspricht. Er entwickelt in den biblischen Verheissungen einen Zielhorizont, der nicht vorschnell in Lernziele überführt wird. In Zeiten permanenter Transformationen muss sein ‹Ruf nach vorwärts› allerdings durch ein reflexives Programm des Innehaltens und Entschleunigens ergänzt werden. |33|