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IV. Thematischer Zugang: Ökumene

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Thematisch von hervorragendem Interesse ist sicher der gesamte Be­reich der Ökumene. Zum Zweiten Vatikanischen Konzil sprudeln die Quel­len |32| reichlich.89 Reizvoll und noch weitgehend ungeklärt ist die Rolle, die Cull­­mann als Beobachter des Konzils auf Einladung des Sekretariats für die Ein­heit der Christen ausfüllte.90 Welche Beziehungen hatte Cullmann zu den anderen Beobachtern, den Experten, den Konzilsvätern und zu den übrigen Teilnehmern des Konzils? Auf welche Weise und mit welchen Impulsen nahm er Einfluss? Wie gestaltete er seine Berichte und wie orchestrierte er seine öffentlichen Auftritte? Gibt es während der vier Sessionen Verschie­bungen der Akzente? Und in diesem Zusammenhang sind sicherlich auch die Kontakte zu den zwei Konzilspäpsten zu situieren.

Zugleich dürften die verschiedenen Aspekte von Cullmanns ökume­nischer Kon­zeption sowie deren Tragfähigkeiten weiterhin ein wichtiges Thema bleiben.91 Cull­mann hatte sich bekanntlich vor allem auf die soge­nannte grosse Ökumene kon­zentriert. In der erwähnten Reaktion auf die Publikation Einheit durch Vielfalt hatte Lukas Vischer darauf hingewiesen, dass die Spaltungen im Protestantismus weniger «Charismen» als vielmehr ein Missbrauch der «Vielfalt» seien. Der Protestantismus müsse daher diese Entstellungen bekämpfen. Cullmann stimmte mit Vischer überein, wollte die Anregungen ausdrücklich aufnehmen und berücksichtigte Vischers Ein­wurf in der zweiten Auflage von 1990. Überall dort, wo die Absonderungen nicht zur bereichernden Vielfalt beitrügen, sei der Zusammenschluss innerhalb des Protestan­tismus geboten.92 Aber was heisst das im Einzelnen? Wie beurteilte Cullmann die Leuenberger Konkordie von 1973? Hat er sich überhaupt zur Gemeinschaft evangeli­scher Kirchen Europas (GEKE) geäussert?

Im Folgenden verweise ich auf drei konkrete ökumenische Initiativen Cullmanns, die eine vertiefte Untersuchung verdienten. Mit Blick auf die Kollekte, die Paulus in den Gemeinden für Jerusalem sammelte (1Kor 16,1–4; Gal 2,10), schlug Cullmann in einem Vortrag, den er anlässlich der ökume­nischen Weltgebetswoche für die Einheit der Christen am 21. Januar 1957 in Zürich hielt, eine gegenseitige Kollekte der Protestanten und der Katholiken |33| vor.93 Diese praktische Solidarität sollte ein Zeichen der Einheit der getrennten christlichen Kirchen in Christus sein.94 In der Korrespondenz finden sich zahlreiche Reaktionen auf diese Initiative. 1958 veröf­fentlichte Cullmann eine Broschüre unter dem Titel Katholiken und Protestanten. Ein Vorschlag zur Verwirklichung christlicher Solidarität, in dem er seinen Vorschlag ausführte.95 Die Publikation erschien im gleichen Jahr auch in französischer Spra­che.96 Wie er es gewohnt war, liess er die Publikation vielen Persönlich­keiten zukom­men.97 Viele der Adressaten haben mit Briefen oder Buch­bespre­chungen geantwor­tet.98 Die Resonanz war enorm. Das von Karl­fried Froehlich detailliert verzeichnete Material aus den Jahren 1957 bis 1963 um­fasst mehrere hundert Korrespondenzstü­cke. An dieser Initiative lässt sich exemplarisch zeigen, wie Cullmann vorging, eine Idee vorbereitete, das Pro­jekt vernetzt kommunizierte und schliesslich auf unter­schiedlichen Wegen verfocht. Auch das dialogische Motiv wird sichtbar. Cullmann suchte das Ge­spräch und nahm Zustimmung und Ablehnung auf. Sorgfältig führte er darüber Buch, wo seine Initiative aufgenommen und umgesetzt wurde.99

Auf einem Empfang der Konzilsbeobachter während der zweiten Session regte Papst Paul VI. die Errichtung eines Forschungsinstituts an, das der gemeinsamen Erforschung der Heilsgeschichte durch alle Konfessionen gewidmet sein sollte.100 Sowohl im akademischen Rat mit ungefähr dreissig Persönlichkeiten aus der Ökumene als auch im kleineren Exekutivausschuss engagierte sich Cullmann beherzt für dieses Anliegen. In den Jahren 1967 bis 1972 wurde der Bau des Instituts für Höhere The­ologische Studien in Tantur bei Jerusalem erstellt. 1972 bis 1973 verbrachte Cull­mann nach seiner Eme­ritierung |34| das erste offizielle Studienjahr in Tantur. Der Haupt­zweck der Stiftung war eine ökumenische Arbeitsgemeinschaft von Theologen aller Bekenntnisse im Ursprungsland der Christenheit. Wissenschaftliches Lehren und Lernen, gemeinsames Leben und Feiern von Gottesdiensten gehörten zu den Grund­ideen des Projekts. Thematisch sollten die Studien der biblischen Heilsgeschichte gewidmet sein.101 In der Korrespondenz finden sich immer wieder Spuren des Engage­ments für das Projekt in Tantur. In einem Brief­fragment an Papst Paul VI. wird schon 1966 ein möglicher erster Rektor in Tantur erwogen.102 Oder Cullmann charakteri­sierte gegenüber einem Peritus das Projekt in Tantur als eine der schönsten ökumeni­schen Realitäten nach dem Konzil.103 In einem Briefentwurf dankte er Papst Paul VI. für Bücher, die aus der Vatikanischen Bibliothek an die Bibliothek in Tantur gin­gen.104 Bei Jean Kardinal Villot fragte er 1971 wegen einer Audienz beim Papst an, um unter anderem über das Institut in Tantur zu berichten.105 An die Oberin der Schwestern in Tantur schrieb er, um sich vorsichtig für eine Schwester einzusetzen, die offenbar versetzt werden sollte.106 Selbst als er sich bei Papst Johannes Paul II. vorstellte, erwähnte er in einem Briefentwurf neben seiner Freundschaft mit Papst Paul VI. das ökumenische Projekt in Tantur.107 Cullmann hat Tantur in den 1970er Jahren mehrfach besucht und dort auch unterrichtet. Allerdings war dem Projekt nicht der erhoffte Weg vergönnt. Den Rückzug der Orthodoxen von der aktiven Mitarbeit am Institut be­dauerte er ausserordentlich.108 Welche Visionen verfolgte Cullmann mit dem Projekt? Und wie beurteilte er den weiteren Fortgang des Tantur Ecumenical Institute for Theological Studies? Wie sah das Projekt strukturell und inhaltlich aus?109 Eine präzise Darstellung der Entstehung und Entwicklung der Institu­tion |35| fehlt. Auch Cullmanns Äusserungen über das Projekt sowie sein Enga­ge­ment in Tantur sind nicht untersucht.

Als drittes ökumenisches Projekt sei hier lediglich erwähnt das Konzept für Chamonix post mortem. Cullmann hatte sich vorgestellt, dass die Villa Alsatia in Chamonix eine Stätte des wissenschaftlichen Austausches, der ökumenischen Stu­dien und des gemeinsamen Lebens werden könnte.110

Überblickt man die zwei letzten Projekte, fällt der Leitgedanke einer ökumeni­schen Lebens- und Arbeitsgemeinschaft auf. Für dieses Motiv dürf­ten die Erfahrun­gen im Thomasstift und im Theologischen Alumneum prä­gend gewesen sein.

Zehn Jahre nach Oscar Cullmanns Tod: Rückblick und Ausblick

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