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3.3. Rudolf Englert: Religiöse Erwachsenenbildung als perspektivenverschränkende Bildung70

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Das Christentum, vor allem aber die katholische Kirche, befindet sich durch massive gesellschaftliche und christentumsgeschichtliche Veränderungen in einer Zwischen-Zeit, in einer Jahrzehnte andauernden Zeit des Übergangs von einer volkskirchlich geprägten Sozialform des Christentums zu einer neuen, noch wenig konturierten Form kirchlich gebundenen Christseins. Mit dieser Formel charakterisiert Rudolf Englert in seiner breit angelegten Habilitationsschrift71 die religiöse Gegenwartssituation. Auch wenn Englert bereits am Beginn seines Eingangskapitels zu Recht betont, dass eine zeitgemässe Bildungstheorie eine Zeitdiagnose voraussetzt72, bezieht er sich in der Folge explizit und ausschliesslich auf die religiöse Gegenwartssituation, die er aus einer überwiegend katholisch akzentuierten Perspektive betrachtet. Denn es geht Englert um religiöse Erwachsenenbildung, die er als jenen Teilbereich kirchlicher Erwachsenenbildung definiert, «in dem es um die Bearbeitung grundlegender Lebens- und Sinnfragen im Horizont religiöser Traditionen geht».73 Erwachsenenbildung als Teil des staatlichen Weiterbildungssystems tritt ebenso zurück wie eine Analyse der gegenwärtigen Gesellschaftsstruktur. Ungeachtet dieser Einschränkungen beeindruckt Englerts Ansatz einer höchst differenzierten erwachsenendidaktischen Reflexion der Herausforderungen einer religiösen Erwachsenenbildung durch die Moderne, die sowohl in theoretischer Hinsicht durch die entfalteten Konvergenzen zwischen theologischen und pädagogischen Topoi als auch durch ihre bildungspraktischen Implikationen zu überzeugen weiss.

Die religiöse Gegenwartssituation stellt sich nach Englert höchst ambivalent dar. Einerseits lässt sich ein Bedeutungsverlust von Kirche und Religion an vielen Parametern aufzeigen – es kann von einer Tradierungskrise des christlichen Glaubens, einer fortschreitenden Entwicklung eines religiösen Indifferentismus gesprochen werden –, andererseits lassen sich auch eine erstaunliche Stabilität volkskirchlicher Verbundenheit, eine Renaissance von Religion(en), fundamentalistische Tendenzen und charismatische Aufbrüche inner- wie ausserhalb der Kirchen feststellen. Es bildet sich eine Pluralität von Deutungssystemen heraus, deren Wahrheitsanspruch mit dem des christlichen Glaubens konkurriert. Dieser religiöse Pluralismus führt zu einer fortschreitenden Privatisierung religiöser Auffassungen, während die einstmals geschlossenen konfessionellen Milieus immer mehr verschwinden. Englert resümiert: «Es gibt somit eine Tendenz zu immer ‹mehr› |36| (möglicher) Religion mit immer ‹weniger› (tatsächlicher) Relevanz.»74 Aus diesem christentumsgeschichtlichen Befund, der mit der gesellschaftsgeschichtlichen Zeitdiagnose Postmoderne korrespondiert, ergibt sich künftig eine deutlich grössere Bedeutung, eine kairologische Dringlichkeit, für religiöse Erwachsenenbildung als in Zeiten einer relativ stabilen Volkskirche. In dieser Phase der Transformation des religiösen Bewusstseins «leistet religiöse Bildung nicht nur einen Beitrag zur individuellen Orientierung, sondern hilft auch zukünftige Realisierungsformen von Christ-Sein und Christ-Werden zu modellieren».75

Auf der skizzierten Analyse der religiösen Gegenwartssituation gründet Englerts Konzeption von religiöser Erwachsenenbildung. Für eine von Pluralismus und Individualismus geprägte Zwischen-Zeit kann religiöse Erwachsenenbildung nicht auf eine einzige Zielsetzung beschränkt werden, sondern ein differenzielles Konzept, eine «polyperspektivische Bildungsstrategie»,76 ist gefordert. «Den Kern einer solchen Theorie stellt das Konzept einer perspektivenverschränkenden Bildung dar, das – Bildung als Transformationsprozess begreifend – bei den lebensweltlichen Deutungs- und Orientierungsmustern der Lernenden ansetzt, um diese unter Bezugnahme auf das […] Sinnangebot des Glaubens differenzieren und transzendieren zu helfen.»77 Doch zuvor muss religiöse Bildungsarbeit einen Bezug zum Alltagsleben der Teilnehmenden und den sie bestimmenden Sinnorientierungen finden. Neben dem bekannten religionsdidaktischen Korrelationsprinzip bezieht sich Englert hier vor allem auf den Begriff des Deutungsmusters. Im Anschluss an Rolf Arnold definiert er Deutungsmuster als «durch signifikante Bezugsgruppen vermittelte, gedanklich meist eher einfach strukturierte, relativ dauerhafte Sichtweisen, die es dem einzelnen ermöglichen, eine Vielzahl von Orientierungsproblemen unaufwendig, ‹plausibel› und im Einklang mit seiner lebensgeschichtlich ausgebildeten Identität zu ‹bewältigen›.»78 Der Deutungsmusteransatz konvergiert mit dem Korrelationskonzept, denn in beiden Fällen geht es darum, Lerninhalte auf die individuelle Lebensgeschichte zu beziehen bzw. beim Deutungsmusteransatz Lerngegenstände aus der Lebensgeschichte zu ermitteln. Es gilt, die (jüdisch-christliche) Tradition und individuelle (Lebens-)Situation in der Weise aufeinander zu beziehen, dass sich beide Perspektiven wechselseitig kritisch erschliessen.79 Die individuellen Sinnkonstruktionen und Orientierungsmuster der Teilnehmenden sollen dabei wahr- und aufgenommen werden, um durch die Begegnung mit und durch Impulse aus der jüdisch-christlichen Tradition weitergeführt zu werden. |37| Lernen bedeutet dann das Verändern bisheriger bzw. das Entwickeln neuer Deutungsmuster anstelle altvertrauter Sichtweisen.

Diese eher formale Begriffsklärung muss durch eine materiale Differenzierung ergänzt werden, bei der die Erwartungen an den Sinn von religiöser Bildung sichtbar werden. Englerts zentrale These lautet, dass die «Bedeutung, die jemand religiöser Bildung heute zutraut, wesentlich damit zusammenhängt, wie er sein eigenes bzw. wie er des Christentums Verhältnis zur Moderne beurteilt».80 In der unterschiedlichen Einschätzung des Verhältnisses von Christentum und Moderne, deren Kern im Programm der Aufklärung gesehen wird, liegt demnach das wesentliche materiale «Unterscheidungskriterium heute vorfindlicher Erwartungen an religiöse Bildung bzw. der ihnen zugrundeliegenden Deutungsmuster».81 Es werden drei Idealtypen unterschieden:

1 die antimodernistische Tiefenstruktur der den Vorstellungen von religiöser Bildung zugrunde liegenden Deutungsmuster (abgekürzt: antimodernistisches Deutungsmuster)

2 die moderne Tiefenstruktur der den Vorstellungen von religiöser Bildung zugrunde liegenden Deutungsmuster (abgekürzt: modernes Deutungsmuster)

3 die transmoderne Tiefenstruktur der den Vorstellungen von religiöser Bildung zugrunde liegenden Deutungsmuster (abgekürzt: transmodernes Deutungsmuster)

Diese verschiedenen Deutungsmuster werden als gleichrangig und gleichberechtigt angesehen. Mit dieser methodischen Vorgehensweise will Englert exemplarisch zeigen, worin die Aufgabe einer religiösen Bildung in der Zwischen-Zeit besteht: in der Einübung einer angemessenen Umgangsweise mit der «Ungleichzeitigkeit von Glaubensstilen und Bewusstseinsformen, die auf Diskriminierung verzichtet, ohne unkritisch zu sein, die Pluriformität begünstigt, ohne in die Beliebigkeit abzudriften».82

Es gilt daher, ein Gesamtkonzept religiöser Erwachsenenbildung zu entwickeln, das offen ist für das ganze Spektrum christlich-religiöser Milieus und Zielgruppen (Prinzip der Gleichrangigkeit) und zugleich über ein klares theologisches, pädagogisches und gesellschaftspolitisches Profil (Prinzip der Unterscheidung) verfügt. Damit ist zugleich der Anspruch beschrieben für das Konzept einer polyperspektivischen Bildungsstrategie. Diese basiert auf der These einer «inneren Entwicklungsfähigkeit aller vorfindlicher Glaubensgestalten – und zwar selbst der anscheinend nur beschränkt zukunftsfähigen».83 Das heisst: Es geht nicht darum, |38| einen Konsens zu entwickeln, denn dazu sind die Deutungsmuster und die mit ihnen korrelierenden Konzepte zu verschieden, oder unter Preisgabe des Prinzips der Gleichrangigkeit einem Modell eine höhere Wertigkeit zuzubilligen, sondern «religiöse Bildungsprozesse sollten die Teilnehmer für eine Transzendierung des eigenen Standpunktes und für Impulse in Richtung perspektivischer Verschränkung öffnen können».84 Die jeweils eigene Perspektive, die letztlich in den Deutungsmustern gründet, benötigt immer wieder «differenzierende und transzendierende Bildungsimpulse»85, um nicht durch Fixierungen das eigene Lernen und Leben zu behindern. Diese öffnende Weiterentwicklung geschieht auf der konzeptionellen Ebene durch das Entwickeln des in jeder Perspektive enthaltenen positiven Gestaltsinns. Dadurch sollen die jeweiligen religiösen Deutungsmuster ihre Enge verlieren und zu einer die jeweilige Perspektivik transzendierende Offenheit weiterentwickelt werden.

Der positive Gestaltsinn des antimodernistischen Deutungsmusters liegt in der betonten Kirchlichkeit, der Communio-Struktur des Glaubens. Die Überzeugung, dass der Glaube bezogen ist auf tradierte Überlieferungen und eine grössere Glaubensgemeinschaft, eröffnet die Perspektive auf die Fülle und Weite des Glaubens in seiner ganzen Differenziertheit. «So würde der Gedanke der Einheit im Glauben für das kontrapunktische Motiv eines polyphonen Glaubens geöffnet.»86 Dabei muss man sich nicht vom bestehenden Welt- und Kirchenverständnis verabschieden. Wenn es in einem offenen Dialog mit anderen Sichtweisen dialogisch erweitert wird, kann der Gefahr der Verschlossenheit gegenüber Andersdenkenden begegnet werden.

Der positive Gestaltsinn des modernen Deutungsmusters liegt in der Subjekthaftigkeit des Glaubens. Dies bedeutet weit mehr als eine bloss milieu- oder sozialisationstheoretisch zu erklärende Einstellung oder ein Für-Wahr-Halten definierter Glaubenssätze: Der Mensch bringt seine lebensgeschichtlich geprägte Identität in die Glaubensauslegung hinein bzw. er sieht die Zeugnisse des Glaubens im Lichte seiner eigenen Lebenserfahrungen. Allerdings realisiert sich Christ-Sein nicht in der Vereinzelung des Subjektes, sondern in der herausfordernden Beziehung einer Gemeinschaft der Glaubenden. Hierin liegt der Weg für das moderne Deutungsmuster: von der Subjekthaftigkeit des Glaubens zur «symphonischen Katholizität»87.

Der positive Gestaltsinn des transmodernen Deutungsmusters liegt in der lebenswirksamen Praxisrelevanz des Glaubens. Dieser unterliegt zugleich der Gefahr einer Gesetzlichkeit, nach der Nachfolge nur für Christen mit einem spezifischen |39| Bewusstsein, die sich in sozialen Bewegungen engagieren, reserviert ist. Hier wäre zu zeigen, dass christliche Praxis im Sinne einer Option für die Armen sich nicht im konkreten Handeln erschöpfen darf, sondern darüber hinaus auch kommunikabel bleiben muss mit anderen Formen der Nachfolge. Gegen die Gefährdungen des Dünkels empfiehlt Englert den «Virus der Selbstkritik»88 zu infiltrieren.

Mit dem nur skizzierten Modell einer polyperspektivischen, religiösen Erwachsenenbildung entwickelt Englert eine auch aus evangelischer Sicht überzeugende religionspädagogische Antwort auf die Herausforderungen der Moderne. Die bestehende religiöse Gegenwartssituation wird kategorisiert und idealtypisch verkürzt. Sie bildet – kondensiert als Deutungsmuster – die Basis für eine überaus komplexe, eher kreisende als lineare, z. T. auch redundante Theoriereflexion, die empirisch existierende Divergenzen innerhalb des katholischen Spektrums zu einem integrativen, vor allem didaktisch interessanten Modell verbindet. Das nicht bewertende Wahr- und Ernstnehmen realiter bestehender Positionen zur Verhältnisbestimmung von Christentum und Moderne, die sowohl bei Teilnehmenden an Veranstaltungen als auch bei Verantwortlichen innerhalb der (katholischen wie evangelischen) Kirche anzutreffen sind, belegen dennoch eine hohe Praxisrelevanz des Ansatzes von Englerts. Sein Theoriemodell bietet eine Fülle von Anregungen für die konkrete Makro- und Mikrodidaktik von kirchlichen Bildungsträgern.89 Die Differenziertheit und Tiefe der Reflexion lassen das Werk Englerts zu einem vorläufigen Höhepunkt der Theoriediskussion werden, angesichts dessen bestehende Vorwürfe eines generellen Theoriedefizits der kirchlichen Erwachsenenbildung zumindest relativiert werden sollten. Es ist zu wünschen, dass die Impulse Englerts auch von Bildungspraktikern wahr- und aufgenommen werden.

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